Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Lothen am 06. Mai 2014, 17:29:56

Titel: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Lothen am 06. Mai 2014, 17:29:56
Hallo zusammen,

einem aktuellen Anlass entsprechend wollte ich die Gelegenheit nutzen, eine (eher allgemein gehaltene) Frage in den Raum zu stellen: Wie geht ihr mit Trauer eurer Protagonisten um? Wie gestaltet ihr den Trauerprozess realistisch, ohne, dass der Leser vom - salopp ausgedrückt - ständigen Gejammer des/der Prota genervt ist?

Mein Dilemma ist derzeit Folgendes: Der Geliebte meiner Prota ist ermordet worden, das Ganze kam extrem unerwartet und hat sie und ihre Freunde heftig getroffen. Die beiden waren noch nicht lange ein Paar, hatten aber eine recht innige Beziehung, sogar eine Heirat stand im Raum. Ich bin derzeit noch etwas hin- und hergerissen, wie ich den Trauerprozess sinnvoll gestalte. Einerseits möchte ich den Verlust, den die Prota erlitten hat, natürlich nicht übergehen und angemessen zum Ausdruck bringen, wie sehr ihr Geliebter ihr fehlt. Andererseits möchte/muss ich auch die Handlung fortführen und da der Roman nicht primär ein Liebesroman ist, sollte die Handlung auch wieder in den Vordergrund rücken können.

Daher meine Frage: Wie viel Raum gebt ihr Trauer innerhalb eurer Geschichten? Wie viel Trauer ist realistisch, wann wird sie dagegen "zu viel" für den Leser?
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Coehoorn am 06. Mai 2014, 18:01:29
Ich glaube eine so schwere Trauer muss sich nicht zwingend offen zeigen. Es kommt auf die Persönlichkeit des Trauernden an. Eine verschlossene Person wird sich nicht viel anmerken lassen, kann jedoch, wenn sie alleine oder unter sehr engen Freunden ist, einen kurzen und sehr heftigen emotionalen Zusammenbruch haben.
Hat der Charakter eine grausame Ader? Dann wäre eine blinder Rachefeldzug nicht ausgeschlossen, bei dem Unmengen an Schaden an Unschuldigen stattfindet. Eine Zerstörungsorgie an Gegenständen passt auch bei vielen.
Vieleicht verändert sich der Charakter aber auch massiv ohne sich seine Trauer anmerken zu lassen, so dass man nur, wenn man sehr aufmerksam beobachtet, diese erkennt.
Ich hatte neulich eine Diskussion mit einem Kollegen über die Serie "How i met your mother". Er ging davon aus, wovon die meisten ausgehen: Barney ist der coolste, völlig abgeklärt und weiß genau was läuft. Ich bin der Ansicht, er ist der seelisch zerrütteteste Charakter in der Serie. Basierend auf den Geschehnissen in seiner Vergangenheit trägt er in meinen Augen eine tiefe Trauer mit sich, die er jedoch wunderbar zu verstecken weiß. (Für diejenigen, die die Serie noch nicht kennen und schauen wollen, in Spoiler gepackt, wieso ich dieser Meinung bin).
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.

Das beste Beispiel für zu viel Rumgejammer findet man in den Herr der Ringe Filmen. Irgendwann wollte jeder, den ich kenne, nur noch durch die Leinwand springen und Frodo sein jämmerliches Maul stopfen.
Ich hoffe das hilft dir zumindest etwas weiter.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Lothen am 06. Mai 2014, 18:07:43
Zitat von: Coehoorn am 06. Mai 2014, 18:01:29
Ich glaube eine so schwere Trauer muss sich nicht zwingend offen zeigen. Es kommt auf die Persönlichkeit des Trauernden an. Eine verschlossene Person wird sich nicht viel anmerken lassen, kann jedoch, wenn sie alleine oder unter sehr engen Freunden ist, einen kurzen und sehr heftigen emotionalen Zusammenbruch haben.

Da geb ich dir absolut recht - das Problem bei Perspektivträgern ist aber natürlich das, dass auch ihr Innenleben für den Leser offen gelegt wird, d.h. ich muss als Autor auch überlegen, wie ich ihr Innenleben dosiere ;) Wäre Barney mein Prota und Perspektivträger, müsste ich auch abklären, wie häufig ich auf seine Gefühle eingehe.

Zitat von: Coehoorn am 06. Mai 2014, 18:01:29
Das beste Beispiel für zu viel Rumgejammer findet man in den Herr der Ringe Filmen. Irgendwann wollte jeder, den ich kenne, nur noch durch die Leinwand springen und Frodo sein jämmerliches Maul stopfen.
Ich hoffe das hilft dir zumindest etwas weiter.

:rofl: Genau, so was mein ich :D
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Coehoorn am 06. Mai 2014, 18:19:27
Die Häufigkeit ist halt von den Eigenschaften deines Prota abhängig.
Wie kühl und distanziert ist er? Hat er jemanden, mit dem er frei sprechen kann? Hat er einen Hang zur Dramatik? Willst du den Leser vieleicht sogar damit nerven?

Meine Charaktere verhalten sich unterschiedlich. Während eine Protagonistin sich eher distanziert gibt und der Leser keinen Einblick von mir in ihre Gefühlswelt bekommt, steht mein Hauptprota öfters mit seiner aufgewühlten Gefühlswelt im Blickwinkel der sich zum Ende hin in einem gewaltigen Knall entläd. Rumgejammer versuche ich aber zu vermeiden.

