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Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27

Titel: Trauma schreiben
Beitrag von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27
Dieses Thema beschäftigt mich seit einer Weile, aber ausschlaggebend für diesen Post war ein Artikel von Parul Sehgal namens ,,The Case Against The Trauma Plot" (Link: https://www.newyorker.com/magazine/2022/01/03/the-case-against-the-trauma-plot). Der Artikel ist auf Englisch und auch nicht besonders leicht geschrieben, aber die Punkte, über die ich reden möchte, sind:
- Trauma ist mittlerweile aus unseren Geschichten kaum mehr wegzudenken und auch Klassiker werden dahingehend angepasst, zum Beispiel bei der Netflix-Verfilmung Anne with an E durch das Hinzufügen von Flashbacks aus Annes traumatische Zeit im Waisenhaus.
- Jude, der Protagonist aus Hanya Yanagiharas Roman A Little Life hat alle traumatischen Dinge erlebt, die man sich vorstellen kann. Im Roman bleibt sein Trauma das einzige, was ihn ausmacht, seine einzige Charaktereigenschaft. Der Trauma-Plot baut die Persönlichkeit einer Figur um ihr Trauma herum auf, manchmal ersetzt sie ihre Persönlichkeit auch durch Trauma.
Zitat,,With the trauma plot, the logic goes: Evoke the wound and we will believe that a body, a person, has borne it."
(,,Die Logik der Trauma-Handlung lautet: Zeige uns die Wunde und wir werden glauben, dass ein Körper, eine Person, sie getragen hat.")
- Trauma und Backstory sind zu Synonymen geworden. Literarisch gesehen ist dieser Fokus auf die Hintergrundgeschichte einer Figur aber relativ neu. Figuren existieren im Trauma-Plot nur, um in die Vergangenheit zurückzublicken.
- Die Definition der posttraumatischen Belastungsstörung ist offener geworden und lässt eine größere Diversität von Symptomen zu, aber die Vorstellung, wie sie auszusehen hat und was sie mit sich bringt, ist enger geworden. Realistische Darstellungen von Trauma oder die Geschichten von Überlebenden, die über ihr Trauma schreiben, werden oft abgelehnt, weil sie nicht dem gängigen Trauma-Narrativ entsprechen.
- Dennoch gibt es Geschichten, die Trauma beinhalten und sich dennoch nicht dem Trauma-Plot hingeben. Gute Geschichten benutzen Trauma laut Sehgal als Anfang, aber nicht als Mitte und Schluss.
Zitat" In these novels, my trauma becomes but one rung of a ladder. Climb it; what else will you see?"
("In diesen Romanen wird mein Trauma  nur zu einer Sprosse auf einer Leiter. Steig sie hinauf, was siehst du noch?")
Das ist insgesamt eine sehr unzureichende Zusammenfassung des Artikels und wenn ihr könnt, würde ich empfehlen, ihn selbst zu lesen (oder vielleicht einmal durch deepl.com zu jagen und dort auf Deutsch zu lesen). Aber der Artikel hat mich zum Nachdenken gebracht.

Ich mag Hintergrundgeschichten. Ich mag es, herauszufinden, wie eine Figur so geworden ist, wie sie ist, und zu lesen, wie sie sich von den Fesseln der Vergangenheit befreit. Ich mag Geschichten über Trauma und gleichzeitig hasse ich Geschichten über Trauma, denn vielen Punkten aus dem Artikel stimme ich zu.

Mich stört auf der einen Seite, was oft auch als ,,Trauma Porn" bezeichnet wird: Geschichten, in denen Trauma exzessiv ausgewalzt wird. Meistens geht es um das Trauma marginalisierter Gruppen, meistens werden diese Geschichten aber nicht für Angehörige dieser Gruppen geschrieben, sondern als Unterhaltung für nicht-Angehörige. Auf der einen Seite wird hier Trauma benutzt, häufig von Autor*innen, die gar nicht davon betroffen sind, ohne auf die Bedürfnisse derjenigen zu achten, die davon wirklich betroffen sind. Viele Geschichten über queere Menschen erzählen zum Beispiel exzessiv vom Leiden queerer Menschen und schreiben sowohl an den Bedürfnissen als auch an der Lebensrealität echter queerer Menschen vorbei. Da fällt mir spontan Not Your Type von Alicia Zett ein: Der Protagonist des Buches ist trans und der gesamte Konflikt des Romans dreht sich darum, dass er trans ist und sich in eine cis Frau verliebt. Seine Persönlichkeit dreht sich darum, dass er trans ist und deshalb depressiv. Als ich Rezensionen von trans Personen zum Buch gelesen habe, stach für mich heraus: ,,Für wen auch immer dieses Buch ist, es ist nicht für uns".

Was mich auch stört, beobachte ich häufig bei jungen Autor*innen, obwohl A Little Life dem auch zu entsprechen scheint: Figuren werden mit Trauma überhäuft. Es reicht nicht ein traumatisches Ereignis, die Figuren haben jedes denkbare Trauma erlitten und ihre Persönlichkeit wird komplett darauf reduziert. Trauma definiert die Figuren. Je mehr, je besser.

Dann steckt da häufig noch eine Menge Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen mit drin. Besonders Frauen passiert es oft, dass sie an ihrem Trauma, das in aller Breite ausgewalzt wird, völlig zerbrechen und wahnsinnig werden, was in den Augen vieler Autor*innen Grundlage für eine tolle Antagonistin ist, die man mehr bemitleidet als sie zu hassen. Das ist genauso problematisch wie Männer, die nur aufgrund ihres Wahnsinns, oft ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, Gräueltaten begehen. Natürlich gibt es das auch anders herum, aber insgesamt habe ich das Gefühl, dass Trauma bei Männern und Frauen anders geschrieben wird, genauso wie unsere Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an Männer und Frauen stellt, auch was Traumaverarbeitung angeht. Aber am Ende bleibt: Psychische Störungen führen zu Gräueltaten. Um Antagonist*innen interessanter zu machen, gibt man ihnen noch Trauma mit, das ihre Taten begründet und als Ersatz für eine echte Motivation hinhält, damit man Mitleid haben kann, während sie zugrunde gehen. Das trägt zur Stigmatisierung von psychischen Störungen bei und ist vollkommen unrealistisch, aber dennoch ziemlich beliebt.

Aber gleichzeitig mag ich Geschichten über Trauma auch. Ich mag tragische Hintergrundgeschichten, ich mag es, wenn Figuren sich den Geistern ihrer Vergangenheit stellen und darüber hinaus wachsen. Ich glaube, es ist wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Ich mag Antagonist*innen mit tragischen Hintergrundgeschichten, ich mag es, wenn ich verstehen kann, warum Antagonist*innen das tun, was sie tun. Meine liebsten Bücher beinhalten alle irgendwie tragische Hintergrundgeschichten oder Trauma. Ich mag es, wenn Ereignisse in den Büchern Folgen für die Protagonist*innen haben. Ich weiß, ungefähr jede Geschichte mittlerweile davon handelt, die Geister der Vergangenheit zu besiegen, aber gleichzeitig mag ich solche Geschichten einfach wirklich gerne. Das lese ich gerne. Das schreibe ich gerne. Insofern geht es mir auf keinen Fall darum, auf Trauma zu verzichten, sondern darüber zu sprechen, wie man das gut umsetzen kann und welche Fallstricke es gibt, damit ich sie in meinen eigenen Büchern vermeiden kann.

Insgesamt stimme ich dem Artikel definitiv zu, dass es eine große Diskrepanz zwischen dem gibt, was realistisch ist, und dem, was als realistisch empfunden wird. Hier frage ich mich auch, ob das vielleicht vom Genre abhängig ist. Welche Erwartungen haben Leser*innen hier an bestimmte Genres und wie kann man sie durchbrechen? Wie kann man Trauma schreiben, sodass es auch von den Leser*innen akzeptiert wird? Wie bringe ich ihnen halbwegs realistische Geschichten nahe? Denn gut geschriebene und realistische Geschichten bringen ja niemandem etwas, wenn sie niemand lesen will.

Und wie schaffe ich die Balance zwischen einem Trauma-Plot und einem Buch, in dem Figuren nicht nur durch ihr Trauma definiert sind? Wie stelle ich Trauma realistisch dar und schreibe gleichzeitig nicht an den Bedürfnissen von Gruppen vorbei, deren Trauma ich für meine Geschichten benutze? Wie umgehe ich diskriminierende Stereotype?

Wie seht ihr das? Was stört euch an der Darstellung von Trauma, was findet ihr gut? Welche Beispiele fallen euch ein? Mich interessiert, was ihr dazu denkt.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: KaPunkt am 03. Februar 2022, 19:09:22
Oh wow.
Darüber muss ich sehr lange nachdenken und freue mich schon auf die Antworten hier.
Aber eines fällt mir schon, das hilfreich sein könnte:
Wie eine traumatisierte Figur schreiben, die nicht nur über ihr Trauma definiert wird?

Der Ansatz, der sich für mich als hilfreich erwiesen hat, ist, das Trauma erstmal zu ignorieren und zu überlegen, was für eine Person vor dem Trauma da war / ist. Da sollte kein leerer Umriss stehen sondern bereits eine komplexe, fertige Persönlichkeit.
Dann kommt das Trauma und hinterlässt Spuren, die die Figuren verändern, aber eben niemals soweit, dass von der ursprünglichen Persönlichkeit nichts mehr übrig bliebe.

Wenn ich ein Bild verwenden darf: Es gibt eine Vase. Die Vase fällt vom Tisch und zerbricht. Die Vase wird aus den Scherben wieder zusammengesetzt (vielleicht fehlen trotzdem noch ein paar Stücke). Die Vase sieht jetzt anders aus, aber man kann noch erahnen, wie die Vase vor dem Sturz aussah und sich anfühlte.
Fällt als nächstes der Steingut-Topf herunter, zerbricht und wird wieder geflickt, ist er nicht nur immer noch als fundamental anders als die Vase erkennbar - er ist auch an anderen Stellen gebrochen.

Und jetzt denke ich weiter darüber nach, was ich warum gerade mit meiner aktuellen Hauptfigur und dem Plot mache.

Liebe Grüße,
KaPunkt
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 03. Februar 2022, 22:12:46
Oh, das ist ein spannendes Thema!
In meiner Geschichte spielt Trauma auch eine große Rolle und ich habe mich lange und intensiv damit auseinandergesetzt. Tatsächlich war das einer der Gründe, warum ich mich jahrelang davor gedrückt habe, tatsächlich mit dem Schreiben daran anzufangen - weil ich Angst hatte, den angesprochenen Themen nicht gerecht werden zu können. Zumal gerade bei solchen Themen sehr viel Empathie und Fingerspitzengefühl gefragt ist.
Meine Lösung war: Viel recherchieren und zu versuchen, so authentisch wie möglich zu schreiben. Ein Gefühl dafür entwickeln.

Sehr gut fand ich z.B. Narben der Gewalt (https://www.amazon.de/dp/3955716244/ref=cm_sw_em_r_mt_dp_FMM6MCE8180AMXMKGTBJ), Wege zur Selbstheilung für Überlebende sexueller Gewalt (https://www.amazon.de/dp/3944666593/ref=cm_sw_em_r_mt_dp_XJT4G32VMFKFSV52YCAE) und Dear sexual abuse survivor: This is the Guide I Wish Someone Had Written for Me (https://www.amazon.de/dp/B00B1EOQZ4/ref=cm_sw_em_r_mt_dp_293QGFP5RXT7PN0EQQ4B) (letzteres ist besonders interessant, da es von einer Überlebenden verfasst wurde). Das nur mal als Grundlagenrecherche für Trauma an sich. Ansonsten empfehle ich, Biographien bzw. Erzählungen von Betroffenen zu lesen, um sich wirklich mit den Menschen dahinter und deren Themen auseinanderzusetzen, um Verständnis und Gespür für sie zu entwickeln.
Ein paar Empfehlungen dazu:
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


ZitatUnd wie schaffe ich die Balance zwischen einem Trauma-Plot und einem Buch, in dem Figuren nicht nur durch ihr Trauma definiert sind? Wie stelle ich Trauma realistisch dar und schreibe gleichzeitig nicht an den Bedürfnissen von Gruppen vorbei, deren Trauma ich für meine Geschichten benutze? Wie umgehe ich diskriminierende Stereotype?
Ich glaube, der wichtigste Punkt ist, den Menschen hinter dem Trauma zu sehen und ihn nicht "nur" auf sein Trauma zu reduzieren. Und dann auch diesen Menschen mit all seinen Facetten zu schreiben, und nicht nur die "klassischen" Symptome seines Traumas, die sich 1:1 auf jeden anderen x-beliebigen Charakter übertragen lassen (und ihn dadurch darauf reduzieren und ersetzbar machen).
Ich glaube, dass es gerade hier oft zu Stereotypen kommt, wenn man sich eben nicht intensiv genug damit auseinandersetzt und [beliebiges Trauma hier einfügen] in seine Geschichte hineinbringen möchte, nur weil es gerade modern ist, oder man irgendeinem Charakter dadurch mehr "Pep" verpassen, oder ihm den Anschein von Tiefe geben will. Auf diese Weise bleibt es dann leicht oberflächlich.
Finde ich auch verständlich. Trauma klingt vielleicht "cool" als spannende Hintergrundgeschichte, die man "mal eben schnell" dem Antagonisten oder einem der Charas andichtet. Aber wenn man sich wirklich damit auseinandersetzt und in dieses Thema eintaucht, kann das durchaus ziemlich wehtun, da es einen dazu zwingt hinzusehen. Aber genau das ist, denke ich, nötig, wenn man ein solches Thema authentisch schreiben - und dem auch gerecht werden will.

Jeder Mensch hatte ein Leben vor seinem Trauma und hat einen eigenen, einzigartigen Charakter, der durch dieses erschüttert, oder komplett zerstört wird. Die meisten stehen dann erstmal vor diesem Scherbenhaufen und zerbrechen daran, finden einen Weg, damit zurechtzukommen, oder gelangen zu tatsächlicher Heilung.
Wie ein Mensch auf ein traumatisches Ereignis reagiert und welche Folgen es für ihn hat, kann sich - obwohl es viele Symptome gibt, die häufig vorkommen und dadurch als typisch gelten - total unterscheiden.
Je nach dem Charakter des Menschen, der Situation selbst und - nicht zu unterschätzen - seinem Umfeld.

