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Trauma schreiben

Begonnen von Mondfräulein, 03. Februar 2022, 18:38:27

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Mondfräulein

Dieses Thema beschäftigt mich seit einer Weile, aber ausschlaggebend für diesen Post war ein Artikel von Parul Sehgal namens ,,The Case Against The Trauma Plot" (Link: https://www.newyorker.com/magazine/2022/01/03/the-case-against-the-trauma-plot). Der Artikel ist auf Englisch und auch nicht besonders leicht geschrieben, aber die Punkte, über die ich reden möchte, sind:
- Trauma ist mittlerweile aus unseren Geschichten kaum mehr wegzudenken und auch Klassiker werden dahingehend angepasst, zum Beispiel bei der Netflix-Verfilmung Anne with an E durch das Hinzufügen von Flashbacks aus Annes traumatische Zeit im Waisenhaus.
- Jude, der Protagonist aus Hanya Yanagiharas Roman A Little Life hat alle traumatischen Dinge erlebt, die man sich vorstellen kann. Im Roman bleibt sein Trauma das einzige, was ihn ausmacht, seine einzige Charaktereigenschaft. Der Trauma-Plot baut die Persönlichkeit einer Figur um ihr Trauma herum auf, manchmal ersetzt sie ihre Persönlichkeit auch durch Trauma.
Zitat,,With the trauma plot, the logic goes: Evoke the wound and we will believe that a body, a person, has borne it."
(,,Die Logik der Trauma-Handlung lautet: Zeige uns die Wunde und wir werden glauben, dass ein Körper, eine Person, sie getragen hat.")
- Trauma und Backstory sind zu Synonymen geworden. Literarisch gesehen ist dieser Fokus auf die Hintergrundgeschichte einer Figur aber relativ neu. Figuren existieren im Trauma-Plot nur, um in die Vergangenheit zurückzublicken.
- Die Definition der posttraumatischen Belastungsstörung ist offener geworden und lässt eine größere Diversität von Symptomen zu, aber die Vorstellung, wie sie auszusehen hat und was sie mit sich bringt, ist enger geworden. Realistische Darstellungen von Trauma oder die Geschichten von Überlebenden, die über ihr Trauma schreiben, werden oft abgelehnt, weil sie nicht dem gängigen Trauma-Narrativ entsprechen.
- Dennoch gibt es Geschichten, die Trauma beinhalten und sich dennoch nicht dem Trauma-Plot hingeben. Gute Geschichten benutzen Trauma laut Sehgal als Anfang, aber nicht als Mitte und Schluss.
Zitat" In these novels, my trauma becomes but one rung of a ladder. Climb it; what else will you see?"
("In diesen Romanen wird mein Trauma  nur zu einer Sprosse auf einer Leiter. Steig sie hinauf, was siehst du noch?")
Das ist insgesamt eine sehr unzureichende Zusammenfassung des Artikels und wenn ihr könnt, würde ich empfehlen, ihn selbst zu lesen (oder vielleicht einmal durch deepl.com zu jagen und dort auf Deutsch zu lesen). Aber der Artikel hat mich zum Nachdenken gebracht.

Ich mag Hintergrundgeschichten. Ich mag es, herauszufinden, wie eine Figur so geworden ist, wie sie ist, und zu lesen, wie sie sich von den Fesseln der Vergangenheit befreit. Ich mag Geschichten über Trauma und gleichzeitig hasse ich Geschichten über Trauma, denn vielen Punkten aus dem Artikel stimme ich zu.

Mich stört auf der einen Seite, was oft auch als ,,Trauma Porn" bezeichnet wird: Geschichten, in denen Trauma exzessiv ausgewalzt wird. Meistens geht es um das Trauma marginalisierter Gruppen, meistens werden diese Geschichten aber nicht für Angehörige dieser Gruppen geschrieben, sondern als Unterhaltung für nicht-Angehörige. Auf der einen Seite wird hier Trauma benutzt, häufig von Autor*innen, die gar nicht davon betroffen sind, ohne auf die Bedürfnisse derjenigen zu achten, die davon wirklich betroffen sind. Viele Geschichten über queere Menschen erzählen zum Beispiel exzessiv vom Leiden queerer Menschen und schreiben sowohl an den Bedürfnissen als auch an der Lebensrealität echter queerer Menschen vorbei. Da fällt mir spontan Not Your Type von Alicia Zett ein: Der Protagonist des Buches ist trans und der gesamte Konflikt des Romans dreht sich darum, dass er trans ist und sich in eine cis Frau verliebt. Seine Persönlichkeit dreht sich darum, dass er trans ist und deshalb depressiv. Als ich Rezensionen von trans Personen zum Buch gelesen habe, stach für mich heraus: ,,Für wen auch immer dieses Buch ist, es ist nicht für uns".

Was mich auch stört, beobachte ich häufig bei jungen Autor*innen, obwohl A Little Life dem auch zu entsprechen scheint: Figuren werden mit Trauma überhäuft. Es reicht nicht ein traumatisches Ereignis, die Figuren haben jedes denkbare Trauma erlitten und ihre Persönlichkeit wird komplett darauf reduziert. Trauma definiert die Figuren. Je mehr, je besser.

Dann steckt da häufig noch eine Menge Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen mit drin. Besonders Frauen passiert es oft, dass sie an ihrem Trauma, das in aller Breite ausgewalzt wird, völlig zerbrechen und wahnsinnig werden, was in den Augen vieler Autor*innen Grundlage für eine tolle Antagonistin ist, die man mehr bemitleidet als sie zu hassen. Das ist genauso problematisch wie Männer, die nur aufgrund ihres Wahnsinns, oft ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, Gräueltaten begehen. Natürlich gibt es das auch anders herum, aber insgesamt habe ich das Gefühl, dass Trauma bei Männern und Frauen anders geschrieben wird, genauso wie unsere Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an Männer und Frauen stellt, auch was Traumaverarbeitung angeht. Aber am Ende bleibt: Psychische Störungen führen zu Gräueltaten. Um Antagonist*innen interessanter zu machen, gibt man ihnen noch Trauma mit, das ihre Taten begründet und als Ersatz für eine echte Motivation hinhält, damit man Mitleid haben kann, während sie zugrunde gehen. Das trägt zur Stigmatisierung von psychischen Störungen bei und ist vollkommen unrealistisch, aber dennoch ziemlich beliebt.

Aber gleichzeitig mag ich Geschichten über Trauma auch. Ich mag tragische Hintergrundgeschichten, ich mag es, wenn Figuren sich den Geistern ihrer Vergangenheit stellen und darüber hinaus wachsen. Ich glaube, es ist wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Ich mag Antagonist*innen mit tragischen Hintergrundgeschichten, ich mag es, wenn ich verstehen kann, warum Antagonist*innen das tun, was sie tun. Meine liebsten Bücher beinhalten alle irgendwie tragische Hintergrundgeschichten oder Trauma. Ich mag es, wenn Ereignisse in den Büchern Folgen für die Protagonist*innen haben. Ich weiß, ungefähr jede Geschichte mittlerweile davon handelt, die Geister der Vergangenheit zu besiegen, aber gleichzeitig mag ich solche Geschichten einfach wirklich gerne. Das lese ich gerne. Das schreibe ich gerne. Insofern geht es mir auf keinen Fall darum, auf Trauma zu verzichten, sondern darüber zu sprechen, wie man das gut umsetzen kann und welche Fallstricke es gibt, damit ich sie in meinen eigenen Büchern vermeiden kann.

Insgesamt stimme ich dem Artikel definitiv zu, dass es eine große Diskrepanz zwischen dem gibt, was realistisch ist, und dem, was als realistisch empfunden wird. Hier frage ich mich auch, ob das vielleicht vom Genre abhängig ist. Welche Erwartungen haben Leser*innen hier an bestimmte Genres und wie kann man sie durchbrechen? Wie kann man Trauma schreiben, sodass es auch von den Leser*innen akzeptiert wird? Wie bringe ich ihnen halbwegs realistische Geschichten nahe? Denn gut geschriebene und realistische Geschichten bringen ja niemandem etwas, wenn sie niemand lesen will.

Und wie schaffe ich die Balance zwischen einem Trauma-Plot und einem Buch, in dem Figuren nicht nur durch ihr Trauma definiert sind? Wie stelle ich Trauma realistisch dar und schreibe gleichzeitig nicht an den Bedürfnissen von Gruppen vorbei, deren Trauma ich für meine Geschichten benutze? Wie umgehe ich diskriminierende Stereotype?

Wie seht ihr das? Was stört euch an der Darstellung von Trauma, was findet ihr gut? Welche Beispiele fallen euch ein? Mich interessiert, was ihr dazu denkt.

KaPunkt

Oh wow.
Darüber muss ich sehr lange nachdenken und freue mich schon auf die Antworten hier.
Aber eines fällt mir schon, das hilfreich sein könnte:
Wie eine traumatisierte Figur schreiben, die nicht nur über ihr Trauma definiert wird?