Gerade fallen mir noch die Phasen der Trauer ein.
http://de.wikipedia.org/wiki/Trauer#Phasen-_und_zielorientierte_Modelle_des_Trauerprozesses
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Naudiz am 06. Mai 2014, 18:22:40
Zitat von: Lothen am 06. Mai 2014, 17:29:56
Daher meine Frage: Wie viel Raum gebt ihr Trauer innerhalb eurer Geschichten? Wie viel Trauer ist realistisch, wann wird sie dagegen "zu viel" für den Leser?

Das kommt bei mir vor allem auf die Geschichte und die Figuren an. Es gibt viele verschiedene Arten, jemanden zu verlieren, und mindestens genauso viele Wege, mit dem Verlust umzugehen. Manche stürzen sich in die Arbeit, andere flüchten sich in den Alkohol, wieder andere tun sich selbst weh, weil sie sich die Schuld an dem Unglück geben, und einige sehr sensible Seelen wählen den Freitod. Manche jammern, heulen sich bei Freunden aus, suchen Zuflucht in religiösem Eifer oder anderem Aktivismus. Viele tun so, als würde sie das Ganze nicht berühren, spielen den Starken für ihre Familie und Freunde. Einige distanzieren sich emotional von anderen, um nicht noch einmal verletzt zu werden, flüchten sich in ihre eigene Welt. Für andere ist der Tod ein Aufruf zum Handeln und damit eine Triebfeder für Veränderung. Manche wollen auch Rache üben an denen, die ihnen den geliebten Menschen genommen haben.

Worauf ich mit dieser Liste hinauswill: Es ist vom Charakter abhängig, was ich als 'too much' empfinde. Wenn ein altgedienter Krieger, der in Dutzenden Schlachten mitgekämpft hat, auf einmal den ganzen Roman lang herumjammert, finde ich das nervig. Wenn es jedoch ein junges Mädchen aus behütetem Hause ist, darf sie auch mal häufiger in Tränen ausbrechen, ohne dass ich den Drang habe, das Buch beiseitezulegen.

In meinem aktuellen Roman habe ich meinen Protagonisten in eine ähnliche Situation gebracht wie du den deinen, Lothen: Seine Geliebte ist in der Schlacht gefallen. Natürlich trifft ihn das fürchterlich, aber er ist fest in seinem Glauben verwurzelt, weswegen er, anstatt zu stagnieren, weiter vorangeht, in der festen Überzeugung, seine Geliebte im Jenseits wiederzusehen, wenn er nur genauso heldenhaft stirbt wie sie (in meiner Welt gibt es ein Walhalla-ähnliches Konzept vom Leben nach dem Tod). Seine Trauer bringe ich vor allem dadurch zum Ausdruck, dass er sich in bestimmten Situationen an das erinnert, was seine Geliebte gesagt hat, quasi wie bei einem Flashback. Das ist im Übrigen auch die Methode, die ich in den meisten meiner Geschichten benutze.

EDIT: Deckt sich teilweise mit Coehoorn. Ich lass es aber trotzdem stehen.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Coppelia am 06. Mai 2014, 19:10:48
Also als Selbstmitleid betrachte ich Trauer jetzt nicht, obwohl wahrscheinlich auch etwas Selbstmitleid dabei ist. Rein logisch muss man ja mit den Toten kein Mitleid (mehr) haben, aber wer kann sich schon zu dieser Erkenntnis durchringen?
Naudiz' Liste finde ich sehr gut. Ich habe alles, was ich schon einmal zu dem Thema gemacht habe, wiederfinden.
- Einer meiner Protas hat sich einfach zunächst geweigert, den Tod seiner Verwandtschaft anzuerkennen. Als er es schließlich musste, ist er zusammengebrochen, aber dann hat es ihm neue Energie gegeben, weil er erkannt hat, was im Leben wirklich wichtig ist (das klingt jetzt ziemlich schmalzig. ;D).
- Ein Söldner im "Aschengeist", der seine Geliebte und Partnerin verloren hatte, hat ihr zwar sehr nachgetrauert, aber er hat sich noch am gleichen Tag eine neue Partnerin und einen neuen Auftrag andrehen lassen, auch wenn er davon nur halbherzig überzeugt war. Aber er wusste, dass es irgendwie weitergehen musste.
- Ein anderer Prota hatte nach dem Tod einer ihm nahestehenden Person nichts mehr zu verlieren bis auf sein eigenes Leben und war daher umso mehr bereit, es zu riskieren für das, was ihm wichtig war.
- Ein Sonderfall ist mein NaNo-Prota Lukial. In dem Plot spielt Trauer aber auch eine wichtige Rolle und ist nicht dem Plot im Weg, wie es sonst häufiger ist. Lukial hat seine Trauer um seine kleine Tochter erst in Arbeit zu begraben versucht, er wird von Alpträumen heimgesucht und ruiniert seine Gesundheit. Später im Plot, als er sich seiner Trauer stellt, hat er lange Passagen, in denen er exzessiv trauert und auch wirklich herumjammert. Ich weiß gar nicht, wieso das von den Lesern so relativ freundlich akzeptiert wurde, ist es doch eigentlich ein Verhalten, das bei Romanfiguren sehr ungern gesehen wird. :D