War er vorher schon eher ein "Lone Survivor", der sich nach einem derartigen Ereignis vermutlich komplett zurückzieht, soziale Kontakte abbricht, sich von der Welt zurückzieht und verbittert?
War es eher eine Person, die lösungsorientiert und gemeinsam mit anderen handelt und ihre Ängste und Gefühle offen mitteilt, und dadurch vermutlich bessere Chancen hat, nicht ganz in Verzweiflung abzusacken, als jemand, der alles in sich hineinfrisst?
Gibt es jemanden, der für den Überlebenden da war, ihn unterstützt, oder ihm zumindest zuhört? Familie, Freunde, oder ein Therapeut? Hatte der Überlebende nach seinem traumatischen Erlebnis ein sicheres Umfeld, das ihn auffängt und in dem er lernen kann, wieder Vertrauen zu fassen? Oder war er auf sich allein gestellt, bzw. wurde er dann auch noch Opfer von victim blaming, was sein Vertrauen in die Gesellschaft noch weiter erschüttert und seine Überzeugung stärkt, alleine dazustehen, weil niemand ihm helfen kann/will?

Es gibt unzählige Faktoren, die - außer dem traumatischen Ereignis selbst - Art und Schwere des Traumas selbst beeinflussen können, daher würde ich jeden Charakter, den du schreiben willst, auch als vollständige Person betrachten und all das auch in deine Geschichte miteinbeziehen, um ihn dreidimensional zu machen und ihn damit nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren.

Außerdem ist es, denke ich, wichtig, dass man in seiner Geschichte eines sehr deutlich macht: Egal ob Trauma oder psychische Krankheiten: Es trifft nicht immer nur den Antagonisten, sondern es kann alle Menschen treffen und es macht sie weder böse, noch schlecht.
Klar mag es "cool" wirken, dem Anta damit mal eben schnell mehr "Tiefe" oder einen einfachen Grund zu geben, warum er tut, was er tut. Aber ich finde es schade, wenn man die wirklich Betroffenen dadurch immer wieder in dieselbe Schublade steckt.

Hoffe, das hilft. :)


EDIT:
Außerdem würde ich noch überlegen, wo du mit deiner Geschichte hin willst und welche Art von Trauma du warum aufgreifen möchtest.
Generell hat man bei Trauma ja oft die "klassischen" Auslöser wie z.B. Kriegstrauma oder Vergewaltigung im Kopf, mit den "klassischen" Symptomen wie PTBS, Flashbacks, Alpträume,...

Abgesehen davon gibt es ja noch unzählige weitere Auslöser und Arten von Traumata, sei es durch Naturkatastrophen, Gefangenschaft, Unfällen, oder den "alltäglichen" aber eher unerkannteren wie z.B. dem passiven Trauma (durch Vernachlässigung, unterlassene Hilfeleistung, oÄ), oder Kindheitstraumata, an die sich der Betroffene oft gar nicht erinnert, aus denen sich allerdings auch eine Borderline Persönlichkeitsstörung (die ja meist leider auf das "klassische" Schneiden reduziert wird), oder z.B. eine multiple Persönlichkeitsstörung entwickeln kann.
Es ist ein sehr vielschichtiges Thema, da es eben so viele verschiedene Formen annehmen kann, von denen sich viele Betroffene im Alltag gar nicht bewusst sind oder nie auf die Idee kämen, ihr eigenes Verhalten oder ihre körperlichen/psychischen Symptome mit einem traumatischen Erlebnis in Verbindung zu bringen.

Körperliche Symptome werden bei dem Thema ja auch gerne vernachlässigt, denke ich. Obwohl sie sehr wichtig sind, da der Körper - selbst wenn der Geist vergisst - das Erlebte abspeichert und es in Form von z.B. chronischen Schmerzen aufleben lassen kann.


Ein gutes Buch ist mir auch noch eingefallen (der Titel mag in dem Zusammenhang provokant wirken, da das Wort "Narzissmus" sofort negative Assoziationen weckt - wenn man das ignoriert und dem Buch eine Chance gibt: Ich finde es sehr wertvoll und es hat mir viel gebracht): Narzissmus - dem inneren Gefängnis entfliehen (https://www.amazon.de/dp/B06XKHXB9P/?coliid=I2UUBC554NC7KR&colid=3GN3XK960KWA8&psc=0&ref_=lv_ov_lig_dp_it)
Gerade in diesem Buch wird vielleicht auch klar, wie alltäglich Trauma eigentlich ist - nicht nur im Großen, sondern auch im "Kleinen", wo es uns selbst gar nicht bewusst wird.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Alana am 03. Februar 2022, 22:55:40
Mich stört vor allem, wenn Trauma falsch / problematisch dargestellt oder problematisch aufgelöst wird. Und im Zusammenhang damit stört mich vor allem massiv der Trend des Traumas als Plot Device, so wie es häufig bei New Adult der Fall ist. Die Lebenswirklichkeit mit dem Trauma ist nur Vorwand für toxisches Verhalten und dient am Ende als Wendepunkt, wird aber nicht oder extrem falsch aufgearbeitet.

Beispiel: Cinder und Ella.

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Ich selbst schreibe auch über Traumata, aber immer mit der Absicht, sie wirklich aufzuarbeiten und Klischeedarstellungen aufzudecken bzw. eben zu zeigen, wie das Leben mit dem Trauma wirklich ist. Ich habe für mehrere Bücher entsprechende Mails von Betroffenen bekommen, die quasi sagten: endlich schreibt mal einer, wie es wirklich ist. Das ist für mich das größte Kompliment.

Leider ist das Trauma als Plot Device aber beliebter, denn man möchte einen tollen, dramatischen Moment, sich aber wirklich damit beschäftigen, wollen deutlich weniger Leute.

Ergänzung: Ich mache dabei garantiert auch vieles falsch, das bleibt vermutlich nicht aus, egal, wie sehr man sich bemüht.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Manouche am 03. Februar 2022, 22:59:03
Wow, ja ein sehr spannendes Thema. Mir geht es ähnlich wie @KaPunkt ich denke an meine Figuren und überlege, ob ich hier da ein ,,Trauma" zu leicht einsetze.
Genauso, wie ich mir nicht sicher bin, ob ich beim Schreiben immer korrekt damit umgehe, masse ich mir nicht so richtig an hier über Trauma zu schreiben. Aus Unsicherheit, eine Aussage zu machen, die ich bei längerem Überlegen vielleicht anders sehe. Trotzdem möchte ich ein paar meiner Gedanken mit euch teilen und mit euch in den Austausch kommen.

@Mondfräulein:
ZitatGute Geschichten benutzen Trauma laut Sehgal als Anfang, aber nicht als Mitte und Schluss.

Dies scheint es für mich schon mal sehr auf den Punkt zu bringen. Ein Trauma macht etwas mit den Menschen. Es lässt die Betroffenen das Leben oder bestimmte Situationen auf eine andere Art, auf eine neue Weise erleben. Aber auf jeden Fall lässt ihre Geschichte, ihr Leben sich nicht auf das Trauma reduzieren. Und das darf meiner Meinung nach in den meisten Bücher auch nicht passieren. Ich schreibe ,,in den meisten", da ich sicher bin, wenn die richtigen Personen auf die richtige Art und vor allem ohne Sensationslust ein Buch über ein Trauma schreibt, kann das gut sein, eindrücklich und ,,lehrreich". Würde ich mir aber niemals anmassen.

Das wissen von einem Trauma kann uns helfen Menschen besser zu verstehen. Es kann auch Betroffenen helfen, sich selber besser zu verstehen, Schwierigkeiten, Ängste etc.

Traumas in einem Roman einzubauen, passiert vermutlich häufiger, als uns bewusst ist, wenn wir eine Charakterbeschreibung machen. Und da Trauma ein sehr weiter Begriff ist, denke ich, ist auch der Spielraum sehr gross. Gewisse Traumas haben eine weniger einschneidende Wirkung auf das Leben als andere. Und jeder Mensch geht anders um mit einschneidenden Erlebnissen.

Ausschnitt aus Wikipedia:
ZitatAls psychisches, seelisches oder mentales Trauma (Plural Traumata, Traumen; von altgriechisch τραύμα ,Wunde') wird analog zum Trauma in der Medizin in der Psychologie eine seelische Verletzung bezeichnet, die mit einer starken psychischen Erschütterung einhergeht und durch sehr verschiedene Ereignisse hervorgerufen werden kann. Der Begriff ist unspezifisch und wird verwendet für das Erleben einer Diskrepanz zwischen einem bedrohlichen bzw. als bedrohlich erlebten Ereignis und den individuellen Möglichkeiten, das Erlebte zu verarbeiten. Beides kann sich in zahlreichen Merkmalen wie Qualität, Ausprägung und Folgen unterscheiden. Insofern werden so verschiedene Geschehnisse wie beispielsweise ein Kindheitstrauma oder ein Kriegstrauma unter dem gemeinsamen Oberbegriff gefasst. Zu den Folgen können psychische oder körperliche Symptome gehören, die gemeinhin unter dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden,[1] sofern sich nicht spezifische Begriffe etabliert haben, wie das Stockholm-Syndrom bei Opfern von Geiselnahmen. Die Lehre von den psychischen Traumafolgen ist die Psychotraumatologie.


Ich sehe es wie du @Mondfräulein, Hintergrundgeschichte macht die Figuren in Romanen vielschichtig und interessant. Es ist das was mich häufig in den Geschichten interessiert. Es ist ihre Vergangenheit, welche die Protagonisten zu dem macht, was sie sind. Und manchmal sind die Hintergrundgeschichten traumatisch. Doch für meinen Geschmack muss da nicht "alles ausgekostet" werden. Wenn ihre versteht was ich meine, sonst wird es mir eher zur Sensation...

Als Autorin will ich versuchen mich wirklich in das Denken und Fühlen der Charaktere hineinzuversetzen. Ich masse mir aber nicht an, über ein Trauma zu schreiben, dass zu weit von meiner Erlebniswelt entfernt ist. Gewisse Schicksale kann ich/ können wir mit unserem eigenen Erleben nachempfinden. Andere können wir zwar verstehen und nachvollziehen, aber wirklich das Gefühl kennen, können wir vermutlich nicht. Und das ist natürlich sehr von unserem eigenen Leben und Umfeld abhängig. Und ja @Rhagrim , du hast natürlich recht, je nach Trauma, dass beschrieben wird, ist Recherche sehr wichtig.

So sehe ich das im Moment. Und ich denke, wenn Autor*innen ihren Charakteren Hintergrundgeschichten geben, um ihnen mehr Tiefe verleihen, wenn sie mit den Traumas ,,respektvoll" und emphatisch umgehen, dann werden die Leser*innen einerseits eine tiefere Geschichte erhalten und andererseits einen Einblick in das Gefühlsleben anderer Menschen bekommen. Das wiederum lässt sie vielleicht allgemein emphatischer werden mit ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. Ich bin da vielleicht etwas naiv und sentimental, aber der Gedanke gefällt mir gerade sehr.

Zitat @Rhagrim
ZitatAußerdem ist es, denke ich, wichtig, dass man in seiner Geschichte eines sehr deutlich macht: Egal ob Trauma oder psychische Krankheiten: Es trifft nicht immer nur den Antagonisten, sondern es kann alle Menschen treffen und es macht sie weder böse, noch schlecht.
Klar mag es "cool" wirken, dem Anta damit mal eben schnell mehr "Tiefe" oder einen einfachen Grund zu geben, warum er tut, was er tut. Aber ich finde es schade, wenn man die wirklich Betroffenen dadurch immer wieder in dieselbe Schublade steckt.

Ja, im Gegenteil, die Antagonisten als traumatisierte Charaktere zu beschreiben finde ich mehrfach problematisch.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Andersleser am 04. Februar 2022, 08:34:48
Also was ich auf jeden Fall empfehlen kann, bei all solchen Themen: Sensitivity Reading.
Es gibt sogar eine Seite, wo einige Sensitivity Reader aufgelistet sind, jeweils mit den Themen, die sie anbieten gegenzulesen. Da hat man direkt vom Betroffenen die Rückmeldung. Das hilft, denke ich, noch mit am besten zu sehen, wo man noch was anders machen muss. :) https://sensitivity-reading.de/
Generell gilt aber ohnehin, dass auch da natürlich nur die Sichtweise eines Menschen kommt, nicht die aller betroffenen. Aber wenn man es anbietet, schaut man ja schon darauf, was potentiell schlecht sein könnte, nicht nur für sich - sondern auch mit Blick auf Allgemeines des Themas.

Was ich generell schlimm finde: wenn egal ob Trauma, Behinderung, oder was auch immer, es einfach nur der Punkt ist, den der Loveinterest reparieren muss. Das ist absolut kein starkes Motiv und es bringt eher das Bild, dass der arme Mensch gerettet werden muss. Nicht dass man selber damit klar kommen kann. Klar, auch hier gilt, dass es natürlich mit und ohne Unterstützung funktioniert. Unterstützung ist nicht schlimm. Es geht mir gar nicht um den Punkt der Unterstützung, sondern darum, dass die Geschichten immer so ausgelegt sind, dass es ausschließlich mit dieser Person geht und mit sonst niemandem. Dass nur die Liebe alles retten kann. Oder das generell jemand anderes hier erscheinen und der strahlende Held sein muss, der diesen armen, armen Menschen wieder ins Leben holt. (Ich drücke das überspitzt aus, weil genau das sehr oft vermittelt wird) Versteht mich nicht falsch, es kann durchaus schwer und schlimm sein, aber in der Regel kommt man selbst wieder hoch. (Auch wenn es natürlich immer auch die gibt, die es nicht schaffen, auch mit Hilfe, das darf man nicht vergessen)

Das Bild was ich meine: Mensch landet im Rollstuhl, ist extrem Depressiv, will am besten nicht mehr leben und dann kommt da dieser Mensch, man verliebt sich und ach oh wunder - das ist ja gar nicht dramatisch, jetzt komm ich super damit klar. So wie man es in Filmen fast permanent gezeigt bekommt.
Genauso das Bild: Mensch landet im Rollstuhl und muss da natürlich unbedingt, zwingend...depressiv werden. Nein, muss Mensch nicht - aber das ist leider das gängige Bild, weil genau das - wie gesagt - im Fernsehen oder Buch exakt so gezeigt wird. Klar, das passiert durchaus, das nimmt sehr viele sehr stark mit, und ja, manche entwickeln auch eine Depression - vor allem wenn es plötzlich und ohne Gewöhnung kommt, selbst dann noch - aber es ist eben auch nicht immer und nur so.
Aber der Punkt ist, dass die Geschichten von Menschen erzählt werden, die das nicht kennen, die nicht mal Berührungspunkte haben, aber für die es absolut unvorstellbar und das schlimmste der Welt ist, nicht mehr laufen zu können. Die meinen "Boa das könnte ich nicht" (als hätten Betroffene irgendwie eine Wahl). Und wenn man diesem in der Realität dann nicht entspricht, dann wird einem unter Anderem selbst von Ärzten unterstellt, man "wäre geil auf den Rollstuhl", wenn es nicht durch Unfall sondern Erkrankung passiert und man noch keine Diagnose hat/was seltenes hat. (Und ja, es gibt echt Ärzte die das exakt so sagen - waren die Worte als ich meinen ersten Rolli bekam und mich richtig über das Teil freut. Darüber, mich wieder fortbewegen zu können.)
Denn das Bild: Du hast gefälligst depressiv zu sein. Du musst eine tragische Figur sein. Immerhin "ist es nicht lebenswert" (Spoiler: es ist lebenswert. Natürlich.)

