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Klassiker- fass das nicht an, das hat überall rumgelegen

Begonnen von LinaFranken, 21. Januar 2024, 22:19:28

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LinaFranken

Ich konnte ein vergleichbares Thema nicht finden, halte es aber für eine unglaublich interessante Erörterung. Wir haben uns alle als Kinder doch diesen Spruch anhören müssen:
"Fass das nicht an, wer weiß, wo das rumgelegen hat!"
Im gewissen Sinne verhält es sich so mit Klassikern.
Da sie inzwischen Urheberrechsfrei sind, werden sie von Verlagen gerne immer wieder veröffentlicht, oft in hübschen Schmuckausgaben, die dann dekorativ (und oft ungelesen) im Regal herumstehen. Sie sind auch meist nicht mehr zeitgemäß, stortzen über vor Rassismus, Sexismus und Klassensystemen. Fachlich würden sie heute auch an keiner Azubine in der Verlags-Poststelle vorbeikommen. Da springen die Perspektiven wie Flöhe, die Dialoge sind so lang, dass man nicht weiß, wer da spricht und großteil der Fremdwörter wurde wegen Altersschwäche zu Grabe getragen.
Warum sie also noch lesen, oder gar erneut benutzen?
Und ist ein Klassiker nicht das literarische Äquivalent einer Hafendirne, die schon durch jede Menge Hände ging und meist unrümlich benutzt wurde? Ich habe einen gewissen alten Klassiker ins Auge gefasst und machte einige interessante Beobachtungen. Zuerst mag zwar jeder den einen oder anderen Titel kennen, aber fühlt man den Menschen auf den Zahn, haben sie gar nicht so viele Leute tatsächlich gelesen. So manch ein KLassiker, den unsere Großeltern noch gelesen haben, ist heutzutage nicht mal dem Namen nach bekannt. Viele Verarbeitungen alter Klassiker verbleiben auch oft im gleichen Setting, gleicher Zeit, gleichen Geschlechterrollen. Ist das nicht eine großartige Chance, verschüttetes auszugraben und in neue, zeitgemäße, tolerante Kleider zu hüllen, oder findet ihr, man soll die Hafendirne lieber nicht anfassen, weil die schon durch zu viele Hände ging? Findet ihr, man sollte fremde Sachen nicht auftragen?
Ich bin von meiner Klassikeridee so besessen, dass ich sie definitiv durchziehen werde, aber ich bin dennoch sehr neugierig, wie ihr das mit dem verwursten alter Geschichten betrachtet.

Alana

#1
Ehrlich gesagt gefällt mir der Vergleich mit der Hafendirne, die schon durch viele Hände gegangen ist und daher nicht angefasst werden soll, nicht besonders. Ich empfinde den auf sehr vielen Ebenen als problematisch.

Und was die Klassiker angeht: Ich lese immer wieder welche mit durchaus viel Begeisterung und verstehe den Reiz, die Stoffe in die Moderne zu transportieren und habe das schon mehrfach selbst gemacht.

Allerdings finde ich besonders spannend, erstmal rauszulesen, was sie uns sagen können. Sie sind auf sehr vielen Ebenen eine Dokumentation ihrer Zeit und als solche darf man sie auch trotz problematischer Inhalte selbstverständlich weiter lesen, analysieren und interessant finden. Dann einfach hinzugehen und sie zu modernisieren, damit sie nicht mehr problematisch sind, empfinde ich persönlich als falschen Ansatz. (Abgesehen von Vokabeländerungen für Neuauflagen bei Kinderbüchern o.ä.) Es sind künstlerische Arbeiten und als solche und als Ausdruck echter Personen, die Mal gelebt haben, verdienen sie in meinen Augen zunächst Interesse für das Original. (Disclaimer: Ich empfinde es als falschen Ansatz für mich, keine Wertung, wenn jemand anders das möchte, es spricht ja nichts dagegen.)

Was aber nicht bedeutet, dass ich dagegen bin, Stoffe neu zu erzählen, zu adaptieren, zu verfremden oder einfach nur eine Idee aufzugreifen und ganz neu zu verarbeiten. Ich finde, da sollte es auch keine Regeln und keine Grenzen geben. Literatur / Kunst muss alles dürfen, finde ich. (Beispiel: Pride and Prejudice and Zombies ist meiner Meinung nach eine der besten Adaptionen des Stoffs überhaupt.) Und einen Klassiker mit einem queeren Paar neu zu erzählen, finde ich zum Beispiel super spannend und hab ich auch selbst gemacht. Jede neue Bearbeitung gehört ja auch zur Diskussion des Originals und ist eine Variation des Themas. Und das ist eigentlich das Herz von Kunst, der Dialog, auf welche Art auch immer er stattfindet.