Ich glaube, dass Trauer in unserer Gesellschaft nicht sehr akzeptiert wird und auch in Unterhaltungsromanen nicht gern gesehen wird. Deswegen ist dann schnell von "Gejammer" die Rede. Man will halt nicht mit diesen Dingen konfrontiert werden, die schon im normalen Leben unangenehm sind. Ich finde das nicht so schön. Trauer gibt Anlass zu interessanten Charakterentwicklungen und sollte meiner Meinung nach nicht unter "ferner liefen" abgehandelt werden. Allerdings findet man ja sehr häufig die Konstellation, dass ein Vertrauter der Hauptfigur stirbt, sie eine Seite lang untröstlich ist und dann höchstens noch mal kurz daran denkt - oder gar nicht, als wäre nichts vorgefallen. Die Handlung scheint es zu erfordern. Aber schön finde ich es nicht.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Thaliope am 06. Mai 2014, 19:22:01
Ich glaube, das Problem bei Trauer ist, dass es ein langwieriger, nach außen oft gleichförmiger Prozess ist. Deshalb wird häufig eher zusammenfassend beschrieben, dass es Tag für Tag immer ein kleines bisschen leichter wurde, obwohl man sich das am Anfang nicht vorstellen konnte.
Wenn man dem Leser die Gefühlswelt des Trauernden wirklich erlebbar machen kann, die Leere, die Verzweiflung, Sinnlosigkeit, sehe ich das nicht als problematisch an. Problematisch wird es für eine Geschichte immer dann, wenn sich über längere Zeit einfach nichts bewegt.

Davon abgesehen glaube ich nicht, dass es bei Trauer überhaupt um "Mitleid" mit irgendwem geht, sondern um einen Verlust, der verarbeitet werden muss. Dabei habe ich allerdings auch den Eindruck, dass es in unserer Gesellschaft wohl leichter akzpetiert zu werden scheint, wenn man unter dem (vermeintlichen) Schmerz eines anderen leidet als unter dem eigenen. Was dann zu so seltsamen Konstrukten wie der Zuschreibung von Selbstmitleid führt. Was wiederum dazu führen kann, dass Menschen glauben, ihren eigenen Schmerz nicht fühlen zu dürfen.

LG
Thali
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Sunflower am 06. Mai 2014, 19:31:32
Was mir gerade aufgefallen ist, als ich die Beiträge gelesen habe: Wenn man beschäftigt ist, eine Aufgabe oder ein Ziel hat, dann hat man oft gar keine Zeit, in "Gejammer" zu versinken. Man trauert trotzdem. Aber wenn dein Prota jetzt eine wichtige Aufgabe hat - wovon ich mal ausgehe - dann wird er nicht ständig über seine Trauer nachdenken. Sie ist immer da. Er wird nicht so viel lachen - wenn er früher ein fröhlicher Mensch war. Er wird ständigen Schmerz fühlen (den man dem Leser aber nicht unbedingt andauernd beschreiben muss). Aber wenn er eine Aufgabe hat, hast du genug anderes, über das du schreiben kannst.
Wenn er jetzt durch irgendetwas an seine Geliebte erinnert wird, kommt der Schmerz natürlich hoch. Je nachdem, welchen Charakter dein Prota hat, kann das schon mal zu einem Zusammenbruch führen, oder mindestens zu einer Ablenkung. Zu Schmerz. Aber ständig jammern wird dein Prota gar nicht, wenn er etwas zu tun und die Kraft hat, seine Aufgabe fortzuführen.

Ein "schönes" Beispiel, wie man es nicht machen sollte, wäre da der zweite Teil von Biss, falls du den kennst. Das gefühlte ganze Buch heult Bella rum - aber sie hat ja auch sonst nicht viel zu tun. Ganze Kapitel tragen nur Monatsnamen und sonst gar nichts. Das ist dann wirklich nervig. Aber wenn dein Prota an seiner Aufgabe dranbleibt, obwohl er trauert, dann ist er stark und dann verzeiht man ihm auch, wenn er zwischendurch mal ein Tränchen verdrückt.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Siara am 06. Mai 2014, 20:25:00
Dass Trauer sehr schnell wie Selbstmitleid wirken kann, weil es dies ja letztendlich auch ist, denke ich auch. Dass es vielleicht sogar "berechtigtes" Selbstmitleid ist, ist da zweitrangig. Mir ist in solchen Situationen immer wichtig, dass es nicht langweilig und Gejammer wird. (Es sei denn, es passt wirklich sehr gut zur entsprechenden Figur). Wie Thaliope sagte, nach außen hin ist Trauer gleichförmig. Wenn es um einen Perspektivträger geht, hat man natürlich die Innenansicht, die beleuchtet werden muss.

Hierbei finde ich es absolut schrecklich, über mehrere Seiten in Erinnerung zu schwelgen, immer wieder zu beschreiben,wie grau und trostlos die Welt doch ist, wie sehr der Verlust doch schmerzt - natürlich ist es so. Aber ich schätze, da ist es wie bei allem, was erzählt und nicht gezeigt wird: Es löst im Leser wenig Gefühl aus. (Das trifft wenigstens auf mich zu).

Es kommt natürlich vollkommen auf den Charakter und auf die Situation an. Im Allgemeinen finde ich es am elegantesten, am Anfang der Trauer eine Zusammenfassung der ersten Momente/Tage/Wochen zu schreiben. Oft ist es ja auch tatsächlich so, dass nach einem Schockereignis oder einem tiefen Einschnitt die Tage gleichförmig vorüberziehen, dass nichts mehr wirklich zu dem Trauernden durchdringen kann. In dem Fall könnte man die folgenden Ereignisse zum Beispiel neutral und trocken beschreiben, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Denn während der Trauer berühren andere Ereignisse oft wenig und ihnen wird wenig Bedeutung zugemessen (was wohl der Grund ist, warum die Tage so gleichförmig erscheinen). Viele Trauernde erledigen ihre Pflichten (oder tun einfach gar nichts mehr) und sind in sich zurückgezogen. Das eignet sich gut, um es zusammenzufassen und mehr mit dem Gefühl der Abgeschottetheit als mit der eigentlichen Trauer zu versehen.

