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Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?

Begonnen von Lothen, 27. August 2018, 14:48:55

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Lothen

Hallo ihr Lieben,

ich weiß, wir haben seeehr viele Threads zum Thema Erzählperspektive, ich möchte aber gerne einen Aspekt davon herausgreifen: den unzuverlässigen Erzähler (oder Erzählerin).

Es gibt ja sehr viele Varianten dieses Stilmittels, aber alle haben eines gemeinsam: Die Leser bekommen vom Erzähler der Geschichte (bzw. dem Perspektivträger) eine Geschichte vermittelt, die nicht der Realität entspricht. Ein klassisches Beispiel wäre eine Traumsequenz oder Halluzination, bei der der Leser zunächst glaubt, das Geträumte würde wirklich passieren, bis es aufgelöst wird.

Eine Version ist mir jetzt schon einige Male in Thrillern untergekommen und ich stelle immer wieder fest, dass sie mich massiv stört. Dabei handelt es sich um unzuverlässiges Erzählen, um den Leser bewusst zu täuschen oder ihm Fakten vorzuenthalten.

In meinem aktuellen Buch gibt es zum Beispiel eine Szene am Anfang des Romans, in dem sich die Protagonistin (eine Ich-Erzählerin, Präsens) mit einigen Arbeitskollegen trifft. Es wird suggeriert, dass einer der Kollegen ein Auge auf sie geworfen hat, sie ihn aber nicht beachtet. Etwa 200 Seiten später wird in einer Rückblende aufgelöst, dass die Protagonistin mit dem Kollegen eine Beziehung hatte. In der Situation gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, trotz Ich-Erzählerin (die ja weiß, dass sie diese Beziehung hat) wurde dieser Fakt bewusst ausgeklammert. Ich kann nachvollziehen, warum man diesen Kniff einsetzt (dramaturgisch betrachtet), er stört mich aber massiv, denn als Leserin fühle ich mich dabei an der Nase herumgeführt, und zwar nicht auf eine geschickte Art und Weise. In Filmen stört mich das witzigerweise nicht, da gibt es aber auch selten eine/n manifenste/n Erzähler/in, in deren Perspektive ich mich bewege. In Büchern erwarte ich dagegen schon, dass ein/e Ich-Erzähler/in den Leser nicht bewusst täuscht, außer es gibt einen Rezipienten, dem sie die Geschichte erzählt (eine Rahmenhandlung, quasi).

Wie steht ihr dazu? Mögt ihr solche Twists? Habt ihr Beispiele, in denen sie gut umgesetzt worden sind? Ich hadere noch sehr damit und bin unschlüssig, ob ich selber damit arbeiten möchte oder lieber nicht ...

Liebe Grüße,
Lothen

Malinche

Grundsätzlich mag ich die Möglichkeit, die der unzuverlässige Erzähler bietet, sehr, auch wenn ich bis jetzt kaum selbst damit gearbeitet habe. Ich sehe aber auch genau dieses Risiko, dass die Leser sich an der Nase herumgeführt fühlen - ich denke, unzuverlässiges Erzählen ist ein Stilmittel, das man gut beherrschen und umsetzen können muss, damit es wirkt.

Bei dem von dir genannten Beispiel würde ich mich vermutlich auch veräppelt fühlen, es sei denn, die Protagonistin ist charakterlich so angelegt, dass dieses Verdrängen/Ausklammern richtig Sinn ergibt. Oder eben wirklich einen Mehrwert für den Plot liefert. Gerade bei einem Ich-Erzähler kann das schon sehr reizvoll sein, aber wie gesagt, ich finde es sehr herausfordernd, es dann auch wirklich stimmig und souverän umzusetzen. Und überlege gerade, ob mir objektive Indikatoren dafür einfallen.  :hmmm:

Wo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben ...

Eine Geschichte, wo ich den unzuverlässigen Erzähler aber richtig genial umgesetzt finde, ist Jorge Luis Borges' "Mann von der rosa Ecke" (boah, klingt der Titel auf Deutsch bescheuert).

