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Eindrücke: Lese-Seminar Bundesakademie Wolfenbüttel

Begonnen von Chris, 24. Juli 2011, 19:36:46

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Chris

Hallo,

hoffe, dass mein (langer) Text hier richtig ist - wusste nicht, wo ich ihn sonst unterbringen sollte  8).

Habe in letzter Zeit eher gelesen und wenig geschrieben, was neben meinem Brotberuf auch an Fortbildungen lag, von denen eine mich so begeistert hat, dass ich meine Eindrücke gesammelt aufgeschrieben habe.

Seminar: Nie mehr verstimmt. Lese- und Auftrittstraining für Autoren (www.bundesakademie.de)

Darum geht's:

Ein Buch schreiben? Schwierig genug, aber mit ein wenig Glück liegt es irgendwann vor Ihnen. Und flugs steht die erste Lesung an, mit einem Publikum, das Ihnen mit gespitzten Ohren zuhört. Was haben Sie nicht alles unternommen, um an der Geschichte, den Versen zu feilen. Das Vorlesen, dachten Sie, wird sich schon fügen ... Oder auch nicht, werden Autorinnen und Autoren sagen, die solche Erfahrungen bereits hinter sich und ihren Auftritt als optimierbar erlebt haben. Dieser Kurs setzt genau hier an. Er hilft Ihnen, der eigenen Stimme auf die Spur zu kommen und besser vorbereitet die nächste Lesung, den nächsten Vortrag anzugehen. In verschiedenen Schritten wird erprobt, eigene und fremde Texte angemessener für eine Situation vor Zuhörern zu intonieren und inszenieren.
Sprechen bedeutet schließlich mehr als bloßes Vorlesen, sondern setzt eine Haltung zu dem voraus, was Sie präsentieren möchten. Mit Gruppenübungen und Einzeltraining wird Ihre individuelle Ausdruckskraft gesteigert, um zu einer Sprechhaltung zu gelangen, die den Sinn des Textes betont und das Interesse der Zuhörer fesselt.


Nach dem Wochenende, das sich mit Lesen, Stimme und Auftritt beschäftigte, war ich platt, aber restlos begeistert. Der Dozent ist Theaterregisseur und übt szenisches Lesen; die Dozentin ist Stimmtrainerin und hilft mit einfachen Übungen, der Stimme auf die Spur zu kommen.

Super gelungen fand ich die Mischung aus ganz pragmatischen Tipps und Übungen - angefangen vom "Wie komme ich auf die Bühne?" - über die Textarbeit bis hin zu den unterschiedlichen Instrumenten wie Betonung, Tempo, Pausen etc.

Eine spannende und augenöffnende Übung war es, einen beliebigen Text in unterschiedlichen Haltungen beziehungsweise Situationen laut zu lesen:
+ Ich bin wütend
+ Ich vertrete ein Anliegen
+ Es ist mir sehr ernst mit dem Text
+ Ich erzähle eine Anekdote usw.,
um mich darüber dem Inhalt zu nähern und mir zu überlegen, wie ich den Text für meine Zuhörerinnen und Zuhörer aufbereite und präsentiere, wo ich Pausen einsetze, Worte schnell oder langsam spreche, wie die Beziehungen der Worte zueinander sind ...

Und hier nun mein Versuch einer Zusammenfassung der Inhalte des Wolfenbütteler Seminars, soweit das möglich ist. Der Fokus lag auf den praktischen Übungen, sowohl für die Stimme als auch für Lesungen. Aber ,,nebenbei" gab es immer wieder Empfehlungen und Hinweise. Viel Spaß!

Hintergrund / Grundlagen

Grundprobleme schlechten Lesens
1) Auratisieren (das Wort musste ich mitschreiben), den Text aufplustern. Schlechtes Vorlesen ist zu viel an Stimme und Betonung.
2) Schlechtes Vorlesen ist blass und monoton.

Die Grundidee, die das Seminar uns nahebringen wollte, ist:
Beim Vorlesen muss ich als Lesende die sprachlichen Strukturen des Textes transparent machen, den zentralen Gedanken folgen und dies für die Zuhörerinnen und Zuhörer nachvollziehbar machen.

Meine Aufgabe als Vorleserin ist es, das Besondere in dem Text zu erkennen und hervorzuheben. Hierfür gibt es drei Tricks:
+ Pause vor dem Besonderen einlegen
+ Das Besondere ,,tieferlegen" durch die Stimme
+ Das Besondere verlangsamen

Wichtig ist eine sehr gute Vorbereitung, die nicht nur bedeutet, den Text ein- oder zweimal laut zu lesen. In der Vorbereitungsarbeit suche ich nach textlichen Strukturen, Bezügen und dem Besonderen, eine Art klassischer Textarbeit.

Als nächstes überlege ich mir eine Erzählhaltung, in der ich die Geschichte präsentieren möchte, zum Beispiel:
+ Ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen
+ Ich bin interessiert daran, Ihnen etwas zu erzählen
+ Ich möchte selbst wissen, wie die Geschichte weitergeht

Das moderne Sprechen arbeitet stärker mit Tempoveränderungen als mit Höhen und Tiefen. Die Tonlage ähnlich halten und Spannung wecken durch Wechsel des Lesetempos.