Aber Klassiker sind Klassiker, weil sie etwas in Menschen bewegt haben. Sie sind, so wie sie sind, wertvoll. Selbst die ekelhaften, schlechten, aus denen man auch noch etwas für sich herausziehen kann und wenn es nur Zeitgeschichte, Stimmungsbild etc. ist.

Und die Annahme, dass Klassiker eh niemand liest, finde ich ehrlich gesagt etwas seltsam. Ich kenne sehr viele Leute, die Klassiker lesen. Gerade Leute in meinem Umfeld, die gar nicht lesen, greifen, wenn überhaupt, mal zu einem Klassiker. Die Beliebtheit von Klassikern lässt sich auch auf Goodreads sehr gut verfolgen.
Alhambrana

LinaFranken

#2
Ich fürchte, es ist nicht ganz rübergekommen, dass ich mit den Fragen teilweise die Rolle des advocatus diaboli einnehmen wollte. :darth:

Klassiker sind definitiv ein faszinierendes Spiegelbild ihrer Zeit. Ohnehin jede Literatur, die älter ist.
Aber besonders spannend finde ich die Frage, wie sich die Ereignisse der damaligen Zeit auf die heutige anwenden lassen.
Würde "Das Bildnis des Dorian Gray" noch funktionieren, wenn es sich nicht um ein Gemälde, sondern ein Selfie handeln würde? Würden Romeo und Julia noch Gift nehmen oder sich eine Schußwaffe besorgen? Würden sie überleben, weil der Rettungsdienst heutzutage schnell vor Ort wäre? Vergleichbare Fragen sehe ich hierbei wie eine Spielweise mit unendlichen Möglichkeiten. Gerade wenn es deutlich ist, dass es die Aufbereitung eines Klassikers ist, sieht man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Zeitepochen besonders schön.
Auf der anderen Seite hat man dann natürlich die Möglichkeit das vorhandene Setting und die Figuren um etwas Neues zu erweitern. (Zombies sind nicht mein Fall, aber eine originelle Idee ist es allemal.)

Was das Lesen der Klassiker angeht, muss doch teilweise widersprechen. Hierbei müsste man das jeweilige Umfeld miteinbeziehen. Es ist vielleicht schwer zu sagen, ob Menschen im allgemeinen noch Klassiker lassen, weil die Unterschiede in verschiedenen Umfeldern sehr gravierend sind. Erlebt habe ich da schon die skurillsten Reaktionen. In einem eher akademischen Umfeld erlebte ich mal eine regelrechte Empörung, dass ich ein Buch gerade erst gelesen habe und nicht schon sozusagen im Kindheitsalter. Bei einem anderen Umfeld von Arbeitern mit ähnlichem Migrationshintergrund wie bei mir, fand ich einen großen Stolz und große Begeisterung für die landeseigenen Klassiker. In einer anderen Branche wurde ich mit einem Buch in der Hand so betrachtet, wie Hannibal beim Verspeisen einer gebratenen Amygdala. Wiederrum in anderem Kreis wurde die Andeutung, einen Klassiker zu lesen nicht als Begeisterung für ein Buch verstanden, sondern als Versuch, sich zu profilieren gewertet. Bei der Fülle an verschiedenen Reaktionen muss ich leider sagen, dass die negativen oder gleichgültigen traurigerweise überwogen haben. Ich finde es selbst sehr bedauerlich, dass man jenseits von bestimmten Kreisen Büchern und besonders Klassikern mit einer Art Misstrauen begegnet. Wobei ich es schon wieder für eine interessante Frage halte, warum Klassiker mehr gemischte Gefühle auslösen, als ein Harry Potter- Band.  :hmmm:

Soly

Ich muss zugeben, dass ich aus dem Zusammenspiel von dem Originalpost und deiner Antwort, @LinaFranken jetzt doch nicht mehr so sicher bin, was genau deine Position zu Klassikern ist und was du dir für eine Diskussion von uns wünschst.