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Allerdings ist das auch nur eine Kurzgeschichte (und Borges selbst fand sie später auch gar nicht mehr so gut), wo dieser Twist im Prinzip die Pointe darstellt und die halt sehr gut über diesen finalen "WTF! Jetzt ergibt alles Sinn, aber anders als vorher"-Moment funktioniert. Im Roman ist das noch mal schwieriger, finde ich.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Alana

#2
Wenn es gut gemacht ist, hat der Ich-Erzähler gerade keinen Grund, über diese Dinge nachzudenken oder man wechselt in eine andere Perspektive, um nicht im Kopf der Figur zu sein, wenn sie diese Gedanken haben müsste. Ich setze das selbst gerne ein, aber es ist natürlich schwierig. Man muss es eben so hinbekommen, dass das Vorenthalten natürlich aus der Figur entsteht und nicht forciert wirkt. Genau das ist aber der Vorteil der Ich-Perspektive, denn man denkt eben nicht jedesmal über Dinge nach, die für einen selbstverständlich sind. Mich stören daher in der Ich-Perspektive weniger die bewussten Auslassungen, sondern eher exzessive Erklärbärszenen, am besten noch über die eigene Haarfarbe etc., weil die total unnatürlich sind. Mit einem Ich-Erzähler sollte und kann man einen extrem direkten Einstieg machen, um einen Exposition-lastigen Anfang zu vermeiden.
Alhambrana

Lothen

#3
Zitat von: Malinche am 27. August 2018, 15:03:39
Wo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben ...
Genau, das gibt meine Einschätzung perfekt wieder. In Thrillern ist es ja ähnlich, als LeserIn gehe ich davon aus, dass ich eine Chance habe, die Antwort zu finden, auch wenn sie gut versteckt ist. Wenn mir essentielle Informationen einfach vorenthalten werden, obwohl sie da sind, finde ich das fies.

Die Kurzgeschichte klingt super, in so kleinem Rahmen finde ich Twists dieser Art echt spannend. Ich glaube, mein Problem ist wirklich dieses Gefühl, "ums Miträtseln gebracht zu werden". ;)

Zitat von: AlanaMan muss es eben so hinbekommen, dass das Vorenthalten natürlich aus der Figur entsteht und nicht forciert wirkt. Genau das ist aber der Vorteil der Ich-Perspektive, denn man denkt eben nicht jedesmal über Dinge nach, die für einen selbstverständlich sind.
Das sehe ich auch so. Unnötige Details können gerne weg. In dem oben genannten Beispiel gibt es halt eine Szene, in der sich der Freund der Protagonistin (von dem man zu dem Zeitpunkt nicht weiß, dass es ihr Freund ist) zum ersten Mal ihrem kleinen Sohn vorstellt. Da müsste ja so einiges im Kopf der Prota vor sich gehen, sie ist sonst auch sehr emotional und denkt viel über sich und ihre Umgebung nach. Genau das wird dem Leser aber vorenthalten. Da tue ich mir schwer, das als natürlich oder menschlich oder als Aspekt ihrer Persönlichkeit einzustufen.

Tintenteufel

Also ein mir sehr teures Beispiel ist der erste Band der Diebesreihe von Megan Whalen Turner: "The Thief". Ich kann den Roman sehr empfehlen und alle weiteren auch, ein wunderbares Beispiel für Fantasy ohne klassische Fantasy Elemente. Und sehr witzig. Den Wikipediaartikel würde ich aber meiden, der spoilert.

Der erste Band ist auch Sicht des namensgebenden Diebes geschrieben, in Ich-Perspektive und enthält eine ganze Reihe an Twists, die durch die Perspektive verschleiert werden.
Was den Roman in meinen Augen von vielen anderen unterscheidet ist, dass er nicht in die von Malinche angesprochene Falle tappt. Es werden dem Leser keinerlei Informationen vorenthalten, es wird nicht am Ende ein Überraschungstwist aus dem Hut gezaubert, von dem nur der Erzähler wissen konnte, den er aber verschwiegen hat. Viel mehr werden vom Erzähler alle Informationsstückchen mitgeteilt und ausgebreitet, er lenkt einen nur sehr gekonnt auf die falsche Spur.