Der Ansatz, der sich für mich als hilfreich erwiesen hat, ist, das Trauma erstmal zu ignorieren und zu überlegen, was für eine Person vor dem Trauma da war / ist. Da sollte kein leerer Umriss stehen sondern bereits eine komplexe, fertige Persönlichkeit.
Dann kommt das Trauma und hinterlässt Spuren, die die Figuren verändern, aber eben niemals soweit, dass von der ursprünglichen Persönlichkeit nichts mehr übrig bliebe.

Wenn ich ein Bild verwenden darf: Es gibt eine Vase. Die Vase fällt vom Tisch und zerbricht. Die Vase wird aus den Scherben wieder zusammengesetzt (vielleicht fehlen trotzdem noch ein paar Stücke). Die Vase sieht jetzt anders aus, aber man kann noch erahnen, wie die Vase vor dem Sturz aussah und sich anfühlte.
Fällt als nächstes der Steingut-Topf herunter, zerbricht und wird wieder geflickt, ist er nicht nur immer noch als fundamental anders als die Vase erkennbar - er ist auch an anderen Stellen gebrochen.

Und jetzt denke ich weiter darüber nach, was ich warum gerade mit meiner aktuellen Hauptfigur und dem Plot mache.

Liebe Grüße,
KaPunkt
She is serene
with the grace and gentleness of
the warrior
the spear the harp the book the butterfly
are equal
in her hands.
(Diane di Prima)

Rhagrim

#2
Oh, das ist ein spannendes Thema!
In meiner Geschichte spielt Trauma auch eine große Rolle und ich habe mich lange und intensiv damit auseinandergesetzt. Tatsächlich war das einer der Gründe, warum ich mich jahrelang davor gedrückt habe, tatsächlich mit dem Schreiben daran anzufangen - weil ich Angst hatte, den angesprochenen Themen nicht gerecht werden zu können. Zumal gerade bei solchen Themen sehr viel Empathie und Fingerspitzengefühl gefragt ist.
Meine Lösung war: Viel recherchieren und zu versuchen, so authentisch wie möglich zu schreiben. Ein Gefühl dafür entwickeln.

Sehr gut fand ich z.B. Narben der Gewalt, Wege zur Selbstheilung für Überlebende sexueller Gewalt und Dear sexual abuse survivor: This is the Guide I Wish Someone Had Written for Me (letzteres ist besonders interessant, da es von einer Überlebenden verfasst wurde). Das nur mal als Grundlagenrecherche für Trauma an sich. Ansonsten empfehle ich, Biographien bzw. Erzählungen von Betroffenen zu lesen, um sich wirklich mit den Menschen dahinter und deren Themen auseinanderzusetzen, um Verständnis und Gespür für sie zu entwickeln.
Ein paar Empfehlungen dazu:
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ZitatUnd wie schaffe ich die Balance zwischen einem Trauma-Plot und einem Buch, in dem Figuren nicht nur durch ihr Trauma definiert sind? Wie stelle ich Trauma realistisch dar und schreibe gleichzeitig nicht an den Bedürfnissen von Gruppen vorbei, deren Trauma ich für meine Geschichten benutze? Wie umgehe ich diskriminierende Stereotype?
Ich glaube, der wichtigste Punkt ist, den Menschen hinter dem Trauma zu sehen und ihn nicht "nur" auf sein Trauma zu reduzieren. Und dann auch diesen Menschen mit all seinen Facetten zu schreiben, und nicht nur die "klassischen" Symptome seines Traumas, die sich 1:1 auf jeden anderen x-beliebigen Charakter übertragen lassen (und ihn dadurch darauf reduzieren und ersetzbar machen).
Ich glaube, dass es gerade hier oft zu Stereotypen kommt, wenn man sich eben nicht intensiv genug damit auseinandersetzt und [beliebiges Trauma hier einfügen] in seine Geschichte hineinbringen möchte, nur weil es gerade modern ist, oder man irgendeinem Charakter dadurch mehr "Pep" verpassen, oder ihm den Anschein von Tiefe geben will. Auf diese Weise bleibt es dann leicht oberflächlich.
Finde ich auch verständlich. Trauma klingt vielleicht "cool" als spannende Hintergrundgeschichte, die man "mal eben schnell" dem Antagonisten oder einem der Charas andichtet. Aber wenn man sich wirklich damit auseinandersetzt und in dieses Thema eintaucht, kann das durchaus ziemlich wehtun, da es einen dazu zwingt hinzusehen. Aber genau das ist, denke ich, nötig, wenn man ein solches Thema authentisch schreiben - und dem auch gerecht werden will.

Jeder Mensch hatte ein Leben vor seinem Trauma und hat einen eigenen, einzigartigen Charakter, der durch dieses erschüttert, oder komplett zerstört wird. Die meisten stehen dann erstmal vor diesem Scherbenhaufen und zerbrechen daran, finden einen Weg, damit zurechtzukommen, oder gelangen zu tatsächlicher Heilung.
Wie ein Mensch auf ein traumatisches Ereignis reagiert und welche Folgen es für ihn hat, kann sich - obwohl es viele Symptome gibt, die häufig vorkommen und dadurch als typisch gelten - total unterscheiden.
Je nach dem Charakter des Menschen, der Situation selbst und - nicht zu unterschätzen - seinem Umfeld.

War er vorher schon eher ein "Lone Survivor", der sich nach einem derartigen Ereignis vermutlich komplett zurückzieht, soziale Kontakte abbricht, sich von der Welt zurückzieht und verbittert?
War es eher eine Person, die lösungsorientiert und gemeinsam mit anderen handelt und ihre Ängste und Gefühle offen mitteilt, und dadurch vermutlich bessere Chancen hat, nicht ganz in Verzweiflung abzusacken, als jemand, der alles in sich hineinfrisst?
Gibt es jemanden, der für den Überlebenden da war, ihn unterstützt, oder ihm zumindest zuhört? Familie, Freunde, oder ein Therapeut? Hatte der Überlebende nach seinem traumatischen Erlebnis ein sicheres Umfeld, das ihn auffängt und in dem er lernen kann, wieder Vertrauen zu fassen? Oder war er auf sich allein gestellt, bzw. wurde er dann auch noch Opfer von victim blaming, was sein Vertrauen in die Gesellschaft noch weiter erschüttert und seine Überzeugung stärkt, alleine dazustehen, weil niemand ihm helfen kann/will?

Es gibt unzählige Faktoren, die - außer dem traumatischen Ereignis selbst - Art und Schwere des Traumas selbst beeinflussen können, daher würde ich jeden Charakter, den du schreiben willst, auch als vollständige Person betrachten und all das auch in deine Geschichte miteinbeziehen, um ihn dreidimensional zu machen und ihn damit nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren.

Außerdem ist es, denke ich, wichtig, dass man in seiner Geschichte eines sehr deutlich macht: Egal ob Trauma oder psychische Krankheiten: Es trifft nicht immer nur den Antagonisten, sondern es kann alle Menschen treffen und es macht sie weder böse, noch schlecht.
Klar mag es "cool" wirken, dem Anta damit mal eben schnell mehr "Tiefe" oder einen einfachen Grund zu geben, warum er tut, was er tut. Aber ich finde es schade, wenn man die wirklich Betroffenen dadurch immer wieder in dieselbe Schublade steckt.

Hoffe, das hilft. :)


EDIT:
Außerdem würde ich noch überlegen, wo du mit deiner Geschichte hin willst und welche Art von Trauma du warum aufgreifen möchtest.
Generell hat man bei Trauma ja oft die "klassischen" Auslöser wie z.B. Kriegstrauma oder Vergewaltigung im Kopf, mit den "klassischen" Symptomen wie PTBS, Flashbacks, Alpträume,...

Abgesehen davon gibt es ja noch unzählige weitere Auslöser und Arten von Traumata, sei es durch Naturkatastrophen, Gefangenschaft, Unfällen, oder den "alltäglichen" aber eher unerkannteren wie z.B. dem passiven Trauma (durch Vernachlässigung, unterlassene Hilfeleistung, oÄ), oder Kindheitstraumata, an die sich der Betroffene oft gar nicht erinnert, aus denen sich allerdings auch eine Borderline Persönlichkeitsstörung (die ja meist leider auf das "klassische" Schneiden reduziert wird), oder z.B. eine multiple Persönlichkeitsstörung entwickeln kann.
Es ist ein sehr vielschichtiges Thema, da es eben so viele verschiedene Formen annehmen kann, von denen sich viele Betroffene im Alltag gar nicht bewusst sind oder nie auf die Idee kämen, ihr eigenes Verhalten oder ihre körperlichen/psychischen Symptome mit einem traumatischen Erlebnis in Verbindung zu bringen.

Körperliche Symptome werden bei dem Thema ja auch gerne vernachlässigt, denke ich. Obwohl sie sehr wichtig sind, da der Körper - selbst wenn der Geist vergisst - das Erlebte abspeichert und es in Form von z.B. chronischen Schmerzen aufleben lassen kann.