Generell sehe ich es sehr ähnlich wie @Alana - viele Klassiker sind eindeutig Kinder ihrer Zeit und entsprechend lassen sich darin Inhalte finden, die wir heute (berechtigt) als problematisch bezeichnen. Ich halte es aber auch für den falschen Weg, diese Inhalte in modernen Adaptionen einfach zu streichen, oder die ganze Geschichte als nicht mehr zeitgemäß abzustempeln. Besser ist es, wie Alana sagt, die Klassiker in dem Wissen zu lesen, was daran Zeitgeist und heute nicht mehr in Ordnung ist, und sie entsprechend zu diskutieren.
Zum Beispiel wäre eine Tragödie darüber, dass ein gottesfürchtiges Mädchen sich dazu verführen lässt, unehelichen Sex zu haben, deshalb von der Gesellschaft geächtet wird, ihr Bruder bei dem Versuch, die Familienehre wiederherzustellen und den Liebhaber zu ermorden, selbst stirbt, sie völlig zu Recht eingesperrt und zum Tode verurteilt wird, und nur durch Gottes Gnade doch in den Himmel kommt, in unserer Zeit und Gesellschaft ziemlich merkwürdig und problematisch. Als "Faust" geschrieben wurde, galten die gesellschaftlichen Konventionen aber eben auf genau diese Weise und haben den Rahmen gesteckt, in dem Goethe überhaupt diese Tragödie spinnen konnte.
Ich finde "Faust" trotzdem eine wahnsinnig spannende Geschichte über Wahrheit, Glauben, menschlichen Größenwahn und menschliches Versagen, die auch heute noch viel Relevantes zu sagen hat und gern gelesen und auch gern adaptiert werden darf. Eine Adaption sollte auch unbedingt darauf eingehen, dass das, was die Gretchentragödie zur Tragödie macht, hoch problematisch ist, dass da veraltete Rollenbilder und eine unverhohlene Misogynie erst die Tragödie herbeiführen, und dass es natürlich in Ordnung sein muss, nach eigener freier Entscheidung Sex mit den Menschen zu haben, mit denen man es möchte. Eine Adaption sollte das nicht einfach nur reproduzieren, weil es eben Zeitgeist ist.

Und wo wir eh einmal bei dem Thema sind, dass das eigene Sexleben niemals Grundsatz für eine Verurteilung sein sollte (solange alles konsensual mit konsensfähigen Personen abläuft, obviously):
Zitat von: LinaFranken am 21. Januar 2024, 22:19:28Und ist ein Klassiker nicht das literarische Äquivalent einer Hafendirne, die schon durch jede Menge Hände ging und meist unrümlich benutzt wurde?
Egal, ob das jetzt deine ureigenen Ansichten widerspiegelt oder ob du es in deiner Rolle als Advocatus Diaboli geschrieben hast - ich finde das als Vergleich auch eher schwierig. Da steckt implizit diese Ablehnung drin gegenüber Personen, die viele Sexualpartner:innen hatten und von denen man sich deshalb fernhalten sollte. Ich werf mal "Slutshaming" als Begriff in den Raum, weil es irgendwie schon naheliegt.
Versteh mich nicht falsch, ich will dir keinesfalls unterstellen, selbst auf diese Weise zu denken! Aber vielleicht gibt es ja auch noch andere Allegorien für viel adaptierte Klassiker, die ohne die sexuelle Komponente auskommen, und die nicht solche Assoziationen wecken. :)