Okay, da bin ich abgeschweift. Zurück zum Trauma-Thema:
Auch hier wünsche ich mir mehr Realität. Liebe heilt kein Trauma mal eben so. Und mit ein bisschen sexueller Aktivitäten mit dem richtigen Menschen ist ein diesbezügliches Trauma auch nicht zu überwinden. Schon gar nicht einfach so und ohne jede Warnung. (und das gibt es in Büchern ja echt, da will man die Geschichte gern an die Wand werfen). Vor allem werden eben auch echt oft Klischees und Vorurteile immer wieder aufgegriffen, weil man es überall so vorgesetzt bekommt. Da kann ich wirklich nur empfehlen: Ganz viel Recherche und unbedingt mit betroffenen sprechen. Sensitivity Reading nutzen. Es verzerrt sonst die Realität einfach so so sehr. Ein klasse Beispiel (wenn auch nicht Trauma): Autismus.
Was denkt der Mensch, wenn er hört, da ist wer autistisch?
- Geistig behindert, spricht nicht, schaukelt hin und her
- Rain Man (Wahlweise: Oh Autismus kenn ich, ich hab Rain Man gesehen. Wobei eh generell von einen Autistischen Menschen auf alle geschlossen wird)
- Kann das Telefonbuch Rückwärts aufsagen und alle Bahnlinien auswendig.
- Hat eine ganz bestimmte stark ausgeprägte Begabung
- Kontraste sind ja toll also heute noch die Zweitversion: Das sind doch die superschlauen (die aber keine Schuhe binden können)
(und es gibt etliche weitere Klischees und Vorurteile, sodass selbst "Spezialisten" meinen, "Ach der kann das und das, das kann kein Autist sein" Da denke ich mir nur: 6! Setzen und nochmal studieren") Diese Klischees und Vorurteile sind einfach ungesund und helfen niemandem. Klar hat man mit einer bestimmten Diagnose Gemeinsamkeiten. Aber die Zusammenstellung an Einzelsymptomen sind bei jedem anders. Manche haben das, andere nicht - dafür aber jenes, usw. Nicht jeder reagiert auf etwas gleich. Weil jeder, egal mit was für Diagnosen, unabhängig davon ein Individuum ist.

Das Zeigt nur wieder ganz toll, wie auch das Rolli-Motiv, dass wir uns sehr stark von TV und Buch beeinflussen lassen, und das für "echt" und "realistisch" halten, weil wir es nicht kennen und meinen, dass es "schon so sein müsse", oder weil wir vielleicht eine Person im Umfeld haben. Oder "Die Tochter eines Schwagers der Freundin hat ja...". Daher erwähne ich auch immer wieder Sensitivity Reading - weil dann problematischere Bilder vermieden werden können und die Realität nicht mehr so sehr verzerrt wird. Ich denke schon, dass es gelesen werden würde, auch wenn es realistischer bleibt. Die Leserschaft Stück für Stück der Realität aussetzen.

Traumatische Erfahrungen einzubauen finde ich gut und in Ordnung. Erfahrungen prägen den Charakter und traumatische Erlebnisse, selbst wenn sie nur für den Charakter traumatisch sind, die machen nun mal was mit einem. Wie andere hier schon sagten: Der Charakter hat vor dem Trauma auch existiert. Wie war er da? Wie hat das Erlebte ihn beeinflusst? Meidet der Charakter bestimmte Dinge? Entwickelt dieser Zwänge? Ängste? Was Triggert den Charakter? Welche Rolle nimmt das Trauma der Figur in der Story ein? Muss es zwingend in Gänze ausgereizt werden? Muss es haargenau erzählt sein, oder reichen auch einzelne Szenen/Erwähnungen..
Man muss das Trauma nicht zwingen ins Zentrum stellen - es muss in einer Geschichte auch nicht zwanghaft verschwinden, nur weil das Buch bald endet. (Ein Trauma verschwindet nicht einfach und alles was verdrängt wird, haut einen irgendwann auch wieder um) Eine gute Lösung fände ich schon, wenn man nicht einfach alles gut werden lässt. Ein Happy End geht auch mit. Das Erlebte bleibt für immer. Die Vergangenheit bleibt für immer. Es ist nicht einfach vergessen. Man kann es nur aufarbeiten und damit leben und klar kommen. Aber es bleibt nun mal. Es wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:22:01
Zitat von: Andersleser am 04. Februar 2022, 08:34:48
Was ich generell schlimm finde: wenn egal ob Trauma, Behinderung, oder was auch immer, es einfach nur der Punkt ist, den der Loveinterest reparieren muss. Das ist absolut kein starkes Motiv und es bringt eher das Bild, dass der arme Mensch gerettet werden muss. Nicht dass man selber damit klar kommen kann. Klar, auch hier gilt, dass es natürlich mit und ohne Unterstützung funktioniert. Unterstützung ist nicht schlimm. Es geht mir gar nicht um den Punkt der Unterstützung, sondern darum, dass die Geschichten immer so ausgelegt sind, dass es ausschließlich mit dieser Person geht und mit sonst niemandem. Dass nur die Liebe alles retten kann. Oder das generell jemand anderes hier erscheinen und der strahlende Held sein muss, der diesen armen, armen Menschen wieder ins Leben holt.
Dem schließe ich mich an. Was mich in solchen Fällen am meisten stört, ist, dass das Trauma meist von heute auf gleich verschwindet. "Because it´s love". Es gibt kaum bis gar keine Auseinandersetzung mit dem Heilungsprozess oder dem Leben mit dem Trauma, sondern der Betroffene ist wie durch ein Wunder plötzlich geheilt - dank der Liebe der/des Auserwählten.
Für mich ist diese Botschaft absolut klischeebehaftet und schädlich, weil es dadurch einerseits eine Botschaft der Abhängigkeit vermittelt und andererseits die Illusion, dass man Trauma mit genug Liebe einfach wegzaubern kann.

Das geht nicht. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die es tatsächlich schaffen, ihr Trauma so vollständig zu überwinden, dass es sie im Alltag überhaupt nicht mehr belastet.
Meiner Erfahrung nach kann man nur lernen, damit zu leben - oder sogar gut damit zu leben (was natürlich wieder variiert, je nach Erfahrung).

Das ist ein Punkt, den ich persönlich wichtig fände, aufzuzeigen, gerade in Geschichten über Trauma: Man kann einen Umgang damit finden. Man kann sich aus diesem Sumpf wieder herausarbeiten und damit zu leben lernen - Je nach Charakter, Situation und Umfeld bzw. Unterstützung, mehr oder weniger gut. Es ist Heilung möglich, auch wenn man den Rest seines Lebens mit den Folgen zu leben hat und einen diese immer wieder mal einholen. Das gehört einfach dazu und es ist - ich spreche hier nur mal von mir - illusorisch zu glauben, dass man das zu 100% wegbekommt und nie wieder damit konfrontiert wird. Es wird bis zu einem gewissen Grad immer eine Belastung bleiben - aber eine, mit der es sich gut leben lässt, wenn man es schafft, es aufzuarbeiten und sich selbst trotz seiner "Beeinträchtigungen" oder "Macken" zu akzeptieren und mit diesen zu arbeiten, anstatt sie zu verdrängen oder sich permanent dafür zu verurteilen.
Man muss sie eben in sein neues "Ich" integrieren und dieses trotzdem als liebenswert und wertvoll anerkennen können.

Sehr viel im Trauma hat ja auch mit Schuld, Selbsthass, Minderwertigkeitsgefühlen zu tun und aus der Spirale rauszukommen, ist schwer. Ist alleine besonders schwer, denn schlimmer als das Ereignis an sich, empfinde ich die Einsamkeit und das Gefühl des Abgeschottet seins, die folgen.
"Keiner kann das verstehen", "Ich will/kann andere nicht damit belasten", "Niemand kann/will mir helfen", "Wenn sie wüssten, dass... werden sie mich verurteilen und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen".... etc.
Das ist eine Spirale die sich unendlich in die Tiefe drehen kann und - meiner Erfahrung nach - kommt man da alleine nur sehr schwer bis gar nicht wieder raus, weil es keinerlei positiven Input gibt, der einem das Vertrauen gibt, warum es das wert sein sollte zu vertrauen. Es zu versuchen, sich da wieder hochzuarbeiten. "Positiv" zu sein. Kontakt zu suchen.
Zumal man selbst die Verbindung oft nicht ziehen kann und das eigene Verhalten als "normal" wahrnimmt, obwohl man selbst vielleicht darunter leidet und nicht verstehen kann, warum man so zornig, hilflos, verzweifelt, traurig, verbittert ist und auf manche Situationen mit einer emotionalen Heftigkeit reagiert, die anderen als unangebracht erscheint.


ZitatEs wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.
Deswegen stimme ich dir schon, aber nur bedingt zu, @Andersleser
Ich glaube schon, dass Liebe sehr sehr viel bewirken kann - allerdings haben wir ein oft - meiner Meinung nach - verzerrtes Bild von der Liebe bzw. der romantischen Idee der Liebe, die oft eher auf körperlicher Anziehung und Lust basiert.
Ich rede hingegen von der bedingungslosen Liebe, die nicht zwangsläufig an romantische Beziehung gekoppelt sein muss. Eine Liebe, die dich akzeptiert, wie du bist und die nicht versucht, dich zu verändern, dich zu reparieren, oder dich in ein Bild zu pressen, dem du nicht entsprechen kannst.
Eine Liebe, die dir die Hand reicht, um dir zu helfen aufzustehen, wenn es dich wiedermal mit dem Gesicht in den Dreck wirft und die dir gleichzeitig das Gefühl vermittelt, trotz des würdelosen Abganges und dem Matsch im Gesicht, ein wertvoller Mensch zu sein, der es wert ist, geliebt zu werden.
In so etwas steckt wahnsinnig viel heilende Kraft - ist aber alles andere ls selbstverständlich. Wer will sich schon wirklich mit so jemandem auseinandersetzen? Ihm einfach zuhören und gemeinsam mit ihm den Abgründen des menschlichen Wesens, die sich oft jenseits der anerkannten Realität befinden und gerne verleugnet, verdrängt oder schöngeredet werden, ins Gesicht zu sehen. Ihn akzeptieren, mit all seinen Ecken und Kanten - und dabei die eigenen Grenzen zu wahren, ohne sie dem anderen mitsamt den eigenen Wertvorstellungen überzustülpen?

Klar kann man alleine einen Umgang damit finden. Bleibt einem in vielen Situationen ja auch nichts anderes übrig, wenn es (zumindest gefühlt) keine Schulter gibt, auf die man sich stützen kann. Es ist halt... einsamer. Und ein härterer Pfad, als wenn man tatsächlich Unterstützung bekommt und wenigstens das Gefühl hat, nicht völlig allein auf dieser Welt dazustehen.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Andersleser am 04. Februar 2022, 09:41:07
Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:22:01

ZitatEs wäre glaube ich schon ein Anfang, wenn der Charakter nicht als etwas zu reparierendes gilt und wenn es nicht die Liebe braucht um diesen zu retten. Das ist einfach auf ganzer Linie Quatsch. Ich kann auch noch so sehr geliebt werden, das macht das traumatische Erlebnis auch nicht besser oder weg. Man kann allenfalls helfen und unterstützen.
Deswegen stimme ich dir schon, aber nur bedingt zu, @Andersleser
Ich glaube schon, dass Liebe sehr sehr viel bewirken kann - allerdings haben wir ein oft - meiner Meinung nach - verzerrtes Bild von der Liebe bzw. der romantischen Idee der Liebe, die oft eher auf körperlicher Anziehung und Lust basiert.
Ich rede hingegen von der bedingungslosen Liebe, die nicht zwangsläufig an romantische Beziehung gekoppelt sein muss. Eine Liebe, die dich akzeptiert, wie du bist und die nicht versucht, dich zu verändern, dich zu reparieren, oder dich in ein Bild zu pressen, dem du nicht entsprechen kannst.
Eine Liebe, die dir die Hand reicht, um dir zu helfen aufzustehen, wenn es dich wiedermal mit dem Gesicht in den Dreck wirft und die dir gleichzeitig das Gefühl vermittelt, trotz des würdelosen Abganges und dem Matsch im Gesicht, ein wertvoller Mensch zu sein, der es wert ist, geliebt zu werden.
In so etwas steckt wahnsinnig viel heilende Kraft - ist aber alles andere ls selbstverständlich. Wer will sich schon wirklich mit so jemandem auseinandersetzen? Ihm einfach zuhören und gemeinsam mit ihm den Abgründen des menschlichen Wesens, die sich oft jenseits der anerkannten Realität befinden und gerne verleugnet, verdrängt oder schöngeredet werden, ins Gesicht zu sehen. Ihn akzeptieren, mit all seinen Ecken und Kanten - und dabei die eigenen Grenzen zu wahren, ohne sie dem anderen mitsamt den eigenen Wertvorstellungen überzustülpen?