Nach dieser Phase, wenn der Verlust realisiert wird, mache ich die Trauer gerne an bestimmten Situationen oder Objekten fest. Ein Geruch, ein Ort, ein Geräusch, irgendetwas, das aus verständlichen oder vollkommen unsinnigen Gründen die Erinnerung wachruft. Damit hat man nicht das ständige Selbstmitleid, aber es kommt immer wieder. Auch dann beschränke ich mich auf wenige Sätze und zeige auch bei Perspektivträgern mehr über das Handeln als durch die Innensicht. (Eben hat der Betroffende sich noch rege an einem Gespräch beschäftigt, dann kommt die Erinnerung auf und er bleibt den Rest des Abends stumm. Oder er lacht ein wenig zu laut und zu oft. Oder er wird plötzlich aggressiv. Oder er verschwindet alleine, um zu trauern - auch hier belasse ich es bei der Außenansicht, den Tränen, dem Zusammenkauern). Solange das Innere ein Chaos ist, wirken alle Gefühle, die genau ausformuliert werden, konstruiert und künstlich. Daher finde ich es vollkommen in Ordnung, wenn von sehr detaillierter Innenansicht abgesehen wird. Diese Momente, die wie aus dem nichts kommen und den Charakter tief treffen, werden mit der Zeit seltener, aber sie treten immer wieder auf, meistens unvermutet.

Wie gesagt, da kommt es ja wirklich vollkommen auf dem Charakter an. Aber wenn es um die Vermittlung von Gefühlen geht, ist show, don't tell für mich unerlässlich. Und durch die bloße Beschreibung der Trauer in der Innenansicht ist das kaum zu bewerkstelligen.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Lothen am 06. Mai 2014, 20:33:05
Zitat von: Sunflower am 06. Mai 2014, 19:31:32
Was mir gerade aufgefallen ist, als ich die Beiträge gelesen habe: Wenn man beschäftigt ist, eine Aufgabe oder ein Ziel hat, dann hat man oft gar keine Zeit, in "Gejammer" zu versinken. Man trauert trotzdem. Aber wenn dein Prota jetzt eine wichtige Aufgabe hat - wovon ich mal ausgehe - dann wird er nicht ständig über seine Trauer nachdenken. Sie ist immer da. Er wird nicht so viel lachen - wenn er früher ein fröhlicher Mensch war. Er wird ständigen Schmerz fühlen (den man dem Leser aber nicht unbedingt andauernd beschreiben muss). Aber wenn er eine Aufgabe hat, hast du genug anderes, über das du schreiben kannst.

Ja, das wäre in der Tat auch die Option gewesen, die ich gewählt hätte :) Ich hatte mich aber eben nur gefragt, ob das "genügt", um die Trauer angemessen zu würdigen...

Zitat von: Siara am 06. Mai 2014, 20:25:00Hierbei finde ich es absolut schrecklich, über mehrere Seiten in Erinnerung zu schwelgen, immer wieder zu beschreiben,wie grau und trostlos die Welt doch ist, wie sehr der Verlust doch schmerzt - natürlich ist es so. Aber ich schätze, da ist es wie bei allem, was erzählt und nicht gezeigt wird: Es löst im Leser wenig Gefühl aus. (Das trifft wenigstens auf mich zu).

Das war auch meine Befürchtung, auf so etwas stehe ich auch gar nicht. Die Trauer der oder des Prota soll ja auch auf den Leser wirken und unter dieser Prämisse tut es das nicht (oder zumindest nicht so, wie erwünscht).
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Simara am 06. Mai 2014, 22:32:32
Trauer zu schreiben bereitet mir immer Probleme- Die ich jedoch selbst meistens gar nicht sofort bemerke. Irgendwie trauern meine Figuren nämlich im ersten Draft nie sehr intensiv, bis mich jemand darauf hinweißt und ich es verbessern kann. Irgendwie gehört Trauer für mich zu den Emotionen, in die ich mich am Schlechtesten hinein versetzen kann. Am ehesten hilft es mir, die psychologischen 'Phasen der Trauer' im Hinterkopf zu behalten, und ein wenig damit herum zu spielen, wie diese für besagte Figur ausfallen würden.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Guddy am 06. Mai 2014, 23:58:51
Manche haben aber ganz schön am Thema vorbeigeredet, oder meine ich das nur? :hmmm: Dass jeder (Protagonist) Trauer anders verarbeitet und erlebt, ist doch obligatorisch. Das angesprochene Problem liegt vielmehr im schriftstellerischen Detail.
Meiner Ansicht nach ist dies aber bei so gut wie jeder andauernden Emotion so. Ein Gefühl kann über erzählte Wochen und Monaten hinweg den Text einfärben. Sei es Trauer, Verliebtsein oder Selbsthass. Die Frage ist nur: Wann hat der Text eine schöne/interessante Farbe - und wann ist er heillos übersättigt und brennt in den Augen?