Ein gutes Buch ist mir auch noch eingefallen (der Titel mag in dem Zusammenhang provokant wirken, da das Wort "Narzissmus" sofort negative Assoziationen weckt - wenn man das ignoriert und dem Buch eine Chance gibt: Ich finde es sehr wertvoll und es hat mir viel gebracht): Narzissmus - dem inneren Gefängnis entfliehen
Gerade in diesem Buch wird vielleicht auch klar, wie alltäglich Trauma eigentlich ist - nicht nur im Großen, sondern auch im "Kleinen", wo es uns selbst gar nicht bewusst wird.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Alana

#3
Mich stört vor allem, wenn Trauma falsch / problematisch dargestellt oder problematisch aufgelöst wird. Und im Zusammenhang damit stört mich vor allem massiv der Trend des Traumas als Plot Device, so wie es häufig bei New Adult der Fall ist. Die Lebenswirklichkeit mit dem Trauma ist nur Vorwand für toxisches Verhalten und dient am Ende als Wendepunkt, wird aber nicht oder extrem falsch aufgearbeitet.

Beispiel: Cinder und Ella.

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Ich selbst schreibe auch über Traumata, aber immer mit der Absicht, sie wirklich aufzuarbeiten und Klischeedarstellungen aufzudecken bzw. eben zu zeigen, wie das Leben mit dem Trauma wirklich ist. Ich habe für mehrere Bücher entsprechende Mails von Betroffenen bekommen, die quasi sagten: endlich schreibt mal einer, wie es wirklich ist. Das ist für mich das größte Kompliment.

Leider ist das Trauma als Plot Device aber beliebter, denn man möchte einen tollen, dramatischen Moment, sich aber wirklich damit beschäftigen, wollen deutlich weniger Leute.

Ergänzung: Ich mache dabei garantiert auch vieles falsch, das bleibt vermutlich nicht aus, egal, wie sehr man sich bemüht.
Alhambrana

Manouche

Wow, ja ein sehr spannendes Thema. Mir geht es ähnlich wie @KaPunkt ich denke an meine Figuren und überlege, ob ich hier da ein ,,Trauma" zu leicht einsetze.
Genauso, wie ich mir nicht sicher bin, ob ich beim Schreiben immer korrekt damit umgehe, masse ich mir nicht so richtig an hier über Trauma zu schreiben. Aus Unsicherheit, eine Aussage zu machen, die ich bei längerem Überlegen vielleicht anders sehe. Trotzdem möchte ich ein paar meiner Gedanken mit euch teilen und mit euch in den Austausch kommen.

@Mondfräulein:
ZitatGute Geschichten benutzen Trauma laut Sehgal als Anfang, aber nicht als Mitte und Schluss.

Dies scheint es für mich schon mal sehr auf den Punkt zu bringen. Ein Trauma macht etwas mit den Menschen. Es lässt die Betroffenen das Leben oder bestimmte Situationen auf eine andere Art, auf eine neue Weise erleben. Aber auf jeden Fall lässt ihre Geschichte, ihr Leben sich nicht auf das Trauma reduzieren. Und das darf meiner Meinung nach in den meisten Bücher auch nicht passieren. Ich schreibe ,,in den meisten", da ich sicher bin, wenn die richtigen Personen auf die richtige Art und vor allem ohne Sensationslust ein Buch über ein Trauma schreibt, kann das gut sein, eindrücklich und ,,lehrreich". Würde ich mir aber niemals anmassen.

Das wissen von einem Trauma kann uns helfen Menschen besser zu verstehen. Es kann auch Betroffenen helfen, sich selber besser zu verstehen, Schwierigkeiten, Ängste etc.

Traumas in einem Roman einzubauen, passiert vermutlich häufiger, als uns bewusst ist, wenn wir eine Charakterbeschreibung machen. Und da Trauma ein sehr weiter Begriff ist, denke ich, ist auch der Spielraum sehr gross. Gewisse Traumas haben eine weniger einschneidende Wirkung auf das Leben als andere. Und jeder Mensch geht anders um mit einschneidenden Erlebnissen.

Ausschnitt aus Wikipedia:
ZitatAls psychisches, seelisches oder mentales Trauma (Plural Traumata, Traumen; von altgriechisch τραύμα ,Wunde') wird analog zum Trauma in der Medizin in der Psychologie eine seelische Verletzung bezeichnet, die mit einer starken psychischen Erschütterung einhergeht und durch sehr verschiedene Ereignisse hervorgerufen werden kann. Der Begriff ist unspezifisch und wird verwendet für das Erleben einer Diskrepanz zwischen einem bedrohlichen bzw. als bedrohlich erlebten Ereignis und den individuellen Möglichkeiten, das Erlebte zu verarbeiten. Beides kann sich in zahlreichen Merkmalen wie Qualität, Ausprägung und Folgen unterscheiden. Insofern werden so verschiedene Geschehnisse wie beispielsweise ein Kindheitstrauma oder ein Kriegstrauma unter dem gemeinsamen Oberbegriff gefasst. Zu den Folgen können psychische oder körperliche Symptome gehören, die gemeinhin unter dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden,[1] sofern sich nicht spezifische Begriffe etabliert haben, wie das Stockholm-Syndrom bei Opfern von Geiselnahmen. Die Lehre von den psychischen Traumafolgen ist die Psychotraumatologie.


Ich sehe es wie du @Mondfräulein, Hintergrundgeschichte macht die Figuren in Romanen vielschichtig und interessant. Es ist das was mich häufig in den Geschichten interessiert. Es ist ihre Vergangenheit, welche die Protagonisten zu dem macht, was sie sind. Und manchmal sind die Hintergrundgeschichten traumatisch. Doch für meinen Geschmack muss da nicht "alles ausgekostet" werden. Wenn ihre versteht was ich meine, sonst wird es mir eher zur Sensation...

Als Autorin will ich versuchen mich wirklich in das Denken und Fühlen der Charaktere hineinzuversetzen. Ich masse mir aber nicht an, über ein Trauma zu schreiben, dass zu weit von meiner Erlebniswelt entfernt ist. Gewisse Schicksale kann ich/ können wir mit unserem eigenen Erleben nachempfinden. Andere können wir zwar verstehen und nachvollziehen, aber wirklich das Gefühl kennen, können wir vermutlich nicht. Und das ist natürlich sehr von unserem eigenen Leben und Umfeld abhängig. Und ja @Rhagrim , du hast natürlich recht, je nach Trauma, dass beschrieben wird, ist Recherche sehr wichtig.

So sehe ich das im Moment. Und ich denke, wenn Autor*innen ihren Charakteren Hintergrundgeschichten geben, um ihnen mehr Tiefe verleihen, wenn sie mit den Traumas ,,respektvoll" und emphatisch umgehen, dann werden die Leser*innen einerseits eine tiefere Geschichte erhalten und andererseits einen Einblick in das Gefühlsleben anderer Menschen bekommen. Das wiederum lässt sie vielleicht allgemein emphatischer werden mit ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. Ich bin da vielleicht etwas naiv und sentimental, aber der Gedanke gefällt mir gerade sehr.

Zitat @Rhagrim
ZitatAußerdem ist es, denke ich, wichtig, dass man in seiner Geschichte eines sehr deutlich macht: Egal ob Trauma oder psychische Krankheiten: Es trifft nicht immer nur den Antagonisten, sondern es kann alle Menschen treffen und es macht sie weder böse, noch schlecht.
Klar mag es "cool" wirken, dem Anta damit mal eben schnell mehr "Tiefe" oder einen einfachen Grund zu geben, warum er tut, was er tut. Aber ich finde es schade, wenn man die wirklich Betroffenen dadurch immer wieder in dieselbe Schublade steckt.

Ja, im Gegenteil, die Antagonisten als traumatisierte Charaktere zu beschreiben finde ich mehrfach problematisch.

Andersleser

#5
Also was ich auf jeden Fall empfehlen kann, bei all solchen Themen: Sensitivity Reading.
Es gibt sogar eine Seite, wo einige Sensitivity Reader aufgelistet sind, jeweils mit den Themen, die sie anbieten gegenzulesen. Da hat man direkt vom Betroffenen die Rückmeldung. Das hilft, denke ich, noch mit am besten zu sehen, wo man noch was anders machen muss. :) https://sensitivity-reading.de/
Generell gilt aber ohnehin, dass auch da natürlich nur die Sichtweise eines Menschen kommt, nicht die aller betroffenen. Aber wenn man es anbietet, schaut man ja schon darauf, was potentiell schlecht sein könnte, nicht nur für sich - sondern auch mit Blick auf Allgemeines des Themas.