Klar kann man alleine einen Umgang damit finden. Bleibt einem in vielen Situationen ja auch nichts anderes übrig, wenn es (zumindest gefühlt) keine Schulter gibt, auf die man sich stützen kann. Es ist halt... einsamer. Und ein härterer Pfad, als wenn man tatsächlich Unterstützung bekommt und wenigstens das Gefühl hat, nicht völlig allein auf dieser Welt dazustehen.

@Rhagrim ich glaube da hab ich mich einfach ungeschickt ausgedrückt. 
Dass Liebe (egal welcher Ebene) natürlich helfen kann ist völlig klar. Nur eben nicht ausschließlich und auf die Art wie in Buch und Film - und nicht Allheilmittel und restlos. Dass sie helfen kann, da stimme ich dir auch völlig zu. Das ist was absolut wertvolles. Ich wüsste gar nicht wo ich ohne diese eine Freundschaft stünde, in der wir uns beide so sehr stützen. Das kann unheimlich viel machen und helfen (und irgendwo heilen). Wenn man diesen Menschen hat, wo man einfach alles sagen kann, bei dem man wirklich über alles sprechen kann, wenn es nötig ist. Es ist auch einfach wichtig es rauslassen zu können, es einfach aus sich raus zu kriegen - das kann ja schon reichen um etwas zu erleichtern. Man kann sich da auch einfach auf ganz andere Art fallen lassen und sein, als bei anderen Menschen. Es ist auch einfach eine große Sicherheit, die so jemand geben kann - allein durch das da sein
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Sunflower am 04. Februar 2022, 09:49:24
Ich finde den "Liebe rettet alles"-Trope auch richtig, richtig furchtbar  :D

Ich finde auch, dass Trauma und insbesondere Trauma-Heilung in den Medien (nicht nur Bücher, auch Filme und Serien) oft nicht gut dargestellt wird. Gefühlt gibt es auf der einen Seite die Figuren, die alle möglichen schlimmen Dinge erleben und nie auch nur eine Spur Trauma zeigen, sowas geht mir auch auf die Nerven. Und auf der anderen Seite wird Trauma oft falsch dargestellt, ich habe manchmal das Gefühl, die Autor*innen sitzen da mit einer Checkliste, die sie im Internet gefunden haben, und haken alles nacheinander ab. Flashbacks, check. Albträume, check. Und dann sind die Figuren plötzlich wieder okay. Oder eben durch Liebe geheilt oder sowas  ???

Erst mal finde ich wichtig, dass Trauma nicht objektiv ist. Was bei einer Person traumatisch wirken kann, kann für die andere nur eine schlimme Erfahrung sein, von der sie sich aber relativ schnell erholt. Und es muss nicht immer das Maximum sein - Krieg, exzessive Gewalt, sexueller Missbrauch. Kleinere Erlebnisse können auch traumatisch sein.
Und dann der Heilungsprozess ... zumindest in meiner Erfahrung ist das längst nicht so linear, wie es oft dargestellt wird. Es ist chaotisch, es geht mal auf, dann wieder abwärts, und irgendwie lernt man, damit zu leben. Wie @Rhagrim schreibt, es ist vermutlich nie weg, aber es stört im Alltag nicht mehr ständig. Aber es dauert, man braucht Geduld, irgendwann kann auch mal der Punkt kommen, an dem man denkt: Ich müsste mich doch längst davon erholt haben. Und dann dauert es nochmal eine Weile ;)

Ein Buch, in dem ich Trauma und vor allem den Heilungsprozess wirklich toll dargestellt fand, war "Knochenblumen welken nicht" von Eleanor Bardilac. Die Protagonistin erlebt etwas Traumatisches und hat danach Angst, alleine in der Stadt unterwegs zu sein. Und es ist (zumindest aus meiner Sicht) so gut dargestellt, wie viel Geduld das einfach braucht, wie viele kleine Schritte. Ihr Umfeld ist auch so unterstützend und geduldig. Das kann ich wirklich empfehlen. Das Trauma ist da auch kein Plotelement, sondern einfach eine Sache, die die Protagonistin versucht zu überwinden. Während sie eigentlich andere Sachen zu tun hat.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:51:38
Zitat von: Andersleser am 04. Februar 2022, 09:41:07
ich glaube da hab ich mich einfach ungeschickt ausgedrückt. 
Dass Liebe (egal welcher Ebene) natürlich helfen kann ist völlig klar. Nur eben nicht ausschließlich und auf die Art wie in Buch und Film - und nicht Allheilmittel und restlos. Dass sie helfen kann, da stimme ich dir auch völlig zu. Das ist was absolut wertvolles. Ich wüsste gar nicht wo ich ohne diese eine Freundschaft stünde, in der wir uns beide so sehr stützen. Das kann unheimlich viel machen und helfen (und irgendwo heilen). Wenn man diesen Menschen hat, wo man einfach alles sagen kann, bei dem man wirklich über alles sprechen kann, wenn es nötig ist. Es ist auch einfach wichtig es rauslassen zu können, es einfach aus sich raus zu kriegen - das kann ja schon reichen um etwas zu erleichtern. Man kann sich da auch einfach auf ganz andere Art fallen lassen und sein, als bei anderen Menschen. Es ist auch einfach eine große Sicherheit, die so jemand geben kann - allein durch das da sein
@Andersleser 
Ohja, 100%
Und ich freu mich grad total für dich, dass du so eine Freundschaft hast.  :knuddel: Das ist wirklich so etwas wertvolles.  Geht mir genauso.
Ich glaube, ich wüsste, wo ich stünde... immer noch dieselbe menschenverachtende, zynische Person, die regelmäßig implodiert und den gesamten Frust und Selbsthass an sich selbst auslässt.
Für mich war es ein jahrelanger Weg von dort zu "zähneknirschender Toleranz sich selbst gegenüber" zu "Hilfe, ich bin gut gelaunt und zufrieden, was soll ich anfangen mit diesem Gefühl"  :rofl:


EDIT:
@Sunflower
Zitat
Zitat von: Sunflower am 04. Februar 2022, 09:49:24
Und dann der Heilungsprozess ... zumindest in meiner Erfahrung ist das längst nicht so linear, wie es oft dargestellt wird. Es ist chaotisch, es geht mal auf, dann wieder abwärts, und irgendwie lernt man, damit zu leben. Wie @Rhagrim schreibt, es ist vermutlich nie weg, aber es stört im Alltag nicht mehr ständig. Aber es dauert, man braucht Geduld, irgendwann kann auch mal der Punkt kommen, an dem man denkt: Ich müsste mich doch längst davon erholt haben. Und dann dauert es nochmal eine Weile ;)
Stimmt ja, da hast du völlig Recht. Guter Punkt.
Und es kann auch sein, dass dieser "Ich müsste mich doch längst davon erholt haben" Punkt einfach nie verschwindet, sondern immer präsent bleibt, oder - selbst 15 Jahre später - immer noch schnell getriggert wird. Vielleicht sogar durch Kleinigkeiten, oder ein unbedachtes Wort. Was einem selbst dann schon so lächerlich vorkommt und immer wieder mal für Frustration sorgt.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Soly am 04. Februar 2022, 10:42:50
Das ist ein wirklich... großes Thema.

Was mir zu Traumen gerade in Fantasy-Geschichten einfällt, ist dass die Dinge, die rein durch den Plot mit den Figuren passieren, meistens Dinge sind, die für echte Menschen hoch traumatisch wären - sie befinden sich in akuter Lebensgefahr, erleben brutale Kämpfe, sehen den Tod geliebter Personen, finden sich teilweise bereits mit dem eigenen Tod ab und werden nur durch Glück gerettet. Eigentlich geht es gar nicht unter Lebensgefahr, um bei den Leser*innen ein Gefühl von Fallhöhe zu erzeugen, und allein das ist schon ein Trauma, das seine Spuren bei Menschen hinterlässt. Trotzdem gibt es genügend Bücher, Filme und Serien, in denen die Protagonist*innen nach all den traumatischen Erlebnissen fröhlich nach Hause hoppeln und feiern, dass sie die Welt gerettet haben, vielleicht noch ein kurzer trauriger Blick für die verstorbenen Gefährt*innen, aber das war es dann auch, weil Happy End. Besonders schlechtes Beispiel in der Richtung ist (wieder mal) Harry Potter - Harry erfährt durch die Dursleys Misshandlungen, die für jedes echte Kind hochgradig schädigend wären, ist aber ein fröhlicher und total aufgeschlossener Junge, und daran ändert sich auch nichts, als er Nahtoderfahrungen durchmacht, von einem unsterblichen bösen Zauberer gejagt wird, und um ihn herum unglaublich viele Freund*innen und geliebte Menschen sterben.

Der Trauma Plot ist dann das gegenteilige Extrem. Ein bisschen, als hätte das Genre gemerkt, dass es Traumen und ihre Wirkung verharmlost und im Bestreben, das besser zu machen, übers Ziel hinausgeschossen ist. Ich fühle mich an der Stelle ein bisschen ertappt, weil ich auch oft zu viel über das Trauma einer Figur nachgedacht habe und darüber vergessen habe, ihr eine Persönlichkeit zu verleihen. Zum Glück nur in Werken, die eh in einer Schublade bleiben dürfen, aber passiert ist es.

Ich finde, zur Darstellung von Traumen und Traumafolgestörungen hat @Rhagrim es perfekt auf den Punkt gebracht, das würde ich gern nochmal dick unterstreichen:
Zitat von: Rhagrim am 03. Februar 2022, 22:12:46
Jeder Mensch hatte ein Leben vor seinem Trauma und hat einen eigenen, einzigartigen Charakter, der durch dieses erschüttert, oder komplett zerstört wird. Die meisten stehen dann erstmal vor diesem Scherbenhaufen und zerbrechen daran, finden einen Weg, damit zurechtzukommen, oder gelangen zu tatsächlicher Heilung.
Wie ein Mensch auf ein traumatisches Ereignis reagiert und welche Folgen es für ihn hat, kann sich - obwohl es viele Symptome gibt, die häufig vorkommen und dadurch als typisch gelten - total unterscheiden.
Je nach dem Charakter des Menschen, der Situation selbst und - nicht zu unterschätzen - seinem Umfeld.

War er vorher schon eher ein "Lone Survivor", der sich nach einem derartigen Ereignis vermutlich komplett zurückzieht, soziale Kontakte abbricht, sich von der Welt zurückzieht und verbittert?
War es eher eine Person, die lösungsorientiert und gemeinsam mit anderen handelt und ihre Ängste und Gefühle offen mitteilt, und dadurch vermutlich bessere Chancen hat, nicht ganz in Verzweiflung abzusacken, als jemand, der alles in sich hineinfrisst?
Gibt es jemanden, der für den Überlebenden da war, ihn unterstützt, oder ihm zumindest zuhört? Familie, Freunde, oder ein Therapeut? Hatte der Überlebende nach seinem traumatischen Erlebnis ein sicheres Umfeld, das ihn auffängt und in dem er lernen kann, wieder Vertrauen zu fassen? Oder war er auf sich allein gestellt, bzw. wurde er dann auch noch Opfer von victim blaming, was sein Vertrauen in die Gesellschaft noch weiter erschüttert und seine Überzeugung stärkt, alleine dazustehen, weil niemand ihm helfen kann/will?

Es gibt unzählige Faktoren, die - außer dem traumatischen Ereignis selbst - Art und Schwere des Traumas selbst beeinflussen können, daher würde ich jeden Charakter, den du schreiben willst, auch als vollständige Person betrachten und all das auch in deine Geschichte miteinbeziehen, um ihn dreidimensional zu machen und ihn damit nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren.
:jau:
Als positives Beispiel fällt mir dazu kein Buch ein, aber ein Film, nämlich Iron Man 3. Gerade das frühe MCU ist zwar normalerweise kein Paradebeispiel für progressives Schreiben, aber dieser Film nimmt die Tatsache ernst, dass Tony Stark in der Schlacht von New York am Ende von The Avengers erstens der einzige Mensch ohne langjährige Kampferfahrung durch Militär/Geheimdienst war und zweitens nur durch reines Glück überlebt hat. Stark leidet unter PTBS, und der Film macht einen echt guten Job darin, die Symptome dieses Störungsbildes darzustellen und gleichzeitig ihn als Figur und Person zu zeigen. Die PTBS ist sein hauptsächlicher Treiber, aber trotzdem nicht alles, was ihn ausmacht.
Das Einzige, was man Iron Man 3 vorwerfen muss, ist seine Darstellung der "Heilung" von PTBS. Irgendwann verschwinden die Symptome einfach und kommen nicht wieder. Das ist schade, weil ein solches Trauma einen Menschen eigentlich nie so richtig verlässt und für immer zeichnet.

Ich denke, wir kommen um das Thema als Autor*innen nicht herum, denn - wie oben geschrieben - so ziemlich alles, was wir schreiben, ist voller traumatischer Erlebnisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für eine Traumafolgestörung. Wir sind dann in der Verantwortung, uns zu überlegen, welche Folgen das jeweilige Ereignis für die Figur haben wird - wie anfällig ist sie grundsätzlich für eine Traumafolgestörung, welche Ressourcen (Freund*innen, Familie, eigenes Umgehen damit) hat sie?
Auch ein Verkehrsunfall ohne Personenschaden kann Traumafolgesymptome nach sich ziehen, wenn die betreffende Person vorbelastet ist. Andersherum kann ein Leben voller Unfallsituationen (bei einer Unfallsanitäter*in) folgenlos bleiben, wenn die betreffende Person gesunde Strategien für den Umgang damit und ein unterstützendes soziales Umfeld hat.
Ich würde behaupten, an der Stelle haben wir schon einiges an Spielraum, um den Leser*innen realistische Darstellungen nahezubringen. Wenn wir die Figur selbst, ihre Persönlichkeit und ihre Copingstrategien, und ihr Umfeld darstellen, dann können wir auch die enstprechenden Folgen eines oder mehrerer Traumen nachvollziehbar darstellen, so dass die Leser*innen es annehmen.


EDIT: Hat sich teilweise überschnitten.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Andersleser am 04. Februar 2022, 10:56:09
Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:51:38

Ohja, 100%
Und ich freu mich grad total für dich, dass du so eine Freundschaft hast.  :knuddel: Das ist wirklich so etwas wertvolles.  Geht mir genauso.