Die Kunst ist, eine Balance zu finden ohne dabei weder den Protagonisten, noch den Leser zu vernachlässigen. Man kann den Prota in seiner Trauer über Wochen hinweg wunderbar begleiten, die Emotion wunderbar darstellen - nur möchte der Leser unter Umständen keine Trauerstudie lesen.
Da heißt es dann, Zeitraffer oder -sprünge zu benutzen, die Gedanken des Protagonisten nicht ständig von Emotionen besetzt zu zeigen, sondern nach der ersten, eingehenderen Beschreibung eher diskrete Hinweise zu geben und seien es indirekte.

Ein ähnliches Problem sehe ich gerade bei mir selber. Ich könnte die Verliebtheit meines Chars - die noch ewig und drei Tage andauern wird - nonstop thematisieren, ich könnte ihn seiten- ach was, romaneweise vor romantischem Gefühl zergehen lassen, doch glaube ich kaum, dass das, bei aller Prota-Wahrheit, auf Dauer schön zu lesen wäre.
Ich finde es wichtig, es zu Anfang näher zu erläutern (sprich durch des Protas Augen fühlbar zu machen) und es dann eher indirekt einfließen zu lassen mit eben dezenter gewordenen Gedanken/Gefühlen/etc. diesbezüglich. Der Leser ist ja auch nicht dumm. Bei gutem "Vorspiel" wird er auch Indirektes (kleine, nicht näher erläuterte Gesten etc.) problemlos zu deuten wissen.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Mogylein am 07. Mai 2014, 04:03:55
Zitat von: Sunflower am 06. Mai 2014, 19:31:32
Ein "schönes" Beispiel, wie man es nicht machen sollte, wäre da der zweite Teil von Biss, falls du den kennst. Das gefühlte ganze Buch heult Bella rum - aber sie hat ja auch sonst nicht viel zu tun. Ganze Kapitel tragen nur Monatsnamen und sonst gar nichts.

Ehrlich gesagt war das mit den Monatsnamen eine der wenigen Sachen, die mir in der Biss-Reihe wirklich gefallen haben. Es sind ja eigentlich gar keine Kapitel, es steht ja kein Text drin, es steht nur auf einer Seite Juli, auf der nächsten August, auf der nächsten September (oder andere Monate, das weiß ich nicht mehr). Für mich hat das sehr gut zum Ausdruck gebracht, dass für Bella in dem Zeitraum nichts passiert, sie sich komplett abnabelt, weil ihre Welt zerstört ist. Das passt ziemlich gut zu ihrem Charakter, wo sie doch ohne Edward einfach... nichts ist ;)

Ich muss zustimmen, dass ich "Gejammer" (oder auch sehr realistisches Trauern, das sich einfach über eine sehr lange Zeit im Roman zieht) als sehr anstrengend empfinde, ganz egal, ob das jetzt zum Protagonisten passt oder nicht.
Auch wenn ich es selbst nicht so gut hinkriege, mag ich es am liebsten, wenn es nach einem anfänglichen Schmerzmoment, in dem gerne beschrieben werden darf, wie weh alles tut und wie furchtbar grausam doch die Welt ist (ich verdrück dabei so gerne ein paar Tränchen), es nicht mehr dauerhaft thematisiert wird, sondern stattdessen den Text färbt, also etwas subtileres Show don't tell. Beschreibungen sind nicht mehr so ausufernd, nicht mehr so positiv. Angestrengtere Erzählstimme. Dialoge werden entweder viel kürzer angebunden oder sehr ausufernd, weil man sich ablenken muss. Weniger Aufmerksamkeit auf andere Personen, vielleicht vergleicht man andere Personen auch mit der verstorbenen Person. Eine allgemein schwere und triste Atmosphäre.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Churke am 07. Mai 2014, 09:24:16
Trauer ist eine Emotion. Sie beeinflusst das Handeln einer Figur, aber viel mehr noch deren Wahrnehmung der äußeren Welt. Ein trauernder Perspektivträger wird die selben Dinge einfach anders, negativ, durchaus auch defätistisch sehen.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Sunflower am 07. Mai 2014, 10:10:42
@Mogy: Die Monatsnamen fand ich auch noch okay, das "Drumherum" eher nicht so. Ich habe das Buch lange nicht mehr gelesen, deshalb kann es sein, dass ich mir da auch was einbilde, aber in meiner Erinnerung besteht das Buch - bis aufs Ende - nur aus Gejammer. Und einem Jacob ohne T-Shirt.
Zitat von: Mogylein am 07. Mai 2014, 04:03:55
Das passt ziemlich gut zu ihrem Charakter, wo sie doch ohne Edward einfach... nichts ist ;)
;D

Ich schreibe im Moment auch einen aktuellen "Trauerfall", meine Prota verliert gleich zu Beginn ihren Anführer, der immer ihr großes Vorbild war. Darauf reagiert sie weniger mit Gejammer - dafür ist sie einfach nicht der Typ. Stattdessen ist sie ziemlich gereizt und wenn irgendjemand eine Bemerkung in Richtung des Anführers macht, wird sie gleich aggressiv. Deshalb beziehe ich ihre Trauer nicht andauernd in den Kontext ein - sie wurde von dessen Tod auch ziemlich überrascht und hat gerade eine Menge anderer Probleme. Verarbeiten konnte sie also noch nicht, aber wenn sie die Zeit dafür hat, wird sie bestimmt auch traurig sein. Allgemein reagiert sie aber mit Wut und Aggression.
So reagiert bestimmt jede Figur anders. Aber wie gesagt, wenn ein ganzes Buch nur gejammert wird, dann hört bei mir der Spaß auf.