Zitat von: Alana am 21. Januar 2024, 23:50:49Was aber nicht bedeutet, dass ich dagegen bin, Stoffe neu zu erzählen, zu adaptieren, zu verfremden oder einfach nur eine Idee aufzugreifen und ganz neu zu verarbeiten. Ich finde, da sollte es auch keine Regeln und keine Grenzen geben. Literatur / Kunst muss alles dürfen, finde ich. (Beispiel: Pride and Prejudice and Zombies ist meiner Meinung nach eine der besten Adaptionen des Stoffs überhaupt.) Und einen Klassiker mit einem queeren Paar neu zu erzählen, finde ich zum Beispiel super spannend und hab ich auch selbst gemacht. Jede neue Bearbeitung gehört ja auch zur Diskussion des Originals und ist eine Variation des Themas. Und das ist eigentlich das Herz von Kunst, der Dialog, auf welche Art auch immer er stattfindet.
Da würde ich nur teilweise zustimmen und leicht widersprechen.
Generell bin ich auch absolut dafür, alte Ideen und ihre Verarbeitung neu aufzugreifen und neu zu verarbeiten, und Regeln und Grenzen sind in der Kunst eh immer mehr Hindernis als Stütze.
Ich finde aber, eine Adaption sollte schon ihr Bestes geben, den Gist des Originals aufzugreifen, dieselben Themen auf eine ähnliche Weise zu bearbeiten, und zwar alles in einen modernen Kontext holen, aber die Grundidee beibehalten. Beispielsweise fände ich eine "Faust"-Adaption zur Originalzeit aus Gretchens Perspektive total spannend, in der die Tragödie sich zwar genauso abspielt, aber ein sehr kritischer Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen geworfen wird, die die Tragödie erst ermöglichen. Genauso spannend fände ich eine "Faust"-Adaption in der Neuzeit, in der ein moderner Faust auch nach Wahrheit sucht und nie zufrieden ist, in der sein Absturz aber nicht durch ein gesellschaftlich geächtetes Liebesabenteuer verursacht wird, sondern etwas ganz Anderes, das zu unserem Zeitgeist passt und für seine Figurenentwicklung eine ähnliche Bedeutung hat. Was ich dagegen überhaupt nicht gut fände, wäre eine "Faust"-Adaption in der Neuzeit, in der Gretchen aufbricht, um den systemischen Sexismus der Gesellschaft zu zerschlagen. Denn das wäre zwar von den Inhalten des Originals abgeleitet, hätte aber gar nichts mehr mit der Geschichte zu tun, die "Faust" eigentlich erzählen will - und da könnte es auch gleich eine eigene Geschichte sein.
Weil du es erwähnt hast, ich bin bei dem Thema "Klassiker auf queere Weise neu erzählen" ähnlich zwiegespalten. Ich persönlich bin noch nicht überzeugt, wenn ein Klassiker queer neu erzählt wird, nur um der Sache willen, einen Klassiker in queer neu erzählt zu haben. Auch da sollte es schon einen Bezug zur originalen Geschichte und ihren Themen geben - denn sonst könnte ich genausogut meine eigene queere Geschichte schreiben.
Das soll jetzt ausdrücklich nicht gegen deine eigene Arbeit gehen, ich bin mir sehr sicher, dass du dir bei deiner Adaption viel mehr Gedanken dazu gemacht hast. Es waren nur meine freien Assoziationen zu dem, was du geschrieben hast. :)
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Mondfräulein

Adaptionen sind ja gerade total im Trend, gerade bei griechischen Stoffen. Das finde ich sehr spannend, weil sie diese Geschichten einem heutigen Publikum wieder zugänglich machen. Ich persönlich lese Klassiker zum Beispiel oft nicht nur wegen der Sprache und Erzählweise nicht gerne (aber das spielt durchaus eine große Rolle), sondern auch, weil ich mich in den Themen nicht mehr wiederfinde und weil ich so ursexistische Geschichten einfach ungern lese. Schwierig wird es bei Adaptionen von sehr problematischen Autor*innen wie zum Beispiel Lovecraft. Da muss eine Adaption sich finde ich irgendwie mit auseinandersetzen.

Mir ist dabei wichtig, dass der Klassiker in all seinem Kontext verstanden wurde. Warum hat der Autor dieses Buch zu dieser Zeit geschrieben? Worum geht es wirklich? Ich möchte erkennen, dass das Buch nicht nur oberflächlich gelesen sondern wirklich verstanden wurde. Von mir aus kann dann auch Gretchen gegen das Patriarchat kämpfen, solange ich irgendwie sehe, dass sich das Buch nicht nur an der Oberfläche am Faust bedient, sondern das Stück auf einer tiefgreifenden Ebene verstanden hat.

Letztendlich verkauft sich so etwas aber auch einfach gut, weil es sich auch viel leichter pitchen lässt. Ich freue mich riesig auf das neue Buch von Bea Fitzgerald, nur weil ich gehört habe "Nacherzählung des trojanischen Kriegs mit Rivals to Lovers Helena x Kassandra". Das ist griffiger als wenn es ein komplett originaler Stoff wäre. Da habe ich sofort Ideen im Kopf, was alles passieren könnte. Genauso bei "queere Nacherzählung von Jane Eyre", da ist mein Interesse sofort geweckt. Das ist im Prinzip ja auch kaum etwas anderes als Fanfictions. Aber auch Goethes Faust war eine Adaption des Faust-Stoffes. Die Neuadaption von Klassikern ist immer schon Teil der Literatur gewesen. Das wurde und wird immer noch oft gemacht.