Danke, das Freuen gebe ich direkt zurück  :knuddel:

Zitat von: Rhagrim am 04. Februar 2022, 09:51:38
Für mich war es ein jahrelanger Weg von dort zu "zähneknirschender Toleranz sich selbst gegenüber" zu "Hilfe, ich bin gut gelaunt und zufrieden, was soll ich anfangen mit diesem Gefühl"  :rofl:
Ich liebe ja deinen letzten Satz gerade, bringt es aber so auf den Punkt :rofl:
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Maubel am 04. Februar 2022, 11:19:38
Zitat von: Solmorn am 04. Februar 2022, 10:42:50
Was mir zu Traumen gerade in Fantasy-Geschichten einfällt, ist dass die Dinge, die rein durch den Plot mit den Figuren passieren, meistens Dinge sind, die für echte Menschen hoch traumatisch wären - sie befinden sich in akuter Lebensgefahr, erleben brutale Kämpfe, sehen den Tod geliebter Personen, finden sich teilweise bereits mit dem eigenen Tod ab und werden nur durch Glück gerettet. Eigentlich geht es gar nicht unter Lebensgefahr, um bei den Leser*innen ein Gefühl von Fallhöhe zu erzeugen, und allein das ist schon ein Trauma, das seine Spuren bei Menschen hinterlässt. Trotzdem gibt es genügend Bücher, Filme und Serien, in denen die Protagonist*innen nach all den traumatischen Erlebnissen fröhlich nach Hause hoppeln und feiern, dass sie die Welt gerettet haben, vielleicht noch ein kurzer trauriger Blick für die verstorbenen Gefährt*innen, aber das war es dann auch, weil Happy End. Besonders schlechtes Beispiel in der Richtung ist (wieder mal) Harry Potter - Harry erfährt durch die Dursleys Misshandlungen, die für jedes echte Kind hochgradig schädigend wären, ist aber ein fröhlicher und total aufgeschlossener Junge, und daran ändert sich auch nichts, als er Nahtoderfahrungen durchmacht, von einem unsterblichen bösen Zauberer gejagt wird, und um ihn herum unglaublich viele Freund*innen und geliebte Menschen sterben.

Das, was du beschreibst, war auch für mich vor ein paar Jahren ein Grund mich mehr mit Mental Health zu beschäftigen. Es gibt so viele traumatische Erlebnisse in der Fantasy und sie treiben oft nur den Plot voran. z.B. wenn gleich am Anfang das ganze Dorf niedergemetzelt wird und quasi alle Bezugspersonen sterben. Und das ist dann nur der Startpunkt für den Protagonisten, in die Welt zu ziehen. Das höchste der Gefühle ist dann ein Rachegedanke, der den Protagonisten antreibt. Das wollte und will ich in meinen Geschichten anders machen. Nicht, dass jetzt alle Charakter immer schwer traumatisiert sind, aber dass die Ereignisse auch ihre Spuren hinterlassen (und eben teilweise unterschiedliche Spuren bei unterschiedlichen Charakteren).

Wo ich das Trauma sehr schön behandelt fand, war im Lied der Krähen. Da gibt es auch zum Ende hin keine wunderliche Heilung, sondern ein vergleichsweise kleiner Schritt (Händchenhalten), der für die zwei betroffenen Charaktere aber monumental ist. Das hat mir gut gefallen, weil am Ende deshalb eben nicht alles weg war. Auch das bittersüße Ende von der Eisernen Turm Trilogie bricht zumindest mal mit dem "Klischee", dass der Tod wichtiger Nebenfiguren nur kurz traurig bedacht wird, sondern begleitet Leser und Charaktere dann durchweg bis zum Ende (ich habe vom Zeitpunkt des Todes bis zum Ende des Buches durchgeheult und das waren noch 100-150 Seiten oder so...). So dramatisch muss es natürlich nicht sein, denn wie schon gesagt, schlägt es auch oft in die andere Richtung aus, aber ich fände es wichtig, auch in der Fantasy die mentale Gesundheit im Blick zu behalten, wo doch wirklich so viel extreme Dinge passieren.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Klecks am 04. Februar 2022, 16:02:11
Bei mir ist in den letzten zwei, drei Jahren der Eindruck entstanden, dass viel, viel öfter und offener über traumatische Ereignisse geschrieben wird, vor allem im Bereich romantische New Adult-Romane. Das gab es einen Wandel vom schüchternen Mädchen, das noch nichts Aufregendes im Leben erlebt hat, bis es den geheimnisvollen Jungen/MannTM kennenlernt, hin zu jungen Frauen, die eine Vergangenheit haben, sowohl sexuell als auch in Bezug auf prägende Ereignisse. Anfangs fand ich das toll. Ich habe selber mehr als ein Trauma zu bearbeiten und fand es gut und wichtig, dass die Romane realitätsnäher werden, als sie vorher waren (meiner Meinung nach).

Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass es "in" und "cool" geworden ist, seinen Protagonisten schwerwiegende Traumata mitzugeben, dass es ohne die gar nicht mehr geht, und das wiederum stört mich enorm. So als wären die Traumata persönlichkeitsstiftend. Klar verändern und prägen sie einen, aber Protagonisten nur auf ihren Traumata aufzubauen, geht mir als jemandem mit diversen Traumata gehörig gegen den Strich. Beispiel: Meine Mutter hat sich 2019 das Leben genommen. Wenn Suizid als persönlichkeitsstiftendes Trauma herangezogen wird, das einer Figur nur deshalb verpasst wird, um ihre/seine Persönlichkeit zu rechtfertigen, egal in welchem Sinne, dann finde ich das total daneben. Nicht wegen der Sache an sich, sondern weil mein persönlicher Eindruck ist, dass die Autor:innen in aller Regel nicht genügend recherchieren, was für eine Auswirkungen das jeweilige Trauma tatsächlich hat. Aber was der Suizid einer nahestehenden Personen mit den Hinterbliebenen macht - wie meine Mutter mich für mein ganzes Leben schwerst traumatisiert und verletzt hat -, wird sowieso viel zu wenig behandelt. Und ist nur ein Thema von vielen, bei denen der "Rattenschwanz" eines traumatischen Ereignisses einfach unter den Tisch gefallen lassen wird, sowohl im echten Leben als auch in der Literatur.

Und ich sehe das by the way auch als grundlegendes Problem der Fantasy. Je nach Subgenre herrschen Mord, Vergewaltigung, Folter, Totschlag und was weiß ich nicht alles, aber irgendwie gehen meistens alle ganz cool damit um. Das versuche ich in meiner Fantasy-Serie aktiv anders zu gestalten. Wenn meinen Figuren da etwas widerfährt, recherchiere ich, was das für Auswirkungen auf ihre Mental Health haben könnte, und lasse sie nicht happy herumspringen, nachdem sie mitangesehen haben, wie Leute abgeschlachtet wurden. Da braucht es meines Erachtens ein großes Umdenken in der Fantasy.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Mondfräulein am 04. Februar 2022, 17:20:37
Ich finde eure Antworten bisher wirklich spannend!

Zitat von: KaPunkt am 03. Februar 2022, 19:09:22
Und jetzt denke ich weiter darüber nach, was ich warum gerade mit meiner aktuellen Hauptfigur und dem Plot mache.

Genauso ging es mir nach dem Lesen des Artikels. Ich habe erstmal alles hinterfragt, was ich bisher geschrieben habe. Das war auch der Grund, warum ich den Thread eröffnen wollte - nicht nur, um einfach drüber zu diskutieren, sondern auch, um mich selbst zu hinterfragen.

Deinen Vergleich mit den Vasen finde ich wirklich großartig. Das drückt genau das aus, was bei vielen Figuren schiefläuft. Um die Risse zu sehen, muss erstmal eine Vase da sein, die zerbrechen kann.

@Rhagrim: Du sprichst viele wichtige Punkte an, aber einen will ich nochmal unterstreichen: Menschen gehen unterschiedlich mit Trauma um. Wer ein Mensch vor dem Trauma war und welches Umfeld er*sie hatte, hat auch Einfluss darauf, wie er*sie mit dem Trauma umgeht. Generell ist es ein spannendes Thema, warum manche Menschen traumatische Ereignisse scheinbar wegstecken oder noch daraus wachsen und andere daran zerbrechen (Stichwort Resilienzforschung).

@Alana: Gerade New Adult als Genre hat hier finde ich viele Probleme. Die Liebesgeschichte steht hier im Vordergrund, aber das bedeutet auch, dass Trauma und psychische Störungen oft nur eingestreut werden, um als Hindernis für die Liebesgeschichte zu dienen und nicht als eigenständige Themen behandelt werden. Bestimmt gibt es hier auch positive Beispiele, aber insgesamt ist das ein Problem, das sich durch das ganze Genre zieht. Da spielt auch "Liebe heilt alle Wunden" wieder mit rein.

@Manouche: Ich glaube auch, dass die Darstellung von Trauma nicht an sich problematisch ist, sondern auch viel gutes bewirken kann. Ich würde auf Trauma und dramatische Hintergrundgeschichten in meinen Büchern auch nie verzichten wollen wenn ich ehrlich bin.

Zum Thema Trauma und Liebe: Ich verstehe glaube ich, was @Andersleser meint. Es gibt zu viele Geschichten, in denen das Wundermittel für die Traumabewältigung eine neue Liebe ist und so funktioniert das nicht. Natürlich kann es sehr helfen, wenn man jemanden an seiner Seite hat, der einem bei der Verarbeitung hilft, aber so sehr das auch helfen kann, kann es alles nur noch schlimmer machen. Manche Menschen mit psychischen Problemen begeben sich in ihrer Beziehung in eine Art Abhängigkeit, in der es ihnen zwar besser geht, das psychische Befinden aber alleine vom Partner abhängt. Das ist für den Partner eine riesige Last, genauso aber für die Beziehung. Und wenn die Beziehung zerbricht, entweder daran oder durch andere Umstände, dann macht das große Probleme. Oder aber die Beziehung wird nur noch durch diese Abhängigkeit zusammengehalten. Manche nutzen so etwas auch aus.

@Maubel hat ja schon Das Lied der Krähen erwähnt und das Buch ist tatsächlich eines meiner liebsten Beispiele dafür, wie man Trauma gut darstellen kann, denn das Buch macht das einfach großartig. Zwei der Figuren, die sich ineinander verlieben, sind beide stark traumatisiert. Die Liebe hilft ihnen dabei, ihr Trauma zu überwinden, aber anders, als das viele Autor*innen angehen: Das Trauma steht ihrer Beziehung im Weg. Es wird ganz deutlich, dass der Grund dafür, dass einer der Protagonisten nicht mit der Frau zusammen sein kann, die er liebt, das Trauma ist, an dem er nicht arbeiten will, weil das für ihn bedeuten würde, sich seine Schwäche einzugestehen. Die Liebe hilft ihm, daran zu arbeiten und kleine Schritte in die richtige Richtung zu machen, weil er sie nicht haben kann, wenn er nicht daran arbeitet. Sie motiviert ihn. Sie zwingt ihn, denn entweder, er stellt sich seinem Trauma, oder er kann sie halt nicht haben. Und realistischerweise funktioniert das eben meistens so: das Trauma steht der Liebe im Weg. Das Trauma macht die Beziehung kompliziert. Sich zu verlieben alleine heilt nicht automatisch jedes Trauma. Insofern kann ich mit "Ich muss mich verlieben, um mein Trauma zu überwinden" nicht viel anfangen, wohl aber mit "Ich muss an meinem Trauma arbeiten, damit meine Beziehung funktionieren kann". Aber das muss die Figur ja vielleicht auch nicht alleine tun. Partner und Freunde können dabei unterstützen. Nur die Arbeit können sie einem nicht abnehmen.

Ansonsten hat mir an Das Lied der Krähen auch genau das so gut gefallen, was @Maubel schon angesprochen hat: das Ende des zweiten Buches zeigt keine vollständige Heilung, sondern einen kleinen Schritt. Die Bücher nehmen sich Zeit, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen und zu zeigen, welche Auswirkungen es auf die Figuren hat. Der Weg ist nicht geradlinig, sondern auch mit Rückschritten verbunden. Aber man muss manchmal auch nicht den ganzen Heilungsprozess zeigen. Denn wie @Sonnenblumenfee schon sagt, der Heilungsprozess dauert oft viel länger, als unsere Bücher spielen.

Auch erstaunlich realistisch fand ich Die Tribute von Panem. Man merkt stark, dass die Ereignisse die Figuren mitnehmen und jeder geht auf andere Weise damit um. So eine realistische Darstellung von Trauma war um die Zeit herum zumindest meinem Empfinden nach nicht üblich und die anderen YA-Dystopien, die daraufhin erschienen sind, haben das auch nicht so gut umgesetzt wie Panem (zumindest die, die ich gelesen habe).

Was mir auch noch einfällt ist der Zusammenhang zwischen Trauma und empfundener Stärke. Ich habe das Gefühl, manchmal herrscht das Vorurteil, dass innere Stärke dazu führt, dass man traumatische Ereignisse einfach so wegsteckt, während andere daran zerbrechen. Und aus irgendeinem Grund fiel mir das ein, als ich über Trauma in den Harry Potter-Romanen nachgedacht habe. Das ist ein übles Klischee, das absolut niemandem hilft. Aber ich bin da ganz bei @Solmorn, Harry Potter hat da wirklich keinen guten Job gemacht.

Einen Punkt, den ich noch wichtig finde: Das Thema ist eng mit der Darstellung von psychischen Störungen verlinkt. Trauma kann Katalysator oder Auslöser für bestimmte psychische Störungen sein, aber die einzigen psychischen Störungen, die es ohne belastendes Ereignis nicht geben kann, sind die posttraumatische Belastungsstörung oder die Anpassungsstörung. Die Ursachen für alle psychischen Störungen sind komplex und lassen sich selbst bei diesen Störungen nicht auf einen einzelnen Faktor herunterbrechen (nach einem traumatischen Ereignis entwickeln nicht alle Menschen automatisch eine PTBS und die Symptomatik wird auch nicht immer dieselbe sein, wie lassen sich diese Unterschiede erklären?). Besonders wenn es um Depressionen geht, machen es sich hier viele zu einfach. Vor einigen Jahren habe ich ein Rezensionsvideo über ein Buch gesehen, in dem es um Depressionen geht. Darin fiel der Satz "Es wird erst nicht so genau erklärt, warum sie Depressionen hat, bis man das erfährt, vergeht einige Zeit" und das hat mich ziemlich wütend gemacht. So funktionieren Depressionen nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass psychische Probleme im Trauma-Plot nur als spürbare Auswirkungen der tragischen Hintergrundgeschichte behandelt werden, als Andeutungen, bis irgendwann der große Twist kommt und die Backstory enthüllt wird. Bei psychischen Störungen gibt es nie einfache Erklärungen.