Lesung selbst / Der Auftritt
+ Zielstrebig auf das Pult oder den Tisch zugehen, dabei den Kopf zum Publikum wenden (sieht etwas schräg aus, wirkt aber gut)
+ Publikum ansehen und lächeln, dabei drei Sekunden schweigen
+ Auch nach Abschluss der Lesung drei Sekunden schweigend lächeln
+ Falls es Probleme mit der Technik gibt, nicht selbst dran rumfummeln, sondern drei Schritte zurücktreten und schweigen und hoffen, dass jemand von der Organisation den Fehler bemerkt und behebt! Alle ,,Eigentätigkeiten" lenken nur die Aufmerksamkeit des Publikums weg vom Text
+ Auf keinen Fall unbewusste Bewegungen: Frauen streichen gerne die Haare hinter die Ohren, Männer fassen sich an die Nase. So etwas irritiert das Publikum (Das unbewusste Bewegungsverbot führte ähnlich wie das Räusper-Verbot der Logopädin dazu, dass ich mir seitdem ständig das Haar zurückstreiche und mich räuspere!)

Regeln für gutes Lesen
+ Keine Illustrationen des Textes, d. h. die Geschichte nicht spielen, nicht bewerten, sondern dem Publikum die Bewertung überlassen.
Also nicht: ,,LASS DAS!", schrie er, sondern ,,Lass das", schrie er.
(In der Diskussion allerdings merkte jemand an, dass Lesungen für Kinder mit Illustrationen arbeiten sollten, um die Aufmerksamkeit zu halten. Der Dozent ,,gestand" uns zu, dass bei Lesungen für Kinder bis zur zweiten Klasse mit Illustrationen gearbeitet werden ,,darf".)
+ Wenn etwas im Text steht, muss man es nicht spielen!
+ Die Sprache an der Wirklichkeit orientieren, nicht an der Schriftsprache: nicht ,,KöniG", sondern ,,Könich"; hilfreich ist hier der Aussprache-Duden.

Zusammenfassung
Wenn ich für mich ein Fazit ziehe, komme ich dahin, dass gutes (Vor-)Lesen ähnlich funktioniert wie Schreiben: show, don't tell!

Schaff es durch Stimme, Betonung, gute Vorbereitung und ,,eigene" Bilder im Kopf, die Zuhörerinnen und Zuhörern neugierig zu machen und lass ihnen Raum für eigene Vorstellungen.

Erfolgsfaktoren für eine gute Lesung:
+ Sorgfalt (in der Vorbereitung und beim Lesen)
+ Intensität
+ Konzentration

Ich hoffe, ich konnte euch einen Eindruck von einem arbeitsreichen und lehrreichen Wochenende vermitteln!

Literaturempfehlung:
Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. [leider vergriffen)
http://www.amazon.de/Auf-kurze-Distanz-Autorenlesung--T%C3%B6ne/dp/3932170679/ref=sr_1_4?ie=UTF8&qid=1311370884&sr=8-4

Internetempfehlung:
www.zehnseiten.de
Lesungen moderner Literatur

Liebe Grüße und eine hundertprozentige Empfehlung
Chris


Fizz

Danke für die Zusammenfassung, Chris.
Da kann ich mir sogar für den täglichen Gebrauch an der Uni etwas rauspicken. ;D

Pestillenzia

Danke auch von mir für die Zusammenfassung, finde ich sehr interessant (auch deshalb, weil ich mich für zwei Schreibseminare in Wolfenbüttel angemeldet habe).

Auch wenn ich den Punkt
Zitat+ Die Sprache an der Wirklichkeit orientieren, nicht an der Schriftsprache: nicht ,,KöniG", sondern ,,Könich"; hilfreich ist hier der Aussprache-Duden.
ein wenig zweifelhaft finde und das mMn davon abhängt, in welcher Region ma ist. Hier in Südbayern wird kaum jemand Könich sagen, sondern König - zumindest, wenn es Eingeborene sind...  ;)

Eluned

Hallo,
schade, das Seminar habe ich übersehen, da wäre ich auch gern hingegangen. Vielleicht wird es ja wiederholt. Und ja, vielen Dank für die gekonnte Zusammenfassung, da kann man gut mit arbeiten, auch wenn einem natürlich die Praxis des Seminars fehlt.
Zum Thema Lesungen habe ich etwas Anzubieten, einen Ordner von Peter Reifsteck. "Handbuch Lesungen und Literatur Veranstaltungen"
Hat jemand Interesse? Ich würde es für etwa die Hälfte vom Preis verkaufen (hat neu 99,- Euro gekostet). Ich finde es ganz interessant, aber wenn man es einmal durch hat, braucht es nicht unnütze im Regal stehen, dann kann jemand anderes auch noch was davon haben.
Bei Interesse einfach eine private Nachricht senden.
Viele Grüße, Eluned