Interessant finde ich da auch die Remix-Reihe:
ZitatIn the Remixed Classics series, authors from marginalized backgrounds reinterpret classic works through their own cultural lens to subvert the overwhelming cishet, white, and male canon.
Hier findet man die Bücher auf Goodreads: https://www.goodreads.com/list/show/172254.Remixed_Classics_Feiwel_Friends

Steffi

Neuadaptionen von Klassiker sind so alt wie die Literaturgeschichte selbst. Viele der Märchen, die wir heute z.B. den Gerbüdern Grimm zuschreiben, sind Nacherzählungen von mündlichen Geschichten, die zum ersten Mal im 17. Jahrhundert in Italien niedergeschrieben wurden (also weit vor den Grimm).

Die gesamte Artussagen besteht aus Fanfiction, Einzelwerken und Neuadaptionen, die Thomas Mallory im 15, Jahrhundert in Le Morte d'Arthur als Best-Of veröffentlicht hat. (Ich habe sehr viele Gefühle zu selbsternannten "Artus"-Puristen, weil es die eine wahre Version einfach nicht gibt.)  Von Shakespeare und seinen ganzen historischen Stücken, die im Prinzip nichts anderes sind als Real Person Fanfic, ganz zu schweigen. Und selbst Tolkien hat beim Hobbit hauptsächlich Bausteine aus Beowulf neu zusammengewürfelt und aufgeschrieben.
Sic parvis magna

Zit

#6
Ich denke nicht, dass die Bezeichnung "Klassiker" eine Qualitätsbezeichnung ist. Gerade was sehr alte Kunst angeht, Stichwort Alt-Griechische Stoffe, ist es auch mal nur das, was überlebt hat. Diese Stoffe als "Dirne" zu bezeichnen wird ihnen aber auch nicht gerecht. Sie sind Zeugen ihrer Zeit und Kultur und was können Menschen von damals, dass sie andere Werte hatten als wir? Stellt sich auch keiner ihn und betitelt iranische Literatur als Dirne, nur weil dem andere Werte zu Grunde liegen. Was Klassiker brauchen, ist eher eine Erweiterung des Kanons. Mir ist die Auswahl im Buchhandel immer noch zu sehr fokussiert auf "alte, weiße Männer". (Die wohl auch öfter mal von Frauen abgeschrieben haben und Lorbeeren eingeheimst haben für etwas, das ihnen gar nicht zusteht? Hatte letztens darüber gelesen, aber mich noch nicht weiter damit beschäftigt. Wenn jemandem also noch etwas dazu einfällt, bitte!)

Was die andere Sache angeht: Wenn ich mich als Künstler:in begreife, dann nehme ich mir die Freiheit raus, aus allem zu schöpfen, was die Menschheit so bisher hergegeben hat. So ganz grundsätzlich. Persönlich bin ich aber nicht unbedingt daran interessiert, immer wieder denselben "Stoff" durchzukauen. Ich meine, ich sehe ein, dass populäre Klassiker gerade deswegen populär sind, weil sie Themen/ Konstellationen behandeln, die über die Zeit hinweg immer noch viele Menschen ansprechen. Generell ist von Menschen geschaffene Kunst ja auch immer sehr menschbezogen, sei es bezogen auf menschliche Erfahrungen, die Position des Menschen im Gefüge des Universums oder anderes. (Um es mal ein bisschen von AI-Werken abzugrenzen. Die kann zwar schön reproduzieren und remixen, aber das Verstehen der Themen geht ihr halt völlig ab.) Muss ich dann für diese Themen immer wieder dieselbe Ausarbeitung abarbeiten? Weiß nicht. Die grundsätzlichen Themen, die Menschen ansprechen, sind so universell, da setz ich mich lieber hin und mach etwas Neues. Spannender finde ich es daher auch, wenn man sich schon an Klassikern abarbeitet, die eindeutigen Bezüge in neuen Geschichten zu verwenden. Also meinetwegen Gretchen, die loszieht und das Patriachat umkrempelt in ihrer Zeit oder Faust, der im modernen Wissenschaftsapparat verzweifelt (mit neuen Wendungen in der Handlung). Also das Spiel aus Erwartung und Potential und Untergraben von Tropes ist spannend, nicht die Xte Nacherzählung von Faust oder Fan-Fiction, die hauptsächlich nur reproduziert, aber sonst nichts Neues beiträgt. Aber das ist vielleicht dann nur meine Vorliebe.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Alana

#7
Ich sage mal ganz ketzerisch: Mir ist das alles eigentlich vollkommen egal, solange mich das Endergebnis abholt. Und das geht bei mir von sexy spice über einfach lustig bis zu tiefe moralische Fragestellungen, philosophische Abhandlungen oder auch handwerklich toll gemacht.