Gerade in Bezug auf Fantasy ist glaube ich der Punkt, den @Solmorn und @Klecks ansprechen wichtig, zumindest um mal darüber nachzudenken: Wir schreiben über Ereignisse, die den wenigsten von uns je im Ansatz widerfahren werden. Psychologisch gesehen wird vermutet, dass das auch ein Reiz ist, den Geschichten ausmachen: Wir begeben uns in extreme Situationen, ohne je wirklich in Gefahr zu sein. Die meisten Plots funktionieren nicht, wenn nicht irgendwann wirklich etwas auf dem Spiel steht. Weiter bin ich da in meinen Gedanken aber auch noch nicht. Das Genre hat lange ignoriert, welche Folgen so etwas auf die Psyche einer Person hat, aber muss jeder unserer Protagonisten eine PTBS entwickeln? Im echten Leben funktioniert das auch nicht so, manche Menschen können mit denselben Ereignissen sehr viel besser umgehen als andere. Hundert Menschen, die dasselbe traumatische Ereignis durchleben, werden nicht alle eine PTBS entwickeln. Einige aber schon. Gerade nach großen Kriegen und dann stellt sich die Frage, wie in unseren Fantasy-Welten mit so etwas umgegangen wird.

Ich lasse nochmal einen Artikel da, den ich gefunden habe, denn der Umgang mit PTBS in der Vergangenheit kann eventuell interessant sein, wenn wir darüber nachdenken, wie in unserer Fantasy-Welt mit so etwas umgegangen wird: https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2020/06/geschichte-der-ptbs-von-der-kriegsneurose-zur-traumadiagnose
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Alana am 04. Februar 2022, 17:34:04
@Mondfräulein Das ist leider auch genau mein Eindruck von New Adult, wie ich ja geschrieben habe. Es gibt sicher auch andere Beispiele, aber das Trauma als Plot Device ist leider sehr populär.

Was Fantasy angeht:

Hier hat ja eigentlich Tolkien schon einen guten Grundstein gelegt. Einer der Punkte, die ich an Herr der Ringe sehr liebe und auch in den Büchern großartig fand, ist die Charakterentwicklung von Frodo und den anderen Hobbits. Die zeigt sehr genau die Abstufungen, die ein so extremes Trauma wie Krieg und Entwurzelung und das Vollbringen von übermenschlichen Anstrengungen auf verschiedene Figuren haben kann. Ich liebe das sehr und liebe auch, dass sich im Film die Zeit genommen wurde, diese Entwicklungen wirklich bis zum Ende zu zeigen und abzuschließen. (Ich liebe das halbstündige Ende.  :vibes:)

Tribute von Panem
Ja, ich fand das Ende hier wirklich auch ganz großartig umgesetzt und habe immer sehr geliebt, wie real das alles war. So ist Widerstand und Menschen, die diesen Kampf durchgemacht haben, können eben das Happy End unter Umständen nicht wirklich genießen. Leider ist das aber auch ein Fall, an dem man sehr deutlich sieht, dass viele Leute sowas nicht lesen wollen, denn die Autorin musste für dieses Ende ja extrem viel Kritik einstecken.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Wintersturm am 04. Februar 2022, 18:53:16
Am Ende würde ich da so ansetzen: Figuren sind (meistens) Menschen und damit eben vielschichtig wie Menschen.
Davon ausgehend kann ein Trauma nicht das alleinige charakterisierende Element einer Figur sein, wenn auch je nach Trauma durchaus das vorherrschende. Das ist dann auch schon der entscheidende Punkt. Wie wichtig ist das Trauma in der Geschichte? Geht es in der Geschichte um das Trauma oder ist das mehr Nebensache? Ich fange mal am Ende an. Nebensache. Ich schätze, jeder hat schon mehr oder weniger irgendein Trauma abbekommen. Nur ist das meistens kein komplett vorherrschendes Element, sondern ein in gewisser Weise charakterisierendes Element, welches die zu Figur zu der macht, die sie oder er ist. Da sind eben Dinge geschehen, die die Figur dazu gemacht haben und die den Charakter erklären und begründen in dem, was er tut.
Soll das Trauma jetzt aber entscheidend werden, dann kann man durchaus eher draufschauen. Da braucht es natürlich genauere Erklärungen und mehr Fokus darauf. Oder aber genauso wenig. Kommt drauf an, wie man es machen will. Will man wirklich der Entwicklung des Charakters direkt im Zusammenhang mit dem Trauma folgen, dann muss man das eben genauer betrachten. Oder aber man schaut es von der Seite an und lässt es eben in den alltäglichen Handlungen auftreten. Man kann aus einer Woche im Leben eines Charakters sicher eine Million Wörter rausziehen, wenn man einfach nur aufschreibt, was passiert. Entscheidend ist dabei, welche Szenen in dieser Woche man nimmt. Normalerweise immer die für die Charakterentwicklung wichtigen Szenen und der Rest fällt schon ganz von alleine unters Messer. Nur was davon kommt in meine Geschichte? Szenen, die das Trauma direkt zeigen, z.B. wenn der Charakter in seinen Depressionen versunken alleine im Bett liegt und in Embryonalstellung über sein eigenes Unglück klagt? Oder aber doch Szenen, die den Alltag zeigen und wie das Trauma diese beeinflusst? Oder eben welche, bei denen vom Trauma genau nichts zu sehen ist und man das dann in anderen Szenen umso stärker sieht? Ich bin ja ein Freund von starken Kontrasten...
Wie auch immer man es macht, es sind unterschiedliche Darstellungen der Sache und entsprechend unterschiedlich ist die Wirkung davon.
Traumabewältigung... Schwierig. Wirklich schwierig. Damit das funktioniert, muss man eben genau bedenken, wo der Stachel sitzt und was dieses Trauma heilen kann. Zugegeben, die Fantasy bietet da fiese Tricks. Einfach den Geist der Betroffenen mainpulieren, die Probleme "geraderücken" und schon passt das. Zugegeben, ich habe es vielleicht etwas zu oft so gemacht, aber das hatte Gründe und war aus dem Weltenbau heraus wichtig. Will man ein Trauma jetzt zwischenmenschlich behandeln und "heilen", wird es schwerer und da muss man schon genau wissen, welches Problem irgendwo liegt und wie man das heilen kann. Wie meine Vorredner schon angesprochen haben, Liebe kann nicht alles heilen. Sicher, es gibt durchaus Probleme, wo Liebe (richtig umgesetzt) ein wirksames Heilmittel sind, nur sind das meistens die Probleme, die mit dem Fehlen von genau dieser Sache zu tun haben und die nicht woanders begraben liegen. Da wird es dann schwer bis unmöglich, das Trauma so zu behandeln und es erfordert andere Ansätze. Wobei auch da Liebe bzw. der Kampf dafür durchaus ein wirksamer Katalysator sein können, um sich den Problemen zu stellen, auch wenn da oft genug Verdrängung drin ist. Und aus Verdrängen kann Vergessen werden... Auch eine Art der Bewältigung.

Ohne jetzt weiter in die Details abzuschweifen, wichtig ist eben, wofür das Trauma überhaupt da ist, welches es ist und wie es halbwegs funktional beseitigt oder zumindest unbedeutend werden kann. Oder eben seine volle Bedeutung erst entfaltet, wenn das das Thema der Geschichte ist.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 05. Februar 2022, 10:36:06
Ich zitiere mal aus dem Buch "Trauma und die Folgen (https://www.amazon.de/dp/3749501394/ref=cm_sw_em_r_mt_dp_CJ195A22GE0KZ0VHGYR0):
"Traumatisierungen wie frühe Vernachlässigung, Verwahrlosung, körperliche, seelische und/oder sexuelle Gewalt erklären mehr als 80 Prozent aller Persönlichkeitsstörungsdiagnosen"


Ich denke, das ist ein Punkt, der beim Thema "Trauma" gerne übersehen wird. Wenn wir an Trauma denken, denken wir oft an die "klassischen" Traumata wie z.B. Vergewaltigungen, Entführungen, Kriegstraumata, (Natur)katastrophen, etc. und die "klassische" PTBS, die darauf folgt.

Dabei geschieht die mit Abstand häufigste Traumatisierung oft in den eigenen vier Wänden und durch ein oder mehrere Mitglieder der eigenen Familie. Dazu zählt Vernachlässigung ebenso wie emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlung.
Sehr oft können sich die Betroffenen gar nicht mehr daran erinnern, da die Misshandlung im Kleinkindalter stattgefunden hat, oder das Geschehen verdrängt wurde, das in manchen Fällen zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung führen kann. Selbst wenn das Gehirn so früh nicht in der Lage ist, solche Erlebnisse richtig abzuspeichern, werden sehr wohl die extremen, negativen Emotionen abgespeichert und es hat sich herausgestellt, dass so frühe traumatische Erlebnisse auch Veränderungen in der Hirnstruktur bewirken können.

Ein paar Beispiele

Selbst wenn es nicht in eine Persönlichkeitsstörung ausarten muss, beeinflusst die Beziehung zu unseren Eltern die Art und Weise, wie wir uns entwickeln, darunter auch den Bindungsstil, den wir entwickeln -  und ob wir in späteren Jahren in der Lage sind, eine sichere, stabile Beziehung zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten, oder ob wir - obwohl wir im Alltag vielleicht als "stark" und "selbstbewusst" gelten - in Beziehungen immer wieder in Muster zurückfallen, die sonst vielleicht "gar nicht zu uns passen". Ich lasse den sicheren Beziehungstyp mal aus und gehe kurz auf die anderen ein:

Wenn ein Kind also nicht in einer wirklich sicheren, liebevollen Umgebung aufwächst, stehen die Chancen "gut", von vornherein belastet aufzuwachsen und das eine oder andere "Defizit" zu entwickeln.
Meine Vermutung ist, dass wir uns u.a. deswegen so mit traumatisierten bzw. vorbelasteten Charakteren identifizieren und darüber lesen wollen, wie sie es schaffen, heil zu werden. Eben weil es alltäglicher ist, als uns vielleicht lieb ist und viele von uns solche Verletzungen mit sich herumtragen, selbst wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind.
Wenn nicht aus der Kindheit, dann vielleicht aus der Schule - um mal in Richtung "Mobbing" zu verweisen. Je nach Vorerfahrung und Intensität kann das durchaus auch eine traumatische Erfahrung sein, aus der sich unter Umständen eine PTBS entwickeln kann.

Wobei man bei dieser eben auch unterscheiden muss, zwischen


Ist ein extrem komplexes Thema, bei dem ich nur empfehlen kann, gut zu recherchieren und sich auch abseits der gängigen Vorstellung, die man von "Trauma" hat, zu informieren und sich vor allem darauf einzulassen.
Ich bin selbst definitiv kein Spezialist auf dem Gebiet, ich hab hier nur mal einen Teil davon zusammengetragen, was ich im Zuge meiner eigenen Recherchen herausgefunden hab und hab versucht, das mal so kompakt wie möglich zusammenzufassen, um einen kleinen Überblick zu geben.
Vielleicht hilft es ja.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Malou am 05. Februar 2022, 11:35:36
Sehr spannende Diskussion, bei der ich einfach mal mitlese  :jau: Vor allem für neue(re) Autor*innen wie mich selbst ist das ein superwichtiges Thema. Man hört ja von überall, man soll die Einsätze und die (Ausgangs-)Situation der Hauptfigur möglichst anspruchsvoll gestalten, damit sich die Geschichte spannend entfalten kann. Ist schon klar, dass das nicht automatisch bedeutet, dass die Hauptfigur ein Trauma erlitten haben muss - aber man kommt doch schneller dahin, als man denkt. Und glaubt meistens auch noch naiv, man hätte die Geschichte damit (automatisch) besonders lesenswert und tiefgründig gemacht. Genauso fühlt es sich oft "realer" an und man glaubt, alles richtig gemacht zu haben, weil man eben nicht zu verschönern versucht und die Hauptfigur kein "perfekter" Charakter ist, sondern es als unperfekter Charakter schafft, sich (ggf. wieder) aufzuraffen.

Ich will jetzt gar nicht zur Diskussion stellen, wie "richtig" oder "falsch" diese Annahmen sind. Ich wollte lediglich artikulieren, wie man als neue(re) Autor*in denken und empfinden könnte. Meiner Meinung nach ist es aus oben genannten Gründen nur menschlich, dass problematische Darstellungen entstehen können. Die Intention dahinter ist oft keine schlechte, es ist ein langjähriger Lernprozess. Daher ist es so wichtig, dass solche Diskussionen angestoßen werden, damit man das Ganze vielschichtiger und reflektierter angehen kann. Manchmal würde ich mir solche Hinweise zumindest ansatzweise in all den Videos, Texten und Büchern, die einem Ratschläge übers Schreiben geben, wünschen. Sie verleiten einen zu sehr dazu, der Hauptfigur unreflektiert ein Päckchen nach dem anderen und ein Hindernis nach dem nächsten aufzuladen, damit sie es auch möglichst schwer hat.

Generell stimme ich vollkommen zu, dass Menschen natürlich viel mehr sind als ihr Trauma, sie unterschiedlich damit umgehen, und dass es nicht in Ordnung ist, dass Liebe als das Wundermittel schlechthin dargestellt wird. Das gilt aber nicht nur für Traumata, sondern beginnt schon damit, dass viele Figuren nur glücklich sein können, nachdem sie ihre Liebe gefunden haben (Stichwort: Zwei Hälften eines Ganzen). Aber anderes Thema.