So oder so ähnlich sollte ein unzuverlässiger Erzähler aussehen. Er sollte mich nicht anlügen, ohne wenigstens seine Lüge zu thematisieren. Ansonsten verfällt für mich da irgendwie der Sinn der Sache und es wird zu einem Trick, um am Ende einen Plottwist hervor zu zaubern.

Gerade in den Thrillern, die du ja angesprochen hast, Lothen, finde ich das bisweilen furchtbar. In Ms. Highsmiths Essay dazu ("Plotting and Writing Suspense Fiction") geht sie auch auf solche Sachen ein - und schiebt das in eine Schublade mit eher billigen Tricks und Kniffen, die Spannung nur durch einen Betrug am Leser schaffen. Also beispielsweise eben die Einführung irgendeines obskuren Gifts oder biologischen Fakts, das doch X als Mörder entlarvt, obwohl alles andere das ganze Buch über auf Y hindeutet.

Shedzyala

Ich mag den unzuverlässigen Erzähler sehr – aber nur, wenn ich auch eine Chance habe, die Wahrheit selbst herauszufinden. Es ist also vollkommen in Ordnung, wenn der Erzähler ein Detail nicht als nicht wichtig erachtet, aber ich als Leserin würde dieses Detail doch ganz gern wissen, um mir selbst ein Urteil zu bilden.

Da ich sehr häufig nah an den Figuren schreibe, selbst wenn es nicht die Ich-Perspektive ist, nutze ich dieses Mittel zwangsläufig. In Sternenbrand zB war die Wahrheit immer irgendwo zwischen Jonas' und Zenys Perspektive, die beiden waren die beiden Extreme und Leser*innen müssen eben selbst schauen, was stimmt und wo wieder einer übertrieben hat, weil er den anderen nicht mag. Den Rückmeldungen zufolge kam das auch gut an ;)

Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors, wo eine der Figuren ständige etwas gedacht hat wie "Oh nein, ich muss aufpassen, dass sie mein Geheimnis nicht herausfinden!" oder "Schnell den Schal drum legen, sonst sehen sie es". Natürlich kam erst ganz zum Schluss heraus, was es denn ist, aber bis dahin war ich schon stinksauer und fühlte mich verarscht. Denn sorry, das ist für mich handwerkliche Faulheit, da jemand einfach keine Lust, es besser zu machen.
Wenn sie dich hängen wollen, bitte um ein Glas Wasser. Man weiß nie, was passiert, ehe sie es bringen ...
– Andrzej Sapkowski, Die Dame vom See

Lothen

#6
Zitat von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:27:40Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors
Ahhh, unser gemeinsamer Lieblings-Roman, ich erinnere mich. ;D

Ich sehe da einen entscheidenden Unterschied, ob Figuren Aspekte ihrer Umwelt unterschiedlich interpretieren und dem Leser überlassen ist, wem er nun glaubt (wie es bei dir bei Sternenbrand war), oder ob sie einfach Fakten über sich oder ihre Umwelt nicht preisgeben. Ersteres finde ich auch spannend, da geht es ja auch um Blickwinkel, Psychologie, individuelle Wahrnehmung etc. Aber wenn mir Prota-Chan einfach mal Dinge aus ihrer Vita verschweigt, obwohl sie offensichtlich sind, stört mich das.