Was ich generell schlimm finde: wenn egal ob Trauma, Behinderung, oder was auch immer, es einfach nur der Punkt ist, den der Loveinterest reparieren muss. Das ist absolut kein starkes Motiv und es bringt eher das Bild, dass der arme Mensch gerettet werden muss. Nicht dass man selber damit klar kommen kann. Klar, auch hier gilt, dass es natürlich mit und ohne Unterstützung funktioniert. Unterstützung ist nicht schlimm. Es geht mir gar nicht um den Punkt der Unterstützung, sondern darum, dass die Geschichten immer so ausgelegt sind, dass es ausschließlich mit dieser Person geht und mit sonst niemandem. Dass nur die Liebe alles retten kann. Oder das generell jemand anderes hier erscheinen und der strahlende Held sein muss, der diesen armen, armen Menschen wieder ins Leben holt. (Ich drücke das überspitzt aus, weil genau das sehr oft vermittelt wird) Versteht mich nicht falsch, es kann durchaus schwer und schlimm sein, aber in der Regel kommt man selbst wieder hoch. (Auch wenn es natürlich immer auch die gibt, die es nicht schaffen, auch mit Hilfe, das darf man nicht vergessen)

Das Bild was ich meine: Mensch landet im Rollstuhl, ist extrem Depressiv, will am besten nicht mehr leben und dann kommt da dieser Mensch, man verliebt sich und ach oh wunder - das ist ja gar nicht dramatisch, jetzt komm ich super damit klar. So wie man es in Filmen fast permanent gezeigt bekommt.
Genauso das Bild: Mensch landet im Rollstuhl und muss da natürlich unbedingt, zwingend...depressiv werden. Nein, muss Mensch nicht - aber das ist leider das gängige Bild, weil genau das - wie gesagt - im Fernsehen oder Buch exakt so gezeigt wird. Klar, das passiert durchaus, das nimmt sehr viele sehr stark mit, und ja, manche entwickeln auch eine Depression - vor allem wenn es plötzlich und ohne Gewöhnung kommt, selbst dann noch - aber es ist eben auch nicht immer und nur so.
Aber der Punkt ist, dass die Geschichten von Menschen erzählt werden, die das nicht kennen, die nicht mal Berührungspunkte haben, aber für die es absolut unvorstellbar und das schlimmste der Welt ist, nicht mehr laufen zu können. Die meinen "Boa das könnte ich nicht" (als hätten Betroffene irgendwie eine Wahl). Und wenn man diesem in der Realität dann nicht entspricht, dann wird einem unter Anderem selbst von Ärzten unterstellt, man "wäre geil auf den Rollstuhl", wenn es nicht durch Unfall sondern Erkrankung passiert und man noch keine Diagnose hat/was seltenes hat. (Und ja, es gibt echt Ärzte die das exakt so sagen - waren die Worte als ich meinen ersten Rolli bekam und mich richtig über das Teil freut. Darüber, mich wieder fortbewegen zu können.)
Denn das Bild: Du hast gefälligst depressiv zu sein. Du musst eine tragische Figur sein. Immerhin "ist es nicht lebenswert" (Spoiler: es ist lebenswert. Natürlich.)

Okay, da bin ich abgeschweift. Zurück zum Trauma-Thema:
Auch hier wünsche ich mir mehr Realität. Liebe heilt kein Trauma mal eben so. Und mit ein bisschen sexueller Aktivitäten mit dem richtigen Menschen ist ein diesbezügliches Trauma auch nicht zu überwinden. Schon gar nicht einfach so und ohne jede Warnung. (und das gibt es in Büchern ja echt, da will man die Geschichte gern an die Wand werfen). Vor allem werden eben auch echt oft Klischees und Vorurteile immer wieder aufgegriffen, weil man es überall so vorgesetzt bekommt. Da kann ich wirklich nur empfehlen: Ganz viel Recherche und unbedingt mit betroffenen sprechen. Sensitivity Reading nutzen. Es verzerrt sonst die Realität einfach so so sehr. Ein klasse Beispiel (wenn auch nicht Trauma): Autismus.
Was denkt der Mensch, wenn er hört, da ist wer autistisch?
- Geistig behindert, spricht nicht, schaukelt hin und her
- Rain Man (Wahlweise: Oh Autismus kenn ich, ich hab Rain Man gesehen. Wobei eh generell von einen Autistischen Menschen auf alle geschlossen wird)
- Kann das Telefonbuch Rückwärts aufsagen und alle Bahnlinien auswendig.
- Hat eine ganz bestimmte stark ausgeprägte Begabung
- Kontraste sind ja toll also heute noch die Zweitversion: Das sind doch die superschlauen (die aber keine Schuhe binden können)
(und es gibt etliche weitere Klischees und Vorurteile, sodass selbst "Spezialisten" meinen, "Ach der kann das und das, das kann kein Autist sein" Da denke ich mir nur: 6! Setzen und nochmal studieren") Diese Klischees und Vorurteile sind einfach ungesund und helfen niemandem. Klar hat man mit einer bestimmten Diagnose Gemeinsamkeiten. Aber die Zusammenstellung an Einzelsymptomen sind bei jedem anders. Manche haben das, andere nicht - dafür aber jenes, usw. Nicht jeder reagiert auf etwas gleich. Weil jeder, egal mit was für Diagnosen, unabhängig davon ein Individuum ist.

Das Zeigt nur wieder ganz toll, wie auch das Rolli-Motiv, dass wir uns sehr stark von TV und Buch beeinflussen lassen, und das für "echt" und "realistisch" halten, weil wir es nicht kennen und meinen, dass es "schon so sein müsse", oder weil wir vielleicht eine Person im Umfeld haben. Oder "Die Tochter eines Schwagers der Freundin hat ja...". Daher erwähne ich auch immer wieder Sensitivity Reading - weil dann problematischere Bilder vermieden werden können und die Realität nicht mehr so sehr verzerrt wird. Ich denke schon, dass es gelesen werden würde, auch wenn es realistischer bleibt. Die Leserschaft Stück für Stück der Realität aussetzen.

Traumatische Erfahrungen einzubauen finde ich gut und in Ordnung. Erfahrungen prägen den Charakter und traumatische Erlebnisse, selbst wenn sie nur für den Charakter traumatisch sind, die machen nun mal was mit einem. Wie andere hier schon sagten: Der Charakter hat vor dem Trauma auch existiert. Wie war er da? Wie hat das Erlebte ihn beeinflusst? Meidet der Charakter bestimmte Dinge? Entwickelt dieser Zwänge? Ängste? Was Triggert den Charakter? Welche Rolle nimmt das Trauma der Figur in der Story ein? Muss es zwingend in Gänze ausgereizt werden? Muss es haargenau erzählt sein, oder reichen auch einzelne Szenen/Erwähnungen..
Man muss das Trauma nicht zwingen ins Zentrum stellen - es muss in einer Geschichte auch nicht zwanghaft verschwinden, nur weil das Buch bald endet. (Ein Trauma verschwindet nicht einfach und alles was verdrängt wird, haut einen irgendwann auch wieder um) Eine gute Lösung fände ich schon, wenn man nicht einfach alles gut werden lässt. Ein Happy End geht auch mit. Das Erlebte bleibt für immer. Die Vergangenheit bleibt für immer. Es ist nicht einfach vergessen. Man kann es nur aufarbeiten und damit leben und klar kommen. Aber es bleibt nun mal. Es wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.

Rhagrim

#6
Zitat von: Andersleser am 04. Februar 2022, 08:34:48
Was ich generell schlimm finde: wenn egal ob Trauma, Behinderung, oder was auch immer, es einfach nur der Punkt ist, den der Loveinterest reparieren muss. Das ist absolut kein starkes Motiv und es bringt eher das Bild, dass der arme Mensch gerettet werden muss. Nicht dass man selber damit klar kommen kann. Klar, auch hier gilt, dass es natürlich mit und ohne Unterstützung funktioniert. Unterstützung ist nicht schlimm. Es geht mir gar nicht um den Punkt der Unterstützung, sondern darum, dass die Geschichten immer so ausgelegt sind, dass es ausschließlich mit dieser Person geht und mit sonst niemandem. Dass nur die Liebe alles retten kann. Oder das generell jemand anderes hier erscheinen und der strahlende Held sein muss, der diesen armen, armen Menschen wieder ins Leben holt.
Dem schließe ich mich an. Was mich in solchen Fällen am meisten stört, ist, dass das Trauma meist von heute auf gleich verschwindet. "Because it´s love". Es gibt kaum bis gar keine Auseinandersetzung mit dem Heilungsprozess oder dem Leben mit dem Trauma, sondern der Betroffene ist wie durch ein Wunder plötzlich geheilt - dank der Liebe der/des Auserwählten.
Für mich ist diese Botschaft absolut klischeebehaftet und schädlich, weil es dadurch einerseits eine Botschaft der Abhängigkeit vermittelt und andererseits die Illusion, dass man Trauma mit genug Liebe einfach wegzaubern kann.

Das geht nicht. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die es tatsächlich schaffen, ihr Trauma so vollständig zu überwinden, dass es sie im Alltag überhaupt nicht mehr belastet.
Meiner Erfahrung nach kann man nur lernen, damit zu leben - oder sogar gut damit zu leben (was natürlich wieder variiert, je nach Erfahrung).

Das ist ein Punkt, den ich persönlich wichtig fände, aufzuzeigen, gerade in Geschichten über Trauma: Man kann einen Umgang damit finden. Man kann sich aus diesem Sumpf wieder herausarbeiten und damit zu leben lernen - Je nach Charakter, Situation und Umfeld bzw. Unterstützung, mehr oder weniger gut. Es ist Heilung möglich, auch wenn man den Rest seines Lebens mit den Folgen zu leben hat und einen diese immer wieder mal einholen. Das gehört einfach dazu und es ist - ich spreche hier nur mal von mir - illusorisch zu glauben, dass man das zu 100% wegbekommt und nie wieder damit konfrontiert wird. Es wird bis zu einem gewissen Grad immer eine Belastung bleiben - aber eine, mit der es sich gut leben lässt, wenn man es schafft, es aufzuarbeiten und sich selbst trotz seiner "Beeinträchtigungen" oder "Macken" zu akzeptieren und mit diesen zu arbeiten, anstatt sie zu verdrängen oder sich permanent dafür zu verurteilen.
Man muss sie eben in sein neues "Ich" integrieren und dieses trotzdem als liebenswert und wertvoll anerkennen können.