So, jetzt hab ich doch mehr dazu gesagt als ich geplant hatte  :buch:

@Rhagrim Die Erklärung speichere ich mir mal ab, danke!  ;)

Werde den Thread weiter verfolgen  :jau:
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Mondfräulein am 05. Februar 2022, 12:24:07
Allgemein kann ich zum Thema psychische Störungen schreiben die LitCamp Session von Murphy Malone "Über Mental Health Repräsentation" empfehlen: https://www.youtube.com/watch?v=gTAcxBQLUxk Sie kennt sich wirklich aus, ist als Sensitivity Readerin tätig und spricht in der Session auch über Trauma. Das Thema kommt auch in der Session von Anja Stephan zur Sprache (eher gegen Ende): https://www.youtube.com/watch?v=VHMiNvbrg_U

Es wird generell schon davon ausgegangen, dass es einen Zusammenhang zwischen frühen Traumatisierungen und Persönlichkeitsstörungen gibt. Es ist aber gleichzeitig sehr schwierig zu sagen, dass sie das wirklich erklären, denn zum einen haben psychische Störungen nie nur eine Ursache, zum anderen ist es sehr schwierig, die Störungen wissenschaftlich auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Denn auch bei einer PTBS, die sogar per Definition eine klare Ursache oder einen klaren Auslöser hat (ein traumatisches Ereignis), gibt es noch persönliche und genetische Faktoren, die definitiv eine Rolle spielen. Aber hinterher lässt sich sehr schwer genau herausfinden, was jetzt zu einer psychischen Störung geführt hat.

Kleiner Exkurs, weil ich in der Folge davon sprechen werde: Die ICD-11 ist die 11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Darin werden die Kriterien festgelegt, die zur offiziellen Diagnose einer Krankheit verwendet werden, psychische Störungen haben hier ein eigenes Unterkapitel. Die ICD-11 ist relativ neu (ich glaube, sie ist erst dieses Jahr offiziell in Kraft getreten), wir sind also noch in einer Umstellungsphase zwischen ICD-10 und ICD-11. Die ICD wird von der WHO herausgegeben und ist das, was wir hier in Deutschland benutzen. In den USA wird das DSM verwendet (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), mittlerweile in der fünften Version.

Persönlichkeitsstörungen sind kompliziert zu diagnostizieren. Hier hat sich in den letzten Jahren auch viel getan. Die Forschung ist sich ziemlich einig darin, dass Persönlichkeit ein Spektrum ist und nichts, was in Kategorien passt. Eine Schwierigkeit bei der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen ist, dass nicht nur das Vorhandensein der Kriterien alleine ausschlaggebend für eine Diagnose ist, sondern auch die Ausprägung. In der ICD-10 findet sich für Borderline (emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Subtyp) "übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden". Die allermeisten Menschen bemühen sich, das Verlassenwerden zu vermeiden. Ab wann sind diese Bemühungen übertrieben? Um Persönlichkeitsstörungen wirklich zu verstehen, reicht es also auf keinen Fall, nur die Diagnosekriterien zu kennen, denn selbst Therapeut*innen tun sich hier mit der Diagnose häufig schwer.

Ebenso ist Persönlichkeit, wie schon gesagt, ein Spektrum. Persönlichkeitsstörungen deshalb in Kategorien einzuteilen wurde häufig zu Recht kritisiert und hat in der Praxis zu Schwierigkeiten geführt. In der ICD-11 wurde das deshalb geändert. Dem solltet ihr euch unbedingt bewusst sein, wenn ihr euch entscheidet, Figuren mit Persönlichkeitsstörungen zu schreiben. DSM-V und ICD-10 geben den Anschein, dass sich das fein-säuberlich in Kategorien einteilen lässt, dem ist aber nicht so.

Die dissoziative Identitätsstörung ist keine Persönlichkeitsstörung, sondern eine dissoziative Störung. Ich habe das Gefühl, dass sich Autor*innen gerne auf diese Störung stürzen, weil sie so spannend ist. Besonders in Thrillern und Krimis ist das ein sehr beliebter Twist. Dementsprechend ist das eine der Störungen, die mit am meisten missverstanden wird und die mit unglaublich vielen Stigmata behaftet ist. Gerade deshalb würde ich ziemlich pauschal davon abraten, diese Störung in Romanen überhaupt zu benutzen. Da haben so viele Autor*innen in ihren Romanen, Filmen oder Serien vor uns so unglaublich viel Schaden angerichtet, dass wir vielleicht lieber mal die Finger davon lassen sollten. Wenn ihr wirklich in der Lage seid, es richtig zu machen, dann wisst ihr was ich meine und wie man es vielleicht richtig angehen kann, aber ansonsten... bitte nicht. Ansonsten kann ich aber diese beiden Reportagen empfehlen, falls euch das Thema interessiert, denn hier haben Betroffene die Chance, ihre Erfahrungen zu teilen:
https://www.youtube.com/watch?v=3HrUtDDNKDQ
https://www.youtube.com/watch?v=Xu5I_lSn-tM
Ansonsten gibt es im englischsprachigen Bereich einige YouTube-Kanäle von Personen mit dissoziativer Identitätsstörung.

Generell muss man sich bei all diesem Modellen immer bewusst sein: Sie sind dafür gemacht, um Komplexität zu reduzieren, um nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, um Kategorien zu bilden. Die Wirklichkeit ist immer viel diverser und komplexer. Alle Störungsbilder in der ICD-11 sind in Wirklichkeit sehr komplex und divers. Personen mit derselben Diagnose, zum Beispiel Depressionen, können diese vollkommen unterschiedlich erleben. Auf der einen Seite hilft Fachliteratur uns als Autor*innen, diese Erlebnisse besser zu verstehen, auf der anderen Seite tappen wir dadurch oft in die Falle, davon auszugehen, dass es die Depression oder die PTBS gibt, obwohl das in Wirklichkeit nicht so ist. Solche Texte sammeln Symptome, die man bei einer Vielzahl von Menschen häufig beobachtet hat, die bei solchen Störungen häufig vorkommen können. Von einer Vielzahl an Menschen wurde auf ein Störungsbild geschlossen, aber wir dürfen nicht den Fehler machen, zu versuchen, alleine nur davon auf eine einzelne Person zu schließen. In der Praxis dienen diese Kriterien und Modelle auch eher dazu, eine Person besser zu verstehen, die ich schon vor mir sitzen habe, nicht um eine Romanfigur zu erfinden, die dieses Störungsbild hat.

Fachtexte sind zur Recherche wichtig, aber ich muss eben auch verstehen, wofür sie eigentlich gemacht sind, um zu verstehen, wann ich sie für meinen Roman benutzen kann - und wann nicht. Was ich zusätzlich empfehlen kann: Erfahrungsberichte von Betroffenen und davon viele. Es gibt sie überall, Blogs, YouTube-Videos, Bücher. Ebenso empfehle ich immer gerne Literatur, die für Betroffene geschrieben wurde. Die gehen oft anders an das Thema heran und helfen beim Verständnis eines Störungsbildes ungemein.

Vielleicht schreibe ich später nochmal mehr dazu, aber ich habe gerade leider nicht so viel Zeit und sitze schon zu lange an diesem Beitrag.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 05. Februar 2022, 13:16:40
@Mondfräulein
Zitat von: Mondfräulein am 05. Februar 2022, 12:24:07
Fachtexte sind zur Recherche wichtig, aber ich muss eben auch verstehen, wofür sie eigentlich gemacht sind, um zu verstehen, wann ich sie für meinen Roman benutzen kann - und wann nicht. Was ich zusätzlich empfehlen kann: Erfahrungsberichte von Betroffenen und davon viele. Es gibt sie überall, Blogs, YouTube-Videos, Bücher. Ebenso empfehle ich immer gerne Literatur, die für Betroffene geschrieben wurde. Die gehen oft anders an das Thema heran und helfen beim Verständnis eines Störungsbildes ungemein.
Das möchte ich auch gern dick unterstreichen.

Und jeder Mensch ist einzigartig und reagiert auf (traumatische) Erlebnisse anders. Ich wollte mit meinem vorherigen Beitrag auch eigentlich nur aufzeigen, dass das ganze Thema rund ums Trauma einfach viel komplexer und vielschichtiger ist, als man vielleicht zuerst vermutet. Und dass es abgesehen von dem, woran man vermutlich automatisch sofort denkt, wenn man den Begriff "Trauma" hört, einfach noch so viel mehr gibt als das, was wir überwiegend in (Unterhaltungs)medien präsentiert bekommen.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Sanjani am 06. Februar 2022, 00:29:17
Hallo zusammen,

hier ist ja schon sehr viel gesagt worden und auch viel Richtiges.
Ich finde, man sollte sich immer die Frage stellen, ob ich das Trauma für meine Geschichte wirklich brauche und wenn ja, wofür quasi?

Da ich aktuell dabei bin, mein Zertifikat für spezielle Psychotraumatherapie zu machen, kann ich euch sagen, dass die sog. Typ I Traumata, also einmalige Traumata bei Menschen, die zuvor ein gutes, störungsfreies Leben hatten, wirklich eher selten sind. Und das liegt daran, dass die meisten mit solchen Erlebnissen eben keine PTBS entwickeln. Sehr viel häufiger sind die komplexen Traumafolgestörungen, die hier ja bereits ausführlich beschrieben wurden. Und da kann ich aus meiner Arbeit auch nur sagen, dass sich zwar manches ähnelt, vieles aber eben auch sehr sehr unterschiedlich ist. Gerade im Bereich der Bindungs- oder Beziehungstraumata gibt es nicht immer die klassischen Flashbacks mit inneren Bildern oder Gerüchen, sondern das sind dann z. B. eher sich wiederholende Muster von Zurückweisung in Kombination mit Gegenangriff oder auch ganz anders, je nach Menschentyp.

Ich überlege mir eher, welche Art von Protagonist möchte ich bauen? Wenn es jemand sein soll, der eher selbstunsicher ist, dann überlege ich, welche Elemente als Background Story geeignet wären. Beispielsweise kommt Mobbing bei Menschen mit selbstunsicherem Persönlichkeitsstil relativ häufig vor, aber auch nicht immer. Dennoch sind die Modelle, finde ich, schon ein hilfreiches Werkzeug, um Charaktere zu bauen.

Ich glaube, bei Antagonisten ist halt immer die Schwierigkeit, dass man Ihnen ein Motiv und eine Geschichte geben muss, wenn man will, dass verstehbar wird, warum sie tun, was sie tun. Und da muss man sich etwas einfallen lassen, denn normalerweise kommt man nicht als Arsch zur Welt. Es ist aber durchaus möglich, dass jemand, der narzisstisch ist, sich nicht für jemanden hält, der auch traumatisiert wurde. Aber was schon klar werden kann, ist, warum er welche Regeln gelernt hat. Es gibt zum Beispiel Patienten, die sagen, "Meine Mutter hat immer gesagt, du darfst niemandem trauen." Wer mit so einem Lebensmotto groß wird, hat es schwerer, Vertrauen zu fassen, aber es wird als einziger Faktor vielleicht nicht ausreichen, um die Erwachsenenpersönlichkeit zu erklären.
Oder meine eigene Mutter hat immer gesagt, als blinde müsse ich mehr leisten um zu zeigen, dass ich genauso gut bin wie die Sehenden. Das ist nicht mal böse gemeint gewesen, trotzdem habe ich sehr lange einen immensen Leistungsanspruch an mich gehabt und habe den teilweise immer noch.

Und manchmal gibt es wirklich auch Geschichten, wo ich dasitze und nicht wirklich erklären kann, warum jemand eine bestimmte Störung entwickelt hat. ;) Aber solche Geschichten taugen wohl eher nicht für eine Hintergrundgeschichte eines Hauptcharakters.

Ich glaube, man kommt aber um Traumata auch deshalb oft nicht herum, weil man ja in seinen Büchern Sachen schreibt, die traumatisch sein können. Das heißt, selbst wenn eine Person ohne Trauma in die Geschichte geht, dann könnte es sein, dass sie etwas traumatisches erlebt. Beim Antagonisten wird ja i. d. R. nicht Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Und das dann zu beschreiben, ist ja auch nötig. Wobei ich auch darauf hinweisen möchte, dass es durchaus Leute gibt, die das erst mal komplett verdrängen. Es ist also aus meiner Sicht durchaus möglich, dass die Leute die Schlacht und die Toten vermeintlich gut wewgstecken, damit sie weitermachen können, insbesondere dann, wenn das alles noch nicht vorbei ist. Wenn es dann aber vorbei ist, dann müssen die Emotionen und Bilder und alles kommen, was man ausgeblendet hat. Und dann beginnt der hier schon so schön beschriebene nichtlineare Heilungsprozess. Bei den Leuten, die keine PTBS entwickeln, ist er nach ca. 8 Wochen abgeschlossen. Bei den anderen verbleibt es bei der Symptomatik. Oder es kommt zuerst zur Verdrängung und dann zu einem verzögerten Beginn. Man sagt nicht umsonst, dass die PTBS eine Genesungsstörung ist.

An eine dissoziative Identitätsstörung würde ich mich übrigens nicht dranmachen. Ich habe gerade eine Patientin in Behandlung und ich würde mir absolut nicht zutrauen, das zu beschreiben, was sie tagtäglich erlebt. Heißt aber nicht, dass es da nicht auch gute Ausarbeitungen geben kann.

Was @Andersleser beschreibt, kenne ich als blinde auch nur zur Genüge. Wie Behinderung in den Medien, im Film und Buch dargestellt wird, ist oft einfach nur zum Gruseln. Bestes Negativbeispiel aus der Welt der blinden ist der Film "Erbsen auf halb sechs", für alle, die mal bissl Spaß haben wollen, aber bitte nix von dem glauben, was da gezeigt wird :)

LG Sanjani
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: AlpakaAlex am 29. März 2022, 15:15:07
Ich muss offen und ehrlich sagen: Trauma spielt in meinen Geschichten immer eine wichtige Rolle. Liegt wohl auch mit daran, dass es wieder ein Thema ist, das in meinem Leben so präsent ist, dass es mir schwer fällt mir vorzustellen, wie es ist ein Leben ohne Trauma zu führen. Wie ist es, wenn es nichts gibt, das einen triggert? Ich weiß es doch nicht.