Zitat von: Tintenteufel am 27. August 2018, 15:22:08
Viel mehr werden vom Erzähler alle Informationsstückchen mitgeteilt und ausgebreitet, er lenkt einen nur sehr gekonnt auf die falsche Spur.
So oder so ähnlich sollte ein unzuverlässiger Erzähler aussehen. Er sollte mich nicht anlügen, ohne wenigstens seine Lüge zu thematisieren. Ansonsten verfällt für mich da irgendwie der Sinn der Sache und es wird zu einem Trick, um am Ende einen Plottwist hervor zu zaubern.
Das klingt wiederum spannend. Wie du sagst: Entscheidend ist, ob alle Infos da sind, nicht, wie sie interpretiert werden. Interpretation kann ich ja dem Leser überlassen, aber die Information selbst sollte irgendwo erkennbar sein.

Die gleiche Autorin, von der mein Negativ-Beispiel stammt, hat das in einem anderen Thriller sehr gut gelöst: Da gibt es ein scheinbar belangloses Gespräch im Mittelteil, das wichtige Informationen zur Auflösung enthält.  Das Gespräch ist da, die Info auch, nur in den Gesamtzusammenhang einsetzen muss man sie als LeserIn selber. Das gefiel mir gut.

Shedzyala

Zitat von: Lothen am 27. August 2018, 15:35:25
Zitat von: Shedzyala am 27. August 2018, 15:27:40Wo ich dieses Mittel gar nicht mochte, war in einem Fantasyroman eines sehr bekannten deutschen Autors
Ahhh, unser gemeinsamer Lieblings-Roman, ich erinnere mich. ;D

Ja, genau der ;D

Das nicht Nichtpreisgeben von Infos hat seinen Reiz, muss aber eben verdammt gut gemacht sein. Wenn eine Figur aus ihrer Rolle fällt, weil sie jetzt nicht an etwas denkt, wo es doch für sie logisch wäre, ist das schlecht. Sowas kann ich auch überhaupt nicht leiden, vor allem, weil es vermeidbar ist. Möchte man eine Info nicht in der Situation preisgeben, in der sie eigentlich logischerweise die Gedanken der Handelnden dominieren müsste, denkt sie eben daran, dass sie da jetzt nicht dran denken möchte und sich konzentrieren muss. Zu lange sollte man dann aber nicht damit warten, was sie denn da emotional aufgewühlt hat. Zumindest würde ich als Leserin so eine Lösung akzeptieren können.
Wenn sie dich hängen wollen, bitte um ein Glas Wasser. Man weiß nie, was passiert, ehe sie es bringen ...
– Andrzej Sapkowski, Die Dame vom See

Carolina

Ich finde das Thema sehr interessant, würde mich aber selbst nicht dran wagen. Ich erzähle immer sehr nah an meinen Figuren. Würde ich dem Leser Infos vorenthalten, würde ich sie glaube ich verprellen. Lieber lasse ich gemeinsam mit dem Leser die Rätsel und Geheimnisse aufdecken, das finde ich ehrlicher und authentischer.

Falls jemand von euch ein wirklich gutes Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler kennt, der die Leser nicht verprellt, sehe ich mir das jedoch gerne an. Man lernt ja bekanntlich nie aus.

Fianna

Gerade Agatha Christie hat doch ein sehr gutes Beispiel für einen unaufrichtigen Erzähler. Das war lange Zeit ein Paradebeispiel, ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass es kommt:
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.

Trippelschritt

Ich mag keinen unzuverlässigen Erzähler. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein gut erzähltes Buch kenne. Und gar nicht mag ich wichtige Fakten, die mir vorenthalten werden und mich am Ende wie einen Deppen dastehen lassen. Dann hält der Autor den Vertrag mit dem Leser nicht ein.

Aber ich mag unzuverlässige Figuren, von denen ich weiß, dass sie eventuell aus persönlichen Gründen lügen. Dann kann ich überlegen, ob ich ihm glaube oder nicht.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Alana

#11
Jeder personale Erzähler, egal ob Ich-Perspektive oder 3. Person, mit Backstory ist in meinen Augen ein unzuverlässiger Erzähler. Eigentlich kommt das also in so ziemlich jedem Liebesroman vor.

Zitat"Oh nein, ich muss aufpassen, dass sie mein Geheimnis nicht herausfinden!"