Sehr viel im Trauma hat ja auch mit Schuld, Selbsthass, Minderwertigkeitsgefühlen zu tun und aus der Spirale rauszukommen, ist schwer. Ist alleine besonders schwer, denn schlimmer als das Ereignis an sich, empfinde ich die Einsamkeit und das Gefühl des Abgeschottet seins, die folgen.
"Keiner kann das verstehen", "Ich will/kann andere nicht damit belasten", "Niemand kann/will mir helfen", "Wenn sie wüssten, dass... werden sie mich verurteilen und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen".... etc.
Das ist eine Spirale die sich unendlich in die Tiefe drehen kann und - meiner Erfahrung nach - kommt man da alleine nur sehr schwer bis gar nicht wieder raus, weil es keinerlei positiven Input gibt, der einem das Vertrauen gibt, warum es das wert sein sollte zu vertrauen. Es zu versuchen, sich da wieder hochzuarbeiten. "Positiv" zu sein. Kontakt zu suchen.
Zumal man selbst die Verbindung oft nicht ziehen kann und das eigene Verhalten als "normal" wahrnimmt, obwohl man selbst vielleicht darunter leidet und nicht verstehen kann, warum man so zornig, hilflos, verzweifelt, traurig, verbittert ist und auf manche Situationen mit einer emotionalen Heftigkeit reagiert, die anderen als unangebracht erscheint.


ZitatEs wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.
Deswegen stimme ich dir schon, aber nur bedingt zu, @Andersleser
Ich glaube schon, dass Liebe sehr sehr viel bewirken kann - allerdings haben wir ein oft - meiner Meinung nach - verzerrtes Bild von der Liebe bzw. der romantischen Idee der Liebe, die oft eher auf körperlicher Anziehung und Lust basiert.
Ich rede hingegen von der bedingungslosen Liebe, die nicht zwangsläufig an romantische Beziehung gekoppelt sein muss. Eine Liebe, die dich akzeptiert, wie du bist und die nicht versucht, dich zu verändern, dich zu reparieren, oder dich in ein Bild zu pressen, dem du nicht entsprechen kannst.
Eine Liebe, die dir die Hand reicht, um dir zu helfen aufzustehen, wenn es dich wiedermal mit dem Gesicht in den Dreck wirft und die dir gleichzeitig das Gefühl vermittelt, trotz des würdelosen Abganges und dem Matsch im Gesicht, ein wertvoller Mensch zu sein, der es wert ist, geliebt zu werden.
In so etwas steckt wahnsinnig viel heilende Kraft - ist aber alles andere ls selbstverständlich. Wer will sich schon wirklich mit so jemandem auseinandersetzen? Ihm einfach zuhören und gemeinsam mit ihm den Abgründen des menschlichen Wesens, die sich oft jenseits der anerkannten Realität befinden und gerne verleugnet, verdrängt oder schöngeredet werden, ins Gesicht zu sehen. Ihn akzeptieren, mit all seinen Ecken und Kanten - und dabei die eigenen Grenzen zu wahren, ohne sie dem anderen mitsamt den eigenen Wertvorstellungen überzustülpen?

Klar kann man alleine einen Umgang damit finden. Bleibt einem in vielen Situationen ja auch nichts anderes übrig, wenn es (zumindest gefühlt) keine Schulter gibt, auf die man sich stützen kann. Es ist halt... einsamer. Und ein härterer Pfad, als wenn man tatsächlich Unterstützung bekommt und wenigstens das Gefühl hat, nicht völlig allein auf dieser Welt dazustehen.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Andersleser

#7
Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:22:01

ZitatEs wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.
Deswegen stimme ich dir schon, aber nur bedingt zu, @Andersleser
Ich glaube schon, dass Liebe sehr sehr viel bewirken kann - allerdings haben wir ein oft - meiner Meinung nach - verzerrtes Bild von der Liebe bzw. der romantischen Idee der Liebe, die oft eher auf körperlicher Anziehung und Lust basiert.
Ich rede hingegen von der bedingungslosen Liebe, die nicht zwangsläufig an romantische Beziehung gekoppelt sein muss. Eine Liebe, die dich akzeptiert, wie du bist und die nicht versucht, dich zu verändern, dich zu reparieren, oder dich in ein Bild zu pressen, dem du nicht entsprechen kannst.
Eine Liebe, die dir die Hand reicht, um dir zu helfen aufzustehen, wenn es dich wiedermal mit dem Gesicht in den Dreck wirft und die dir gleichzeitig das Gefühl vermittelt, trotz des würdelosen Abganges und dem Matsch im Gesicht, ein wertvoller Mensch zu sein, der es wert ist, geliebt zu werden.
In so etwas steckt wahnsinnig viel heilende Kraft - ist aber alles andere ls selbstverständlich. Wer will sich schon wirklich mit so jemandem auseinandersetzen? Ihm einfach zuhören und gemeinsam mit ihm den Abgründen des menschlichen Wesens, die sich oft jenseits der anerkannten Realität befinden und gerne verleugnet, verdrängt oder schöngeredet werden, ins Gesicht zu sehen. Ihn akzeptieren, mit all seinen Ecken und Kanten - und dabei die eigenen Grenzen zu wahren, ohne sie dem anderen mitsamt den eigenen Wertvorstellungen überzustülpen?

Klar kann man alleine einen Umgang damit finden. Bleibt einem in vielen Situationen ja auch nichts anderes übrig, wenn es (zumindest gefühlt) keine Schulter gibt, auf die man sich stützen kann. Es ist halt... einsamer. Und ein härterer Pfad, als wenn man tatsächlich Unterstützung bekommt und wenigstens das Gefühl hat, nicht völlig allein auf dieser Welt dazustehen.

@Rhagrim ich glaube da hab ich mich einfach ungeschickt ausgedrückt. 
Dass Liebe (egal welcher Ebene) natürlich helfen kann ist völlig klar. Nur eben nicht ausschließlich und auf die Art wie in Buch und Film - und nicht Allheilmittel und restlos. Dass sie helfen kann, da stimme ich dir auch völlig zu. Das ist was absolut wertvolles. Ich wüsste gar nicht wo ich ohne diese eine Freundschaft stünde, in der wir uns beide so sehr stützen. Das kann unheimlich viel machen und helfen (und irgendwo heilen). Wenn man diesen Menschen hat, wo man einfach alles sagen kann, bei dem man wirklich über alles sprechen kann, wenn es nötig ist. Es ist auch einfach wichtig es rauslassen zu können, es einfach aus sich raus zu kriegen - das kann ja schon reichen um etwas zu erleichtern. Man kann sich da auch einfach auf ganz andere Art fallen lassen und sein, als bei anderen Menschen. Es ist auch einfach eine große Sicherheit, die so jemand geben kann - allein durch das da sein

Sunflower

Ich finde den "Liebe rettet alles"-Trope auch richtig, richtig furchtbar  :D

Ich finde auch, dass Trauma und insbesondere Trauma-Heilung in den Medien (nicht nur Bücher, auch Filme und Serien) oft nicht gut dargestellt wird. Gefühlt gibt es auf der einen Seite die Figuren, die alle möglichen schlimmen Dinge erleben und nie auch nur eine Spur Trauma zeigen, sowas geht mir auch auf die Nerven. Und auf der anderen Seite wird Trauma oft falsch dargestellt, ich habe manchmal das Gefühl, die Autor*innen sitzen da mit einer Checkliste, die sie im Internet gefunden haben, und haken alles nacheinander ab. Flashbacks, check. Albträume, check. Und dann sind die Figuren plötzlich wieder okay. Oder eben durch Liebe geheilt oder sowas  ???