Edit: Ach, und Coehoorn hat die Herr der Ringe - Filme ja auch schon angesprochen. Mit ein paar Freunden mache ich öfter Filmnächte und bei der nächsten HdR-Nacht werden wir wahrscheinlich ein Trinkspiel machen - jedes Mal, wenn Frodo rumheult. Da hält man wahrscheinlich nicht mal den ersten Teil durch :D
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: canis lupus niger am 07. Mai 2014, 12:04:42
Eine Art, den Umgang mit großer Trauer aus der Perspektive der Trauernden darzustellen, die nicht selbstmitleidig und "jämmerlich" wirkt, und die für mich funktionieren würde, wäre vermutlich eine Art von Verdrängung. Die Betroffene ist innerlich wie erstarrt, lässt keine Gefühle zu, wiegelt entsprechende Gesprächsversuche von Freunden konsequent ab, lenkt sich mit Arbeit ab (ja, das fände ich auch gut), versucht alles, um nicht an den Verlust zu denken. Aber hin und wieder kommt eine Assoziation, der Anblick einer Kleinigkeit, ein vertrauter Duft oder Irgendwas, das den Panzer durchdringt wie ein Nadelstich. Die Trauernde hält inne in dem, was sie gerade tut und versucht den Dammbruch (ihrer Gefühle) zu verhindern. Sie empfindet scharfen Schmerz. Der Gedanke "Es wird niemals wieder so sein, niemals!"  beherrscht auf einmal alles. Und sie muss sich mühsam zu ihrem abgestumpften Zustand zurückkämpfen. Wenn ihr jetzt jemand mitfühlend kommt, könnte sie je nach ihrem Temperament aggressiv reagieren, zusammenbrechen (der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt), eine Maske aufsetzen (ironisch, hysterisch, cool, weise, kühl-dankbar-höflich, ...).

Empfindet Deine Trauernde sich als schuldig am Tod ihres Freundes? "Ich hätte es vielleicht verhindern können, wenn ich nach dem Kino noch mit ihm ins Café gegangen wären, statt mich zu Hause noch an meine Klausurvorbereitung setze."  Auch das könntest Du (als daran nagenden Wurm) in ihren geistigen Schutzwall einbauen.

So kannst Du sie, statt "jammern" sich selber ständig zur Stärke ermahnen lassen. Ihre Unfähigkeit, dieser Ermahnung gerecht zu werden, zeigt dann indirekt die Tiefe ihres Schmerzes.

Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Nikki am 08. Mai 2021, 07:59:41
Hach, wäre ich zwei Tage früher da gewesen, hätten wir siebenjähriges Jubiläum für den Thread feiern können. ;D Zwar vor Jahren eröffnet, scheint er doch wie für mich gemacht, danke, @Lothen .

Ich stecke mitten in der Überarbeitung eines Manuskriptes, in dem die Hauptperspektive von Trauer geplagt ist und muss mir dementsprechend die Frage stellen, wie viel ist zu viel? Die Herausforderung ist, dass der Verlust eines liebes Menschen die Prämisse dieser Geschichte ist. Die Protagonistin steht zu Beginn unter Schock und hatte, anders als ihr Umfeld, noch gar nicht die Möglichkeit, zu begreifen, was passiert ist, da sie eben erst aus dem Koma erwacht ist. Sie startet in die Geschichte mit den Aspekten der Resignation und Verdrängung und soll zuletzt zu dem Punkt kommen, an dem sie den Tod des lieben Menschen wiedergutmachen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen will.

Dass es für die Leser*innen ziemlich ätzend sein kann, dass auf jeder Seite erwähnt wird, dass jemand gestorben ist, ist klar. Meine Strategie schaut so aus, dass der Name der Toten nur sehr gezielt eingesetzt wird und bis zum Höhepunkt des Romans eher angedeutet, als tatsächlich ausgesprochen wird. So wird die Protagonistin im Umgang mit ihren Freund*innen vermeiden, über die Tote zu sprechen, und sich vermehrt auf das Übernatürliche konzentrieren, um sich abzulenken.

Gleichzeitig wird sie aber mit einer Figur, die nichts mit ihrem menschlichen Leben zu tun hat und stellvertretend für das Übernatürliche steht (eine Art fragwürdiges Helferlein), über ihre Vergangenheit mit der Toten sprechen, weil sie hier darauf hoffen kann, eine neutrale Perspektive zu erhalten. Würde sie mit ihren Freund*innen darüber reden, die die Tote kannten und bei ihrem Tod anwesend waren, müsste sie fürchten, mit den aktuellen Geschehnissen konfrontiert zu werden, wohingegen die Figur aus dem übernatürlichen Bereich null Berührungspunkte mit der Toten hatte und sich wertfrei Erinnerungen erzählen lassen kann. So kann die Protagonistin in ihren Erinnerungen schwelgen und gleichzeitig das Jetzt ausklammern.

Zu einer anderen Figur, die das Übernatürliche in den Alltag der Protagonistin Eingang hat finden lassen und eine Art übernatürliche Mentorin darstellt, möchte die Protagonistin ihre Beziehung verbessern, um ihre Bestimmung zu erfüllen und sich nicht den Ereignissen in der Menschenwelt stellen zu müssen.

Die Beziehung zur besten Freundin wird vorerst kaltgestellt, da die Protagonistin fürchten muss, dass die dasselbe Schicksal ereilt wie die Tote. Die Beziehung zum Freund - der eine Rechnung offen hatte mit der Toten - wird vor allem auf romantischer Ebene fortgesetzt, um sich nicht dem stellen zu müssen, was zwischen ihm und der Toten vorgefallen ist. Als sowohl die beste Freundin, als auch der Freund der Protagonistin sie mit dem Tod jenes lieben Menschen konfrontieren, knallt es zwischen den Dreien gewaltig und wir befinden uns direkt vor dem Höhepunkt des Romans.