Sowas ist natürlich extrem cheesy. Man kann das einmal machen, um Neugier zu wecken, aber nicht ständig und dann muss man auch aufpassen, dass man es so formuliert, dass es beim Leser nicht zu Augenrollen führt.

@Fiannas Spoiler: Sowas finde ich extrem cool.

Es ist auf jeden Fall nicht leicht, das richtig zu machen, ich habe das gerade in meinem aktuellen Roman, wobei ich eben immer versuche, es so zu erzählen, dass die Figuren einfach nicht über diese Dinge nachdenken oder reden, weil sie ihnen eh völlig klar sind, oder sie es tatsächlich in dem Moment aktiv verdrängen. Auch das muss man natürlich dosiert einsetzen. Ich hoffe, es gelingt mir.  ;D

Zitat"Schnell den Schal drum legen, sonst sehen sie es"

Das hingegen finde ich einfach nur albern. Aber ich denke, sowas kann man auch machen, wenn man es eben gut macht und etwas Zeit in die Wahrnehmung der Figur steckt.

ZitatDas sehe ich auch so. Unnötige Details können gerne weg.

Nicht nur unnötige Details, man kann schon auch richtig große Sachen weglassen, weil es eben wirklich völlig natürlich ist, dass man nicht immer über sowas nachdenkt und vieles kann man auch darüber lösen, dass man die Figur nicht denken, sondern nur wahrnehmen und handeln lässt. Das ist sowieso schöner, finde ich jedenfalls, weil es showed und nicht tellt, und gerade die Ich-Perspektive nutze ich gern dazu, so showy wie möglich zu schreiben. Beispiel: Wenn ich meinen Ex-Mann jeden Tag sehe, dann denke ich eben nicht jedesmal, wenn er mir begegnet, darüber nach, dass er mein Ex-Mann ist. Ich denke vielleicht darüber nach, dass er ein Arschloch ist.  ;D Oder mir fällt die Kaffeetasse runter, wenn er mir nach langer Zeit wieder begegnet. Dann gebe ich dem Leser eine Info, sage aber noch nicht, was Sache ist. Sowas hätte man z.B. auch in der von dir beschriebene Szene evtl. machen können. Allerdings stellt sich mir bei so einem Twist auch die Frage, wie nötig sowas wirklich für die Story ist und ob man die Story nicht auf besseren Twists aufbauen könnte.

ZitatWo ich mich immer massiv geärgert habe, waren zahlreiche Agatha-Christie-Krimis, wo Poirot oder wer auch immer die Fälle gerade aufgeklärt hat am Ende ihre große Enthüllungsrede halten und mit Details aufwarten, die dem Leser bislang vorenthalten wurden. Das hat mir ordentlich die Freude an diesen Büchern verlitten, weil es sich irgendwie nach Schummeln anfühlte - egal, wie gut man als Leser aufpasste und mitknobelte, man hatte ja doch nie die Chance, den gleichen Informationsstand wie der Ermittler zu haben


Sowas finde ich auch extrem ärgerlich und nervig. Ich denke mir immer, wenn manche meiner Leser schon zu früh auf den Twist oder die Lösung kommen, ist das gar nicht schlimm, denn das bedeutet, dass ich die Fährte gut gelegt habe. Und diese Leser haben trotzdem Lesespaß, weil sie wissen wollen, ob sie recht haben. Außer natürlich, es ist total offensichtlich, aber ich hoffe mal, das ist bei meinen Romanen nicht so. :P
Alhambrana

Holger

Ich liebe unzuverlässige Erzähler - egal ob in Filmen, Serien, Büchern oder Spielen. Aber sie müssen gut geschrieben sein.