Erst mal finde ich wichtig, dass Trauma nicht objektiv ist. Was bei einer Person traumatisch wirken kann, kann für die andere nur eine schlimme Erfahrung sein, von der sie sich aber relativ schnell erholt. Und es muss nicht immer das Maximum sein - Krieg, exzessive Gewalt, sexueller Missbrauch. Kleinere Erlebnisse können auch traumatisch sein.
Und dann der Heilungsprozess ... zumindest in meiner Erfahrung ist das längst nicht so linear, wie es oft dargestellt wird. Es ist chaotisch, es geht mal auf, dann wieder abwärts, und irgendwie lernt man, damit zu leben. Wie @Rhagrim schreibt, es ist vermutlich nie weg, aber es stört im Alltag nicht mehr ständig. Aber es dauert, man braucht Geduld, irgendwann kann auch mal der Punkt kommen, an dem man denkt: Ich müsste mich doch längst davon erholt haben. Und dann dauert es nochmal eine Weile ;)

Ein Buch, in dem ich Trauma und vor allem den Heilungsprozess wirklich toll dargestellt fand, war "Knochenblumen welken nicht" von Eleanor Bardilac. Die Protagonistin erlebt etwas Traumatisches und hat danach Angst, alleine in der Stadt unterwegs zu sein. Und es ist (zumindest aus meiner Sicht) so gut dargestellt, wie viel Geduld das einfach braucht, wie viele kleine Schritte. Ihr Umfeld ist auch so unterstützend und geduldig. Das kann ich wirklich empfehlen. Das Trauma ist da auch kein Plotelement, sondern einfach eine Sache, die die Protagonistin versucht zu überwinden. Während sie eigentlich andere Sachen zu tun hat.
"Stories are, in one way or another, mirrors. We use them to explain to ourselves how the world works or how it doesn't work. Like mirrors, stories prepare us for the day to come. They distract us from the things in darkness."
- Neil Gaiman, Smoke and Mirrors

Rhagrim

#9
Zitat von: Andersleser am 04. Februar 2022, 09:41:07
ich glaube da hab ich mich einfach ungeschickt ausgedrückt. 
Dass Liebe (egal welcher Ebene) natürlich helfen kann ist völlig klar. Nur eben nicht ausschließlich und auf die Art wie in Buch und Film - und nicht Allheilmittel und restlos. Dass sie helfen kann, da stimme ich dir auch völlig zu. Das ist was absolut wertvolles. Ich wüsste gar nicht wo ich ohne diese eine Freundschaft stünde, in der wir uns beide so sehr stützen. Das kann unheimlich viel machen und helfen (und irgendwo heilen). Wenn man diesen Menschen hat, wo man einfach alles sagen kann, bei dem man wirklich über alles sprechen kann, wenn es nötig ist. Es ist auch einfach wichtig es rauslassen zu können, es einfach aus sich raus zu kriegen - das kann ja schon reichen um etwas zu erleichtern. Man kann sich da auch einfach auf ganz andere Art fallen lassen und sein, als bei anderen Menschen. Es ist auch einfach eine große Sicherheit, die so jemand geben kann - allein durch das da sein
@Andersleser 
Ohja, 100%
Und ich freu mich grad total für dich, dass du so eine Freundschaft hast.  :knuddel: Das ist wirklich so etwas wertvolles.  Geht mir genauso.
Ich glaube, ich wüsste, wo ich stünde... immer noch dieselbe menschenverachtende, zynische Person, die regelmäßig implodiert und den gesamten Frust und Selbsthass an sich selbst auslässt.
Für mich war es ein jahrelanger Weg von dort zu "zähneknirschender Toleranz sich selbst gegenüber" zu "Hilfe, ich bin gut gelaunt und zufrieden, was soll ich anfangen mit diesem Gefühl"  :rofl:


EDIT:
@Sunflower
Zitat
Zitat von: Sunflower am 04. Februar 2022, 09:49:24
Und dann der Heilungsprozess ... zumindest in meiner Erfahrung ist das längst nicht so linear, wie es oft dargestellt wird. Es ist chaotisch, es geht mal auf, dann wieder abwärts, und irgendwie lernt man, damit zu leben. Wie @Rhagrim schreibt, es ist vermutlich nie weg, aber es stört im Alltag nicht mehr ständig. Aber es dauert, man braucht Geduld, irgendwann kann auch mal der Punkt kommen, an dem man denkt: Ich müsste mich doch längst davon erholt haben. Und dann dauert es nochmal eine Weile ;)
Stimmt ja, da hast du völlig Recht. Guter Punkt.
Und es kann auch sein, dass dieser "Ich müsste mich doch längst davon erholt haben" Punkt einfach nie verschwindet, sondern immer präsent bleibt, oder - selbst 15 Jahre später - immer noch schnell getriggert wird. Vielleicht sogar durch Kleinigkeiten, oder ein unbedachtes Wort. Was einem selbst dann schon so lächerlich vorkommt und immer wieder mal für Frustration sorgt.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Soly

Das ist ein wirklich... großes Thema.

Was mir zu Traumen gerade in Fantasy-Geschichten einfällt, ist dass die Dinge, die rein durch den Plot mit den Figuren passieren, meistens Dinge sind, die für echte Menschen hoch traumatisch wären - sie befinden sich in akuter Lebensgefahr, erleben brutale Kämpfe, sehen den Tod geliebter Personen, finden sich teilweise bereits mit dem eigenen Tod ab und werden nur durch Glück gerettet. Eigentlich geht es gar nicht unter Lebensgefahr, um bei den Leser*innen ein Gefühl von Fallhöhe zu erzeugen, und allein das ist schon ein Trauma, das seine Spuren bei Menschen hinterlässt. Trotzdem gibt es genügend Bücher, Filme und Serien, in denen die Protagonist*innen nach all den traumatischen Erlebnissen fröhlich nach Hause hoppeln und feiern, dass sie die Welt gerettet haben, vielleicht noch ein kurzer trauriger Blick für die verstorbenen Gefährt*innen, aber das war es dann auch, weil Happy End. Besonders schlechtes Beispiel in der Richtung ist (wieder mal) Harry Potter - Harry erfährt durch die Dursleys Misshandlungen, die für jedes echte Kind hochgradig schädigend wären, ist aber ein fröhlicher und total aufgeschlossener Junge, und daran ändert sich auch nichts, als er Nahtoderfahrungen durchmacht, von einem unsterblichen bösen Zauberer gejagt wird, und um ihn herum unglaublich viele Freund*innen und geliebte Menschen sterben.

Der Trauma Plot ist dann das gegenteilige Extrem. Ein bisschen, als hätte das Genre gemerkt, dass es Traumen und ihre Wirkung verharmlost und im Bestreben, das besser zu machen, übers Ziel hinausgeschossen ist. Ich fühle mich an der Stelle ein bisschen ertappt, weil ich auch oft zu viel über das Trauma einer Figur nachgedacht habe und darüber vergessen habe, ihr eine Persönlichkeit zu verleihen. Zum Glück nur in Werken, die eh in einer Schublade bleiben dürfen, aber passiert ist es.

Ich finde, zur Darstellung von Traumen und Traumafolgestörungen hat @Rhagrim es perfekt auf den Punkt gebracht, das würde ich gern nochmal dick unterstreichen:
Zitat von: Rhagrim am 03. Februar 2022, 22:12:46
Jeder Mensch hatte ein Leben vor seinem Trauma und hat einen eigenen, einzigartigen Charakter, der durch dieses erschüttert, oder komplett zerstört wird. Die meisten stehen dann erstmal vor diesem Scherbenhaufen und zerbrechen daran, finden einen Weg, damit zurechtzukommen, oder gelangen zu tatsächlicher Heilung.
Wie ein Mensch auf ein traumatisches Ereignis reagiert und welche Folgen es für ihn hat, kann sich - obwohl es viele Symptome gibt, die häufig vorkommen und dadurch als typisch gelten - total unterscheiden.
Je nach dem Charakter des Menschen, der Situation selbst und - nicht zu unterschätzen - seinem Umfeld.

War er vorher schon eher ein "Lone Survivor", der sich nach einem derartigen Ereignis vermutlich komplett zurückzieht, soziale Kontakte abbricht, sich von der Welt zurückzieht und verbittert?
War es eher eine Person, die lösungsorientiert und gemeinsam mit anderen handelt und ihre Ängste und Gefühle offen mitteilt, und dadurch vermutlich bessere Chancen hat, nicht ganz in Verzweiflung abzusacken, als jemand, der alles in sich hineinfrisst?
Gibt es jemanden, der für den Überlebenden da war, ihn unterstützt, oder ihm zumindest zuhört? Familie, Freunde, oder ein Therapeut? Hatte der Überlebende nach seinem traumatischen Erlebnis ein sicheres Umfeld, das ihn auffängt und in dem er lernen kann, wieder Vertrauen zu fassen? Oder war er auf sich allein gestellt, bzw. wurde er dann auch noch Opfer von victim blaming, was sein Vertrauen in die Gesellschaft noch weiter erschüttert und seine Überzeugung stärkt, alleine dazustehen, weil niemand ihm helfen kann/will?

Es gibt unzählige Faktoren, die - außer dem traumatischen Ereignis selbst - Art und Schwere des Traumas selbst beeinflussen können, daher würde ich jeden Charakter, den du schreiben willst, auch als vollständige Person betrachten und all das auch in deine Geschichte miteinbeziehen, um ihn dreidimensional zu machen und ihn damit nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren.
:jau:
Als positives Beispiel fällt mir dazu kein Buch ein, aber ein Film, nämlich Iron Man 3. Gerade das frühe MCU ist zwar normalerweise kein Paradebeispiel für progressives Schreiben, aber dieser Film nimmt die Tatsache ernst, dass Tony Stark in der Schlacht von New York am Ende von The Avengers erstens der einzige Mensch ohne langjährige Kampferfahrung durch Militär/Geheimdienst war und zweitens nur durch reines Glück überlebt hat. Stark leidet unter PTBS, und der Film macht einen echt guten Job darin, die Symptome dieses Störungsbildes darzustellen und gleichzeitig ihn als Figur und Person zu zeigen. Die PTBS ist sein hauptsächlicher Treiber, aber trotzdem nicht alles, was ihn ausmacht.
Das Einzige, was man Iron Man 3 vorwerfen muss, ist seine Darstellung der "Heilung" von PTBS. Irgendwann verschwinden die Symptome einfach und kommen nicht wieder. Das ist schade, weil ein solches Trauma einen Menschen eigentlich nie so richtig verlässt und für immer zeichnet.