Eine andere Figur, für die der Tod jener Figur dieselbe Bedeutung hat, geht die Protagonistin kategorisch aus dem Weg. Die ist dann der Katalysator für die Trauer der Protagonistin, wenn sie sie nicht länger meiden kann.

Wird klar, was ich vorhabe? Die Protagonistin pflegt gezielt solchen Umgang mit anderen Personen, der es ihr ermöglicht, sich von ihrem Verlust zu distanzieren. Die zwei Figuren aus dem übernatürlichen Bereich werden bevorzugt behandelt, weil sie bei ihnen nicht damit rechnen muss, über ihren Verlust zu sprechen, weil andere Dinge (wie der Welt-retten-Schnickschnack) wichtiger sind, bzw. sie sich in einem "neutraleren" Umfeld bewegt, in dem sie den Verlust zu ihren eigenen Bedingungen thematisieren kann. Würde sie dieselben Dinge mit ihren Freund*innen besprechen, würden sie ähnliche Reaktionen erwarten wie die, die sie bei sich selbst unterdrückt, wie Wut, Verzweiflung, Schuldgefühle. Gleichzeitig filtert sie ihre menschlichen Beziehungen auf eine Weise, die es ihr erlaubt, unliebsame Dinge auszuklammern.

Dass das nicht auf Dauer gut gehen kann, liegt auf der Hand. Alle Beziehungen der Protagonistin stehen spürbar unter Druck, bis es schlussendlich zur Detonation kommt. Trauer ist hier nicht etwas, was stillschweigend im Kopf der Protagonistin abläuft, sondern etwas, was alle Beziehungen belastet und verändert und aktiv in die Handlung eingebunden wird, ohne diesen Prozess auszuformulieren.

Im selben Roman gibt es noch eine andere Figur, die ebenso schwere persönliche Verluste erlitten hat. Aber anstatt zu trauern sinnt sie auf Rache. Sie nimmt sich nicht die Zeit, um zu trauern (und hat anders als die Protagonistin auch niemanden, der ihr helfen könnte, ihre Trauer aufzuarbeiten), sondern kanalisiert all ihre Kräfte für ein größeres Ziel, um die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren ist, zu sühnen. Während die Protagonistin sich damit auseinandersetzt, welche Rolle sie in dem Tod ihres lieben Menschen gespielt hat, versteift sich jene Figur darauf, einen Sündenbock zu finden und diesen zu bestrafen. Einer der Höhepunkte im Roman wird es sein, wenn diese zwei aufeinandertreffen und sich gegenseitig mit ihrer eigenen Trauer konfrontieren, nur völlig unterschiedlich reagieren werden.

Trauer ist hier etwas, das zwischen den Zeilen abläuft (shoutout zu dem anderen Thread im Workshop ;D) und die Handlung maßgeblich beeinflusst (so gut wie alle Beziehungen aus dem vorherigen Band sind verändert, ja, es handelt sich um einen Folgeband), aber nur sehr selten als solches auch angesprochen wird.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Luna am 08. Mai 2021, 09:19:43
Trauer um einen geliebten Menschen ... ich kann gerade nicht viel aus Romanperspektivischer Sicht erzählen, aber vielleicht hilft es ja einfach ein reales Ereignis zu rate zu ziehen.

Nach meiner Erfahrung kommt es stark darauf an, wie eng die vorherige Beziehung war. Trauer kann damit innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen abgegolten sein und man hat sich mit der veränderten Situation arrangiert. Vielleicht ist man auch einfach irgendwie zusätzlich froh, wenn man mitbekommen hat, dass die Person, die man verloren hat, eigentlich nur geleidet hat. [Großmutter, Mutter]

Das ist alles ganz anders, wenn die Person viel jünger ist, und einfach deren bloße Anwesenheit einem ein Lächeln auf das Gesicht zauberte. Der Moment, in dem man es erfährt ist ... hart zu beschreiben. Ein Schock, der durch den Körper fährt. Ein es-nicht-glauben-wollen. Ein hoffen, dass die Person plötzlich doch wieder auftaucht.

Während der Arbeit habe ich versucht ... normal auszusehen, mir nichts anmerken zu lassen. Aber gerade in den ersten Tagen ist das besonders schwer. Es gibt dinge, die einen ablenken, während man mit anderen zusammen ist, kann eventuell auch kurz lächeln. Aber plötzliche scheinbar zufällige bemerkungen können Erinnerungen  oder Wünsche Wachrufen, die die Wunde frisch aufreißen. Mit der Zeit wird das weniger (es könnte sich also vielleicht ein Zeitsprung anbieten).

Ich habe so gut wie gar nicht darüber geredet. In der ersten Zeit konnte ich das nicht einmal. Schreiben ging, aber reden? Es war einfach wie eine Blockade. Daran hingen noch ganz andere Gedanken an denen man schon selbst merkt, wie sehr das auf die Psyche schlägt, diese verändert ...

Was ich damit sagen will: Es ist durchaus realistisch, sich abzulenken, einfach irgendetwas zu machen, das nichts, aber auch gar nichts mit der Person zu tun hatte, um die Trauer zu vergessen ... und dann abwechselnd Dinge zu suchen, die einen an sie erinnern. Aufnahmen mit der Stimme zu hören, um irgendwie das Gefühl zu haben, dass diese Person doch noch irgendwie da ist.