Wie auch hier schon erwähnt, ärgert es auch mich maßlos, wenn ich mir als Leser oder Zuschauer "veräppelt" vorkomme. Gerade Agatha Christie kam mir da auch als gutes Beispiel in den Sinn - und viele Krimis. Wenn der Ermittler einfach irgendwelche Details aus dem Hut zaubert, die vorher nie aufgetaucht sind, nie erwähnt oder thematisiert wurden, dann ist das in meinen Augen ein billiger Trick, damit der Leser nicht die Lösung erraten kann. Aber ich liebe es, wenn ein solcher Twist kommt und es einem wie Schuppen von den Augen fällt: "Ach, jetzt verstehe ich, warum vorher ..." Das ist dann in meinen Augen ein richtig geschriebener unzuverlässiger Erzähler.

Es ist für mich auch nicht schlimm, wenn man den Twist doch früher bemerkt, als es eigentlich geplant war. Das liegt in der Natur der Sache, wenn etwas "fair" für den Leser geschrieben ist. Beispielsweise empfand ich den Twist bei "Sixth Sense" sehr offensichtlich und ahnte schon nach 20 Minuten, was der große Kniff sein sollte. Trotzdem mochte ich den Kniff und ich mochte auch, wie fair das erzählt war. Ich hatte wirklich Freude beim Sehen des Films daran, wie die Zuschauer aktiv in die falsche Richtung geführt wurde. Ähnliches bei "Fight Club". Die Kunst ist es, Details natürlich einzufügen, die zwar auf diese Twists hindeuten, aber am Anfang eher nicht beachtet werden. Wenn der Leser/Zuschauer zu früh drauf kommt, sollte aber der Rest des Textes oder Films auch für sich stehen können. Wichtig ist also, dass der "Twist" nicht das zentrale Element des Texts/Films ist, sondern dass er auf mehreren Ebenen funktioniert und Spaß macht.

Bei Texten empfinde Ich-Erzähler als unzuverlässige Erzähler sehr dankbar - und auch einfacher zu schreiben. Sie haben häufig eine Motivation, warum sie Dinge weglassen oder lügen. Das muss dann nur konsistent mit dem Charakter sein und schon funktioniert der unzuverlässige Erzähler ganz einfach und fast wie von selbst. Wenn ich einen Ich-Erzähler habe, der über jemanden lästern will, dann wird er natürlich diese Person verzerrt oder falsch darstellen. Besonders spannend ist das bei einer bösen oder wahnsinnigen Figur - zumindest muss ich da direkt an "The Tell-Tale Heart" von Poe denken. Das hat zwar auf anderer Ebene einen Twist, aber dadurch, dass die Gedankenwelt des Ich-Erzählers so verdreht und falsch und böse ist, ist er auch ein recht guter unzuverlässiger Erzähler. Viele Lovecraft-Protagonisten würde ich auch dazu zählen, besonders wenn sie anfangen, Sachen auszusparen und sich nicht trauen sie zu erzählen, weil sie Angst davor haben - oder die Befürchtung haben, wenn sie es erwähnen, dass schlimme Dinge passieren.

Bei einem Erzähler in der 3. Person ist es in meinen Augen etwas kniffliger, aber auch hier kann es ganz gut klappen. Beispielsweise finde ich es bei Harry Potter durchaus recht gut umgesetzt, weil man die Welt in erster Linie aus Harrys Sicht sieht und die ist beschränkt - und manchmal auch gefärbt und falsch. Besonders in "Order of the Phoenix" wird damit ganz nett gespielt, wie unfair alles dargestellt wird, gerade wie Harry von Dumbledore behandelt wird - später, wenn es aufgeklärt wird, ergibt das alles dann mehr Sinn.