Ich denke, wir kommen um das Thema als Autor*innen nicht herum, denn - wie oben geschrieben - so ziemlich alles, was wir schreiben, ist voller traumatischer Erlebnisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für eine Traumafolgestörung. Wir sind dann in der Verantwortung, uns zu überlegen, welche Folgen das jeweilige Ereignis für die Figur haben wird - wie anfällig ist sie grundsätzlich für eine Traumafolgestörung, welche Ressourcen (Freund*innen, Familie, eigenes Umgehen damit) hat sie?
Auch ein Verkehrsunfall ohne Personenschaden kann Traumafolgesymptome nach sich ziehen, wenn die betreffende Person vorbelastet ist. Andersherum kann ein Leben voller Unfallsituationen (bei einer Unfallsanitäter*in) folgenlos bleiben, wenn die betreffende Person gesunde Strategien für den Umgang damit und ein unterstützendes soziales Umfeld hat.
Ich würde behaupten, an der Stelle haben wir schon einiges an Spielraum, um den Leser*innen realistische Darstellungen nahezubringen. Wenn wir die Figur selbst, ihre Persönlichkeit und ihre Copingstrategien, und ihr Umfeld darstellen, dann können wir auch die enstprechenden Folgen eines oder mehrerer Traumen nachvollziehbar darstellen, so dass die Leser*innen es annehmen.


EDIT: Hat sich teilweise überschnitten.
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Andersleser

Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:51:38

Ohja, 100%
Und ich freu mich grad total für dich, dass du so eine Freundschaft hast.  :knuddel: Das ist wirklich so etwas wertvolles.  Geht mir genauso.

Danke, das Freuen gebe ich direkt zurück  :knuddel:

Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:51:38
Für mich war es ein jahrelanger Weg von dort zu "zähneknirschender Toleranz sich selbst gegenüber" zu "Hilfe, ich bin gut gelaunt und zufrieden, was soll ich anfangen mit diesem Gefühl"  :rofl:
Ich liebe ja deinen letzten Satz gerade, bringt es aber so auf den Punkt :rofl:

Maubel

Zitat von: Solmorn am 04. Februar 2022, 10:42:50
Was mir zu Traumen gerade in Fantasy-Geschichten einfällt, ist dass die Dinge, die rein durch den Plot mit den Figuren passieren, meistens Dinge sind, die für echte Menschen hoch traumatisch wären - sie befinden sich in akuter Lebensgefahr, erleben brutale Kämpfe, sehen den Tod geliebter Personen, finden sich teilweise bereits mit dem eigenen Tod ab und werden nur durch Glück gerettet. Eigentlich geht es gar nicht unter Lebensgefahr, um bei den Leser*innen ein Gefühl von Fallhöhe zu erzeugen, und allein das ist schon ein Trauma, das seine Spuren bei Menschen hinterlässt. Trotzdem gibt es genügend Bücher, Filme und Serien, in denen die Protagonist*innen nach all den traumatischen Erlebnissen fröhlich nach Hause hoppeln und feiern, dass sie die Welt gerettet haben, vielleicht noch ein kurzer trauriger Blick für die verstorbenen Gefährt*innen, aber das war es dann auch, weil Happy End. Besonders schlechtes Beispiel in der Richtung ist (wieder mal) Harry Potter - Harry erfährt durch die Dursleys Misshandlungen, die für jedes echte Kind hochgradig schädigend wären, ist aber ein fröhlicher und total aufgeschlossener Junge, und daran ändert sich auch nichts, als er Nahtoderfahrungen durchmacht, von einem unsterblichen bösen Zauberer gejagt wird, und um ihn herum unglaublich viele Freund*innen und geliebte Menschen sterben.

Das, was du beschreibst, war auch für mich vor ein paar Jahren ein Grund mich mehr mit Mental Health zu beschäftigen. Es gibt so viele traumatische Erlebnisse in der Fantasy und sie treiben oft nur den Plot voran. z.B. wenn gleich am Anfang das ganze Dorf niedergemetzelt wird und quasi alle Bezugspersonen sterben. Und das ist dann nur der Startpunkt für den Protagonisten, in die Welt zu ziehen. Das höchste der Gefühle ist dann ein Rachegedanke, der den Protagonisten antreibt. Das wollte und will ich in meinen Geschichten anders machen. Nicht, dass jetzt alle Charakter immer schwer traumatisiert sind, aber dass die Ereignisse auch ihre Spuren hinterlassen (und eben teilweise unterschiedliche Spuren bei unterschiedlichen Charakteren).

Wo ich das Trauma sehr schön behandelt fand, war im Lied der Krähen. Da gibt es auch zum Ende hin keine wunderliche Heilung, sondern ein vergleichsweise kleiner Schritt (Händchenhalten), der für die zwei betroffenen Charaktere aber monumental ist. Das hat mir gut gefallen, weil am Ende deshalb eben nicht alles weg war. Auch das bittersüße Ende von der Eisernen Turm Trilogie bricht zumindest mal mit dem "Klischee", dass der Tod wichtiger Nebenfiguren nur kurz traurig bedacht wird, sondern begleitet Leser und Charaktere dann durchweg bis zum Ende (ich habe vom Zeitpunkt des Todes bis zum Ende des Buches durchgeheult und das waren noch 100-150 Seiten oder so...). So dramatisch muss es natürlich nicht sein, denn wie schon gesagt, schlägt es auch oft in die andere Richtung aus, aber ich fände es wichtig, auch in der Fantasy die mentale Gesundheit im Blick zu behalten, wo doch wirklich so viel extreme Dinge passieren.

Klecks

#13
Bei mir ist in den letzten zwei, drei Jahren der Eindruck entstanden, dass viel, viel öfter und offener über traumatische Ereignisse geschrieben wird, vor allem im Bereich romantische New Adult-Romane. Das gab es einen Wandel vom schüchternen Mädchen, das noch nichts Aufregendes im Leben erlebt hat, bis es den geheimnisvollen Jungen/MannTM kennenlernt, hin zu jungen Frauen, die eine Vergangenheit haben, sowohl sexuell als auch in Bezug auf prägende Ereignisse. Anfangs fand ich das toll. Ich habe selber mehr als ein Trauma zu bearbeiten und fand es gut und wichtig, dass die Romane realitätsnäher werden, als sie vorher waren (meiner Meinung nach).

Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass es "in" und "cool" geworden ist, seinen Protagonisten schwerwiegende Traumata mitzugeben, dass es ohne die gar nicht mehr geht, und das wiederum stört mich enorm. So als wären die Traumata persönlichkeitsstiftend. Klar verändern und prägen sie einen, aber Protagonisten nur auf ihren Traumata aufzubauen, geht mir als jemandem mit diversen Traumata gehörig gegen den Strich. Beispiel: Meine Mutter hat sich 2019 das Leben genommen. Wenn Suizid als persönlichkeitsstiftendes Trauma herangezogen wird, das einer Figur nur deshalb verpasst wird, um ihre/seine Persönlichkeit zu rechtfertigen, egal in welchem Sinne, dann finde ich das total daneben. Nicht wegen der Sache an sich, sondern weil mein persönlicher Eindruck ist, dass die Autor:innen in aller Regel nicht genügend recherchieren, was für eine Auswirkungen das jeweilige Trauma tatsächlich hat. Aber was der Suizid einer nahestehenden Personen mit den Hinterbliebenen macht - wie meine Mutter mich für mein ganzes Leben schwerst traumatisiert und verletzt hat -, wird sowieso viel zu wenig behandelt. Und ist nur ein Thema von vielen, bei denen der "Rattenschwanz" eines traumatischen Ereignisses einfach unter den Tisch gefallen lassen wird, sowohl im echten Leben als auch in der Literatur.

Und ich sehe das by the way auch als grundlegendes Problem der Fantasy. Je nach Subgenre herrschen Mord, Vergewaltigung, Folter, Totschlag und was weiß ich nicht alles, aber irgendwie gehen meistens alle ganz cool damit um. Das versuche ich in meiner Fantasy-Serie aktiv anders zu gestalten. Wenn meinen Figuren da etwas widerfährt, recherchiere ich, was das für Auswirkungen auf ihre Mental Health haben könnte, und lasse sie nicht happy herumspringen, nachdem sie mitangesehen haben, wie Leute abgeschlachtet wurden. Da braucht es meines Erachtens ein großes Umdenken in der Fantasy.

Mondfräulein

Ich finde eure Antworten bisher wirklich spannend!

Zitat von: KaPunkt am 03. Februar 2022, 19:09:22
Und jetzt denke ich weiter darüber nach, was ich warum gerade mit meiner aktuellen Hauptfigur und dem Plot mache.

Genauso ging es mir nach dem Lesen des Artikels. Ich habe erstmal alles hinterfragt, was ich bisher geschrieben habe. Das war auch der Grund, warum ich den Thread eröffnen wollte - nicht nur, um einfach drüber zu diskutieren, sondern auch, um mich selbst zu hinterfragen.