Heilt eine solche Wunde irgendwann? Nach inzwischen mehr als vier Jahren würde ich sagen: Nein. Sie wächst zu, und man kann wieder vieles machen, was man vorher nicht konnte. Aber eine tiefe Narbe bleibt - und in Momenten wie diesen, wenn man darüber redet, reißt sie auf.

Es ist kein ständiges selbst-bemitleiden, keine ständige trauer. Das hält die eigene Psyche schließlich auch nicht aus. Aber zeitlich versetzt gibt es immer Momente, die einen daran erinnern - und wenn diese nicht zu häufig auftauchen, ist es sicherlich auch legitim, den Leser daran zu erinnern, dass dieses Ereignis die Handlungen und Motivationen des Charakters beeinflusst.

(Ich kann versuchen, Fragen zu beantworten, werde auf gewisse Dinge aber garantiert nicht öffentlich eingehen.)
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Sikania am 08. Mai 2021, 09:28:51
Zitat von: Luna am 08. Mai 2021, 09:19:43
Ein Schock, der durch den Körper fährt. Ein es-nicht-glauben-wollen. Ein hoffen, dass die Person plötzlich doch wieder auftaucht.

Gerade diese Zeile erinnert mich auch an eine der Trauerphasen nach Kübler-Ross. Mir hilft es auch beim Schreiben, sich ein bisschen damit auseinanderzusetzen.
Elisabeth Kübler-Ross hat dazu einmal 5 Phasen der Trauer definiert, wobei es wichtig ist, dass die Reihenfolge dabei zwar häufig so ist aber nicht immer eingehalten wird. Manchmal wird auch eine Phase übersprungen, in eine Phase zurückgefallen oder aber die 5. Phase nie erreicht.

Die Phasen sind:
1. Nicht-wahrhaben-Wollen/Leugnen
2. Zorn
3. Verhandeln
4. Depression/Leid
5. Annahme/Akzeptanz
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Nikki am 08. Mai 2021, 12:04:19
Danke für deinen Input @Luna.  :knuddel: Ich weiß nicht, ob das für dich infrage kommt, aber in diesem Unterforum (https://forum.tintenzirkel.de/index.php?board=203.0), das intern ist, könntest du über deine Erfahrungen schreiben, wenn du willst. Nur Mitglieder (ab einer bestimmten Beitragsanzahl?) hätten darauf Zugriff, wenn dir das nicht zu öffentlich ist.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Phlox am 18. Mai 2021, 09:40:18
Hallo @Nikki,
ich weiß nicht, ob das für deine Geschichte passt, aber mir fiel dazu noch folgendes ein: Gerade im Zusammenhang mit Schuldgefühlen (nicht nur, aber oft nach Trauer) ist es ja häufig so, dass sich die Wahrnehmungen der beteiligten Personen sehr unterscheiden, es aber leider nur selten zu einem klärenden Gespräch kommt, weil jede/r die eigene Wahrnehmung für die absolute Wahrheit hält und gar nicht auf die Idee kommt, dass die anderen es anders sehen könnten.
Also, konkret, wäre es sehr gut möglich und eine realistische Darstellung, dass deine Person A sich sehr schuldig fühlt, Personen B und C das aber gar nicht so heftig beurteilen.
Natürlich wird es auch da Ausnahmen geben, z.B. wenn deine Figur unter Alkoholeinfluss einen Unfall mit Todesfolge verursacht hätte oder so, dann wäre das evtl. anders... dazu kenne ich jetzt deine Geschichte zu wenig, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie in diese Richtung geht.
Titel: Re: Trauer - zwischen Realismus und Selbstmitleid
Beitrag von: Nikki am 18. Mai 2021, 11:53:45
@Phlox
ZitatGerade im Zusammenhang mit Schuldgefühlen (nicht nur, aber oft nach Trauer) ist es ja häufig so, dass sich die Wahrnehmungen der beteiligten Personen sehr unterscheiden, es aber leider nur selten zu einem klärenden Gespräch kommt, weil jede/r die eigene Wahrnehmung für die absolute Wahrheit hält und gar nicht auf die Idee kommt, dass die anderen es anders sehen könnten.
Also, konkret, wäre es sehr gut möglich und eine realistische Darstellung, dass deine Person A sich sehr schuldig fühlt, Personen B und C das aber gar nicht so heftig beurteilen.

Ja, die Schuldfrage macht einen oder mehrere Handlungsstränge aus. Denau wie du sagst, werden mehrere klärende Gespräche einzelne Mini-Höhepunkte der Schuldfrage sein, wenn Figuren, von denen angenommen wird, sie seien nachtragend, aus ganz anderen Gründen wütend sind, während andere, die bis dahin verständnisvoll waren, absolut taktlos reagieren. Nur auch da muss ich eben aufpassen, dass diese Thematik nicht zu viel Platz bekommt, sonst wirkt sie erschlagend.

Es ist ein bisschen wie ich in diesem Thread über Fortsetzungen (https://forum.tintenzirkel.de/index.php?topic=11139.0) geschrieben habe - wenn ich zu sehr darauf herumreite, was (im Band davor) geschehen ist und die Figuren immer wieder die traumatischen Ereignisse durchleben lasse, laufe ich Gefahr, auf der Stelle zu treten und sogar trauma porn (falls dieser Terminus unabhängig von Minderheiten benutzt werden kann und wirklich auch nur das Trauma meint) zu produzieren.