Meiner Ansicht darf der Leser sich einfach nicht veräppelt fühlen am Ende, sondern sollte denken: "Eigentlich klar, denn im Text gab es ja vorher...." Das funktioniert, indem man charakterkonform Sachen auslässt, Wissen begrenzt oder entsprechend färbt. Je näher man am Charakter ist, desto eher sollte es über den Charakter erklärt werden können, warum dieser etwas nicht erwähnt. Wenn man nüchtern und entfernt vom Charakter ist und sogar zwischen Charakteren springt, wird das Ganze kniffliger und problematischer. Der Klassiker in meinen Augen für einen gut umgesetzten unzuverlässigen Erzähler ist Nick Carraway in "The Great Gatsby" - er lässt Sachen aus, er lügt und er hat eine eigene Agenda, warum er das macht. Wie die genau aussieht, darüber kann man diskutieren, aber es wirkt stimmig und das macht es in meinen Augen zu einem tollen Element des Buchs.
"No one asks for their life to change, not really. But it does. So, what are we? Helpless? Puppets? No. The big moments are gonna come, you can't help that. It's what you do afterwards that counts. That's when you find out who you are."
(Buffy: The Vampire Slayer; S02E21: Becoming - Part 1)

Arcor

Ich bin da auch ziemlich bei euren Meinungen. Wenn es gut gemacht ist, ist es eine Augenweide und ein richtiger Lesespaß. @Holger, bei J.K. Rowling stimme ich absolut zu. Schon im ersten Band gibt es den Nicolas Flamel-Hinweis, den kaum einer versteht, weil er auf Dumbledores Schokofrosch-Karte steht, im zweiten Band dann das "Entsorgen" von Riddles Tagebuch, im dritten die Zeitumkehrer-Hinweise bei Hermione, im vierten ... Es zieht sich durch und sie ist eine Autorin, die es in meinen Augen phänomenal gut hinbekommt, ohne den Leser zu veralbern.

@Lothen
Dein Eingangsbeispiel ist für mich ein klassisches Beispiel für "filmische Umsetzung". Im Film funktioniert das ohne Worte gut, man kann viel mit Perspektiven und Schnitten arbeiten, um etwas anzudeuten oder eben zu verbergen oder Sachen im Hintergrund darstellen, die man leicht übersieht. Bei einem Erzähler in einem Roman funktioniert das nicht, gerade wenn es ein Ich-Erzähler ist. Das ist einfach nur billig.

Ich spiele aber auch mit dem Gedanken, so etwas einmal auszuprobieren - und zwar mit einer Figur, von der der Leser weiß, dass sie ein chronischer Lügner ist. Das könnte funktionieren, wenn der Leser somit alles, was er durch den Prota präsentiert bekommt, hinterfragen muss - vorausgesetzt, es gibt noch andere Perspektiven, die stimmig sind.  :hmmm:
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

Sturmbluth

Bisher wurde der Unzuverlässige Erzähler hier als eine Figur beschrieben, die dem Leser Wissen vorenthält, obwohl das sie sicher besitzt (Poirot hat einen Hinweis auf den Mörder, sagt aber nichts). Das könnte dem Leser, wie hier im Thread erwähnt, unangenehm aufstoßen.

Es gibt aber auch noch die Variante, dass der Unzuverlässige Erzähler die Welt so beschreibt, wie er sie eben sieht. Mit seinem Wissen, durch seine Augen - und die sind halt nicht immer korrekt, eben unzuverlässig.

Beispiel: Eine Figur hat ein niedriges Bildungsniveau und stößt auf einen fremdsprachigen Begriff.
ZitatAlea iacta est stand auf dem Buch.
"Ah, Italienisch", dachte Figur A.

Der gebildete Leser kapiert natürlich, dass es kein Italienisch ist, selbst, wenn er die Bedeutung von "Alea iacta est" nicht kennt. Andere mögen vielleicht glauben es wäre wirklich Italienisch.

Man kann nun damit spielen und die Figur entsprechend charakterisieren, wenn man vom gebildeten Leser ausgeht (der denkt dann "Man, was ist diese Figur ungebildet" - was ja ein gewünschter Effekt sein kann).

Man kann aber auch ein schwierigeres Beispiel nehmen, dass der Leser selbst nicht durchschaut. Dann kann der Leser dem Autor aber keinen Vorwurf machen, denn die Figur wusste es ja nicht besser. Bei der Auflösung wird der Leser dann zusammen mit der Figur überrascht.