Deinen Vergleich mit den Vasen finde ich wirklich großartig. Das drückt genau das aus, was bei vielen Figuren schiefläuft. Um die Risse zu sehen, muss erstmal eine Vase da sein, die zerbrechen kann.

@Rhagrim: Du sprichst viele wichtige Punkte an, aber einen will ich nochmal unterstreichen: Menschen gehen unterschiedlich mit Trauma um. Wer ein Mensch vor dem Trauma war und welches Umfeld er*sie hatte, hat auch Einfluss darauf, wie er*sie mit dem Trauma umgeht. Generell ist es ein spannendes Thema, warum manche Menschen traumatische Ereignisse scheinbar wegstecken oder noch daraus wachsen und andere daran zerbrechen (Stichwort Resilienzforschung).

@Alana: Gerade New Adult als Genre hat hier finde ich viele Probleme. Die Liebesgeschichte steht hier im Vordergrund, aber das bedeutet auch, dass Trauma und psychische Störungen oft nur eingestreut werden, um als Hindernis für die Liebesgeschichte zu dienen und nicht als eigenständige Themen behandelt werden. Bestimmt gibt es hier auch positive Beispiele, aber insgesamt ist das ein Problem, das sich durch das ganze Genre zieht. Da spielt auch "Liebe heilt alle Wunden" wieder mit rein.

@Manouche: Ich glaube auch, dass die Darstellung von Trauma nicht an sich problematisch ist, sondern auch viel gutes bewirken kann. Ich würde auf Trauma und dramatische Hintergrundgeschichten in meinen Büchern auch nie verzichten wollen wenn ich ehrlich bin.

Zum Thema Trauma und Liebe: Ich verstehe glaube ich, was @Andersleser meint. Es gibt zu viele Geschichten, in denen das Wundermittel für die Traumabewältigung eine neue Liebe ist und so funktioniert das nicht. Natürlich kann es sehr helfen, wenn man jemanden an seiner Seite hat, der einem bei der Verarbeitung hilft, aber so sehr das auch helfen kann, kann es alles nur noch schlimmer machen. Manche Menschen mit psychischen Problemen begeben sich in ihrer Beziehung in eine Art Abhängigkeit, in der es ihnen zwar besser geht, das psychische Befinden aber alleine vom Partner abhängt. Das ist für den Partner eine riesige Last, genauso aber für die Beziehung. Und wenn die Beziehung zerbricht, entweder daran oder durch andere Umstände, dann macht das große Probleme. Oder aber die Beziehung wird nur noch durch diese Abhängigkeit zusammengehalten. Manche nutzen so etwas auch aus.

@Maubel hat ja schon Das Lied der Krähen erwähnt und das Buch ist tatsächlich eines meiner liebsten Beispiele dafür, wie man Trauma gut darstellen kann, denn das Buch macht das einfach großartig. Zwei der Figuren, die sich ineinander verlieben, sind beide stark traumatisiert. Die Liebe hilft ihnen dabei, ihr Trauma zu überwinden, aber anders, als das viele Autor*innen angehen: Das Trauma steht ihrer Beziehung im Weg. Es wird ganz deutlich, dass der Grund dafür, dass einer der Protagonisten nicht mit der Frau zusammen sein kann, die er liebt, das Trauma ist, an dem er nicht arbeiten will, weil das für ihn bedeuten würde, sich seine Schwäche einzugestehen. Die Liebe hilft ihm, daran zu arbeiten und kleine Schritte in die richtige Richtung zu machen, weil er sie nicht haben kann, wenn er nicht daran arbeitet. Sie motiviert ihn. Sie zwingt ihn, denn entweder, er stellt sich seinem Trauma, oder er kann sie halt nicht haben. Und realistischerweise funktioniert das eben meistens so: das Trauma steht der Liebe im Weg. Das Trauma macht die Beziehung kompliziert. Sich zu verlieben alleine heilt nicht automatisch jedes Trauma. Insofern kann ich mit "Ich muss mich verlieben, um mein Trauma zu überwinden" nicht viel anfangen, wohl aber mit "Ich muss an meinem Trauma arbeiten, damit meine Beziehung funktionieren kann". Aber das muss die Figur ja vielleicht auch nicht alleine tun. Partner und Freunde können dabei unterstützen. Nur die Arbeit können sie einem nicht abnehmen.

Ansonsten hat mir an Das Lied der Krähen auch genau das so gut gefallen, was @Maubel schon angesprochen hat: das Ende des zweiten Buches zeigt keine vollständige Heilung, sondern einen kleinen Schritt. Die Bücher nehmen sich Zeit, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen und zu zeigen, welche Auswirkungen es auf die Figuren hat. Der Weg ist nicht geradlinig, sondern auch mit Rückschritten verbunden. Aber man muss manchmal auch nicht den ganzen Heilungsprozess zeigen. Denn wie @Sonnenblumenfee schon sagt, der Heilungsprozess dauert oft viel länger, als unsere Bücher spielen.

Auch erstaunlich realistisch fand ich Die Tribute von Panem. Man merkt stark, dass die Ereignisse die Figuren mitnehmen und jeder geht auf andere Weise damit um. So eine realistische Darstellung von Trauma war um die Zeit herum zumindest meinem Empfinden nach nicht üblich und die anderen YA-Dystopien, die daraufhin erschienen sind, haben das auch nicht so gut umgesetzt wie Panem (zumindest die, die ich gelesen habe).

Was mir auch noch einfällt ist der Zusammenhang zwischen Trauma und empfundener Stärke. Ich habe das Gefühl, manchmal herrscht das Vorurteil, dass innere Stärke dazu führt, dass man traumatische Ereignisse einfach so wegsteckt, während andere daran zerbrechen. Und aus irgendeinem Grund fiel mir das ein, als ich über Trauma in den Harry Potter-Romanen nachgedacht habe. Das ist ein übles Klischee, das absolut niemandem hilft. Aber ich bin da ganz bei @Solmorn, Harry Potter hat da wirklich keinen guten Job gemacht.

Einen Punkt, den ich noch wichtig finde: Das Thema ist eng mit der Darstellung von psychischen Störungen verlinkt. Trauma kann Katalysator oder Auslöser für bestimmte psychische Störungen sein, aber die einzigen psychischen Störungen, die es ohne belastendes Ereignis nicht geben kann, sind die posttraumatische Belastungsstörung oder die Anpassungsstörung. Die Ursachen für alle psychischen Störungen sind komplex und lassen sich selbst bei diesen Störungen nicht auf einen einzelnen Faktor herunterbrechen (nach einem traumatischen Ereignis entwickeln nicht alle Menschen automatisch eine PTBS und die Symptomatik wird auch nicht immer dieselbe sein, wie lassen sich diese Unterschiede erklären?). Besonders wenn es um Depressionen geht, machen es sich hier viele zu einfach. Vor einigen Jahren habe ich ein Rezensionsvideo über ein Buch gesehen, in dem es um Depressionen geht. Darin fiel der Satz "Es wird erst nicht so genau erklärt, warum sie Depressionen hat, bis man das erfährt, vergeht einige Zeit" und das hat mich ziemlich wütend gemacht. So funktionieren Depressionen nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass psychische Probleme im Trauma-Plot nur als spürbare Auswirkungen der tragischen Hintergrundgeschichte behandelt werden, als Andeutungen, bis irgendwann der große Twist kommt und die Backstory enthüllt wird. Bei psychischen Störungen gibt es nie einfache Erklärungen.

Gerade in Bezug auf Fantasy ist glaube ich der Punkt, den @Solmorn und @Klecks ansprechen wichtig, zumindest um mal darüber nachzudenken: Wir schreiben über Ereignisse, die den wenigsten von uns je im Ansatz widerfahren werden. Psychologisch gesehen wird vermutet, dass das auch ein Reiz ist, den Geschichten ausmachen: Wir begeben uns in extreme Situationen, ohne je wirklich in Gefahr zu sein. Die meisten Plots funktionieren nicht, wenn nicht irgendwann wirklich etwas auf dem Spiel steht. Weiter bin ich da in meinen Gedanken aber auch noch nicht. Das Genre hat lange ignoriert, welche Folgen so etwas auf die Psyche einer Person hat, aber muss jeder unserer Protagonisten eine PTBS entwickeln? Im echten Leben funktioniert das auch nicht so, manche Menschen können mit denselben Ereignissen sehr viel besser umgehen als andere. Hundert Menschen, die dasselbe traumatische Ereignis durchleben, werden nicht alle eine PTBS entwickeln. Einige aber schon. Gerade nach großen Kriegen und dann stellt sich die Frage, wie in unseren Fantasy-Welten mit so etwas umgegangen wird.

Ich lasse nochmal einen Artikel da, den ich gefunden habe, denn der Umgang mit PTBS in der Vergangenheit kann eventuell interessant sein, wenn wir darüber nachdenken, wie in unserer Fantasy-Welt mit so etwas umgegangen wird: https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2020/06/geschichte-der-ptbs-von-der-kriegsneurose-zur-traumadiagnose