Ich finde, alles ist valide und alles kann, darf und soll gemacht werden. Der Rest ist für mich persönlicher Geschmack und ich finde es sehr wichtig, das in der Diskussion zu unterscheiden bzw. deutlich zu machen.

Wenn jemand Lust hat, eine vollkommen banale Adaption von etwas zu schreiben, an der das einzig Neue ein Genderswap oder queere Hauptfiguren sind, why not? Ganz ehrlich, eine banale Adaption, die mich handwerklich oder mit Humor abholt, ist mir lieber als eine hochgegriffene Adaption, die mich nicht erreicht. Und ob ich gerade lieber was philosophisches oder einfach nur was Lustiges mag, ist bei mir total stimmungsabhängig.

Ich finde es einfach superwichtig, da nicht zu werten. Der Struggle gegen das deutsche Künstlerbild ist für mich als Romance-Autorin so ein alltäglicher, nerviger Kampf, dass ich dazu echt nicht negativ beitragen möchte.

Für mich liegt der Kern der Diskussion nicht darin, was man machen sollte oder darf, sondern was man machen kann und wie.

 
Alhambrana

Zit

Sagt ja niemand, dass man das nicht machen darf. Die Aussage "holt mich ab" ist aber auch sehr schwammig und persönlich. Mir reicht halt einfach Lizzy&Darcy nicht, die sich 2025 missverstehen, aber sonst bleibt alles gleich außer der Kulisse. Da kann ich auch das Original lesen. Vor allem nicht, wenn das dann groß im Publikumsverlag aufgemacht wird, mit Spitzenplatzierung. Da will ich lieber originale Stoffe sehen.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

KaPunkt

Zitat von: Zit am 22. Januar 2024, 19:22:38Mir reicht halt einfach Lizzy&Darcy nicht, die sich 2025 missverstehen, aber sonst bleibt alles gleich außer der Kulisse.
Das "holt dich halt nicht ab"?  ;D

Wollen wir echt wieder die Diskussion aufmachen, was "wertvolle Literatur" ausmacht?
Das ist mir ganz persönlich ein bisschen zu totgenudelt. (Klassiker?) Aber wer mag, kann gern.

Liebe Grüße
KaPunkt
She is serene
with the grace and gentleness of
the warrior
the spear the harp the book the butterfly
are equal
in her hands.
(Diane di Prima)

Zit

Man liest manchmal Dinge in Beiträge rein, die man reinlesen will, die aber nicht dastehen.
Mir wird das zu asntrengend.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Alana

@LinaFranken Was war denn deine Absicht mit diesem Thread? Möchtest du die Möglichkeiten diskutieren? Das fände ich jedenfalls interessant. :)
Alhambrana

LinaFranken

Zitat von: Alana am 22. Januar 2024, 23:18:45@LinaFranken Was war denn deine Absicht mit diesem Thread? Möchtest du die Möglichkeiten diskutieren? Das fände ich jedenfalls interessant. :)
Alles um das Thema Klassiker finde ich interessant. Sowohl die Ansichten zum Lesen wie auch zum "Wiederverwenden" und wenn ja, auf welche Art? Finde ich alles spannend. Da kann es für mich gar nicht genug unterschiedliche Ansichten geben. Je mehr unterschiedliche Ansichten ich sammeln kann (egal wie kontrovers diese sind), desto mehr inspirierende Ideen kann ich ergattern, um mit den gängigen Ansichten und Erwartungen in einem Projekt zu spielen oder sie ad absurdum zu führen. Allein schon, dass sich die Frage aufwift, was man als Klassiker betrachtet und ob er dadurch automatisch "wertvoll" ist, ergibt für mich ein "literarisches Schlupfloch" in das man in einem Projekt eine Brechstange setzen kann, um Erwartungen auszuheben.
Was ich natürlich nicht möchte, ist nach der einzigen richtigen Antwort zu suchen. Ich finde es gerade interessanter, Einwände und Widersprüche zu sammeln. Diese sozusagen als Salz für das eigene Projekt-Süppchen zu ernten  ;)

Sparks

Zitat von: LinaFranken am 21. Januar 2024, 22:19:28So manch ein KLassiker, den unsere Großeltern noch gelesen haben, ist heutzutage nicht mal dem Namen nach bekannt. Viele Verarbeitungen alter Klassiker verbleiben auch oft im gleichen Setting, gleicher Zeit, gleichen Geschlechterrollen. Ist das nicht eine großartige Chance, verschüttetes auszugraben und in neue, zeitgemäße, tolerante Kleider zu hüllen,

Das ist eine große Chance. Du kannst das Setting in die Gegenwart oder Zukunft oder in eine andere Gesellschaft verlegen, und dort die gesellschaftlichen Rollen darstellen, kritisieren oder Loben, ganz wie es Dir beliebt.   

Zitat von: LinaFranken am 21. Januar 2024, 22:19:28oder findet ihr, man soll die Hafendirne lieber nicht anfassen, weil die schon durch zu viele Hände ging?

Lästerliche Behauptung meinerseits:
Ich würde sagen, an der Dame muss was dran sein, wenn sie so viele Liebhaber gefunden hat. Und dabei wird sie zumindest an Erfahrung gewonnen haben. Das ist ja auch was wert.

Zitat von: LinaFranken am 21. Januar 2024, 22:19:28Ich bin von meiner Klassikeridee so besessen, dass ich sie definitiv durchziehen werde, aber ich bin dennoch sehr neugierig, wie ihr das mit dem verwursten alter Geschichten betrachtet.

Eigentlich gibt es nur relativ wenige Grundstrukturen von Geschichten. Auch wenn es Dir nicht so aufgefallen ist: Die meisten Geschichten sind so ähnlich schon einmal geschrieben worden. Nur das Setting hat sich verändert. Das ist nicht unbedingt ein bewusstes Überarbeiten oder Abschreiben, sondern das ergibt sich daraus, dass die menschlichen Grundprobleme immer und überall die gleichen sind, und es ist eben eine natürliche Konvergenz, wenn die dazu geschriebenen Geschichten sich ähneln.

@LinaFranken : Go for it! Tu Dir keinen Zwang an. Leg los und schreib, wie dir der Bleistift oder die Tastatur gewachsen sind. Viel Spass dabei. :jau:
Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Depression

Ava

Bei Faust aus der Sicht von Gretchen mit Zombies wär' ich sofort mit dabei!!!  ;D

Vielleicht bin ich in zehn Jahren soweit und nehme das in Angriff, wenn's bis dahin niemand anders gemacht hat  :rofl:

Spaß beiseite.

Als absoluter Fan von retellings (meistens lese ich englischsprachige Bücher) möchte ich Mondfräulein (danke für die Remix-Liste!) und Sparks beipflichten.

"Der Klassiker" ist nur EINE Perspektive - oft, wie schon gesagt wurde - auf einen Stoff, den es mehr oder weniger schon vorher gegeben hat. Eine Neuerzählung fügt eine andere Sichtweise auf das Geschehene hinzu und das finde ich spannend, denn es zeigt uns, dass jede Geschichte mehrere Wahrheiten hat. Je nachdem, wer sie betrachtet, aus welcher Zeit sie betrachtet wird und welche Erfahrungen diejenige oder derjenige, welche/r sie erzählt, gemacht hat. Was die Erzähler*in uns mitteilen möchte. Wer in den Vordergrund gestellt wird.

Mir persönlich ist es egal, ob die Geschichte in eine neue Zeit transferiert wird oder am Originalschauplatz spielt. Beides kann gut oder schlecht gemacht sein - wobei das natürlich auch eine Geschmacksfrage ist. Ich fand "Red Riding Hood" von Christina Henry als Neuinterpretation des Rotkäppchen-Stoffes super. Ebenso toll finde ich die Neu-Interpretationen der griechischen Mythen. Auf meinem Schreibtisch liegen Ariadne, Elektra und Stone Blind - war so begeistert von Medusa, dass ich mir die anderen Geschichten auch gleich geholt habe...

Bin gespannt auf deine Projektsuppe, @LinaFranken, und hoffe, mehr darüber zu erfahren.