Dazu kommt natürlich auch, dass ich selbst als eine Person mit mehrfachen Marginalisierungen in erster Linie von anderen Personen mit Marginalisierungen umgeben bin - die natürlich auch multiple Traumata haben. Sprich: Ich kenne glaube ich nicht einmal jemanden gut genug, den ich fragen könnte, wie es ist, kein Trauma zu haben. (Und zugegebenermaßen fällt es mir teilweise auch schwer, mir vorzustellen, dass es überhaupt Leute ohne Trauma gibt - weil die aktuelle Gesellschaftsstruktur einfach sehr traumainduzierend ist.) Ich meine, ich kenne beispielsweise keine einzige weibliche Person, die nicht in irgendeiner Form ein sexuelles Trauma hat - und auch kaum eine nicht-binäre oder trans Person ohne ein solches Trauma. Auch wurden die meisten Leute in meinem Freundeskreis entweder gemobbt oder zuhause misshandelt.

Dahingehend ist es dann einfach ein Fall von: "Ich schreibe über meine Lebensrealität", wenn die Charaktere eben eigene Traumata haben. Denn es ist wirklich die Realität, wie ich sie wahrnehme.

Das heftigste in Bezug auf Traumata bei mir ist natürlich Mosaik, da die Geschichte eben im kriminellen Untergrund spielt und dadurch es halt fast gegeben ist, dass alle Figuren irgendeine Form von Trauma erlebt haben - und sei es nur, weil sie eben so viel Gewalt ausgesetzt waren. Die Protagonistin ist Kriegsveteranin, wurde von ihren Eltern vernachlässigt, hat mehrere Vergewaltigungen erlebt und ist natürlich effektiv seit sie 21 war beständig Gewalt ausgesetzt gewesen. Duh. Ihre Traumata haben Traumata. Und auch ansonsten. Wir haben in der Geschichte mehrere (ehemalige) Straßenkinder und außerdem noch jemanden, der drei Jahre im Menschenhandel war. Also ja ... Die einzigen kaum traumatisierten Figuren sind Doc Heidenstein und Siobhan. Heidenstein, weil er tatsächlich ein recht behütetes Leben gehabt hat, ehe er durch Umstände in die Kriminalität abgerutscht ist - Siobhan, weil sie eine wohl etwas verschobene Realitätswahrnehmung hat.

Ich habe nur auch bei der Recherche arg festgestellt, dass bestimmte Traumata in den Medien kaum richtig behandelt werden. Allen voran halt eben das Trauma von Kriegsveteranen. Ich habe im Rahmen der Recherche mit mehreren Leuten, die im Irak waren, gesprochen und habe immer wieder dasselbe gehört: Das macht normal keiner. Weil niemand will den schwer traumatisierten Veteran sehen. Alle wollen halt den heldenhaften Veteran - weswegen sowohl Romane, als auch Hollywood es meistens so darstellen.  :-[

Was ich allerdings wirklich schlimm finde, sind Geschichten, in denen Figuren komplett auf ihr Trauma reduziert werden. Was leider oft genug vorkommt. Und natürlich dann meistens in Fällen, wo die etwaigen Autor*innen das genaue Trauma so nicht erlebt haben und eben auch nur sehr oberflächlich recherchiert haben. Richtig, richtig schlimm ist es dann, wenn das Trauma erst total beherrschend ist und dann einfach nur "Liebe" das Trauma heilt. Ich meine, ja, eine gesunde Beziehung kann helfen, Traumata zu überwinden und soweit zu heilen, dass sie nicht mehr so im Vordergrund stehen ... Aber das braucht dann Zeit. Das geht nicht von jetzt auf gleich, weil man halt eine Beziehung hat. Ugh.


Zitat von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27
Mich stört auf der einen Seite, was oft auch als ,,Trauma Porn" bezeichnet wird: Geschichten, in denen Trauma exzessiv ausgewalzt wird. Meistens geht es um das Trauma marginalisierter Gruppen, meistens werden diese Geschichten aber nicht für Angehörige dieser Gruppen geschrieben, sondern als Unterhaltung für nicht-Angehörige. Auf der einen Seite wird hier Trauma benutzt, häufig von Autor*innen, die gar nicht davon betroffen sind, ohne auf die Bedürfnisse derjenigen zu achten, die davon wirklich betroffen sind. Viele Geschichten über queere Menschen erzählen zum Beispiel exzessiv vom Leiden queerer Menschen und schreiben sowohl an den Bedürfnissen als auch an der Lebensrealität echter queerer Menschen vorbei. Da fällt mir spontan Not Your Type von Alicia Zett ein: Der Protagonist des Buches ist trans und der gesamte Konflikt des Romans dreht sich darum, dass er trans ist und sich in eine cis Frau verliebt. Seine Persönlichkeit dreht sich darum, dass er trans ist und deshalb depressiv. Als ich Rezensionen von trans Personen zum Buch gelesen habe, stach für mich heraus: ,,Für wen auch immer dieses Buch ist, es ist nicht für uns".
Ja, das ist ja genau das, was ich angesprochen habe. Also dass eben einfach komplett an der Lebensrealität von betroffenen Menschen vorbeigeschrieben wird - und diese halt komplett auf das Trauma reduziert werden. Als ob es mit Trauma nicht mehr möglich wäre, in irgendeiner Form mehr Glück zu erleben (es sei denn natürlich, man ist in einer Beziehung - so die Logik dieser Bücher). Und es wird eben auch einfach nicht mit betroffenen Personen gesprochen. Stattdessen wird sich maximal auf eine halbstündige Onlinerecherche beschränkt.

Wie gesagt: Es ist ja tatsächlich so, dass wir häufig Kriegsveteranen auch komplett als Gruppe übergehen, die eigentlich ebenfalls marginalisiert ist (ich mein, es ist kein Zufall, dass in den USA ein nicht unerheblicher Anteil der Obdachlosenpopulation aus Veteranen besteht) und als solche Aber komplett übergangen wird.

Zitat von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27
Dann steckt da häufig noch eine Menge Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen mit drin. Besonders Frauen passiert es oft, dass sie an ihrem Trauma, das in aller Breite ausgewalzt wird, völlig zerbrechen und wahnsinnig werden, was in den Augen vieler Autor*innen Grundlage für eine tolle Antagonistin ist, die man mehr bemitleidet als sie zu hassen. Das ist genauso problematisch wie Männer, die nur aufgrund ihres Wahnsinns, oft ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, Gräueltaten begehen.
Oh ja. Preach. Das stört mich auch immer wieder. Also wenn Trauma als Begründung für böses Verhalten hergenommen wird - oder alternativ wenn psychische Krankheiten das begründen. Das ist so sanistisch.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Rhagrim am 17. Februar 2023, 19:21:24
Ich grabe diesen Post hier mal ,,kurz" (*hust* oder eher lang. Der Post wird lang.) wieder aus, da ich neulich daran denken musste, als mir eine Freundin nach einem längeren Gespräch über wie man sich so verändert im Leben gesagt hat ,,du warst früher dein Trauma."

Hab mich später daran erinnert, dass ich in diesem Thread hier ja mal ausgiebig genau darüber geschrieben habe, und darüber wie wichtig es ist, wenn man Trauma schreiben möchte, den Charakter als dreidimensionalen Menschen zu sehen und ihn nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren, und den Charakter selbst damit total flach und ersetzbar zu machen.
Ich stehe nach wie vor hinter allem, was ich hier so von mir gegeben habe, dachte mir aber, dass eine Ergänzung dazu vielleicht interessant sein könnte – eine Ergänzung, die sich sowohl mit Trauma selbst, als auch mit einem (meiner Meinung nach) genauso wichtigen Thema befasst: Der Heilung, und was ihr so im Wege steht.
Umso mehr, wenn man gerade das eben in der Geschichte, und v.a. vielleicht sogar aus dem Blickwinkel des Charakters erzählen möchte.

Hab mich zwangsläufig privat, als auch aus Interesse, weil es ein Schwerpunkt in meinem Projekt ist, viel damit auseinandergesetzt. Bin aber kein Profi. Dieser Post ist wie alle bisher also als ein Mix aus Recherche, Erfahrung und persönlichem rumphilosophieren zu verstehen, und dient hoffentlich als nützliche Inspiration und Perspektive. :P

Rest im Spoiler, da ich niemanden, der ahnungslos hier reinguckt, ungebeten mit einer Textwand erschlagen will *g*
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.



Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: selkie am 17. Februar 2024, 01:15:24
Das Thema finde ich total spannend und sehr vielseitig. Ich habe den verlinkten Artikel gelesen, und sogar auch einen Antwort-Artikel in der Zeit gefunden: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-01/ein-wenig-leben-hanya-yanagihara-hauptfigur-trauma (https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-01/ein-wenig-leben-hanya-yanagihara-hauptfigur-trauma)

Hier nimmt der Verfasser unmittelbar Bezug zu dem im New Yorker erschienenen Artikel, beleuchtet aber auch den Aspekt der Rezipient*innen, die in diesem Diskurs ebenfalls gehört werden sollten. Also sehr verkürzt gesprochen sagt der Artikel in der Zeit, dass der New Yorker Artikel zwar einen Punkt hat, dass man aber ebenso auch schauen sollte, wie Lesende zu der Diskussion stehen und wenn besagtes Buch bei ihnen sehr gut ankommt, man das ebenfalls ernst nehmen und in der Betrachtung nicht außen vor lassen sollte, dass diese Art von Erzählen eben auch sehr viele Fans gefunden und damit scheinbar auch einen Nerv getroffen hat.

Ich kann beide Positionen nachvollziehen. Irgendwie hat der Artikel in dem New Yorker Recht, dass Trauma, wenn es zu sehr auserzählt wird und nichts mehr der Vorstellung der Lesenden überlassen wird, im Buch seine Wirkmacht verliert und die Tragweite vom Trauma deshalb nicht wirklich beim Lesenden ankommt, was sehr schade ist. Anders formuliert, mag ich generell Geschichten lieber, wo Sachen angedeutet werden und nicht alles bis ins Detail seziert wird. Ich denke aber, dass das dann eher eine Frage des Erzählens ist und vielleicht auch eine Frage des persönlichen Empfindens. Wo ich mir vielleicht wünsche, dass ein Autor noch mehr in die Tiefe gegangen wäre, ist das einem anderen Lesenden vielleicht schon zu viel und umgekehrt. Allerdings finde ich, dass sich die Art und Weise wie wir Geschichten erzählt, nun einmal mit der Zeit auch ändert und es völlig okay ist, dass jetzt gerade andere Sachen ausprobiert werden und dadurch Neues entsteht, was manchmal funktioniert und manchmal nicht. Mich stört an dem New Yorker ein wenig dieses Festhalten an "früher war alles besser in der Literatur", was ein bisschen durch die Zeilen klingt. Und da finde ich den Zeit-Artikel einfach sehr gut, dass er beleuchtet, dass Bücher auch für Lesende gemacht sind und wenn ein Buch bei ihnen sehr gut ankommt, das eben auch ein valider Punkt ist.

Und zuletzt sehe ich das Argument, dass überspitzt ausgedrückt früher nicht überall Trauma war, ein wenig anders. Ich denke, dass wir viele Dinge jetzt besser benennen können, weil es inzwischen viel mehr Forschung zu Trauma gibt und es generell mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt ist.  Es stimmt, dass zum Beispiel bei der Netflix-Serie zu "Anne with an E" viele traumatische Erfahrungen noch angereichert wurden und eine größere Rolle spielen, als sie das im Buch getan haben. Aber auch im Buch waren ebendiese Aspekte bereits angelegt und vorhanden, auch wenn sie hier vielleicht nicht in der Breite auserzählt wurden. Allerdings werden sie dort immer wieder angedeutet, und in der Serie ist es visuell ja viel schwieriger, diese Andeutungen wiederzugeben, und dass sie deshalb einen Weg gefunden haben, das zu zeigen und beim Schauen verständlich zu machen, finde ich legitim. Hierbei könnte die Ursache für das Trauma-Erzählen einfach auch zum Teil dem gewählten Medium geschuldet sein.

Was mich beim Lesen über Trauma stört, ist beispielsweise auch, wenn einem Charakter ein Trauma zugestoßen ist und dieser dann seitenlang darüber lamentiert. Natürlich verstehe ich, dass es auch Teil der Verarbeitung ist, darüber zu trauern und auch darüber zu reden, aber nicht übertrieben gesprochen über hunderte von Seiten, in denen dann nichts geht, außer dass der Charakter sich intensiv mit seinem Trauma beschäftigt. Das finde ich dann handwerklich vom Schreiben her nicht so gut gemacht, da würde ich mir eher wünschen, das Trauma zwar immer wieder durchklingen zu lassen, und auch wie der Charakter damit umgeht, aber meine Kritik bezieht sich eher darauf, wenn ein Charakter in einer Fantasy-Geschichte nach einem Trauma überspitzt ausgedrückt die nächsten drei Bände lang jedes Kapitel nur darüber nachdenkt, wie schrecklich dieses gewesen ist. In dem Beispiel wäre es besser, wenn der Charakter immer mal wieder Momente hat (zum Beispiel weil er gewisse Orte nicht mehr aufsuchen kann oder Albträume bekommt), aber abgesehen davon auch noch andere Dinge passieren, die die Handlung voranbringen. Oder, wenn wirklich nichts mehr geht, dass es dann eben durch diese Situationen gezeigt wird, und nicht, der Charakter sitzt in seiner Kammer und die Lesenden sind dann wortwörtlich Zeug*innen des innerlich stattfindenden Monologs, der sich immer wieder im Kreis dreht und das dann aber immer wieder und wieder erzählt wird.

Sehr gut gefallen mir Erzählungen, in denen die Komplexität von Trauma einbezogen wird, also dass der Heilungsprozess nicht immer linear verläuft, es Rückfälle geben kann, wo es plötzlich wieder schlechter geht, und dass es eine vollständige Heilung vielleicht in der Form niemals so geben wird, dass das Trauma dann komplett weg ist, sondern eher, dass der Charakter einen guten Umgang damit gefunden hat und es diesen nicht mehr so belastet.

Ich selbst bemühe mich beim Schreiben eigentlich vor allem darum, die Gefühle meiner Protagonist*innen einzufangen, ohne so sehr in der Kategorie zu denken, "oh, ich schreibe jetzt hier gerade über Trauma". Natürlich habe ich das im Hinterkopf, aber beim Schreiben konzentriere ich mich auf sie als Menschen, wo das Trauma dann nur ein Aspekt ist, aber nicht der einzige und alleinige, der sie ausmacht. 
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Lino am 17. Februar 2024, 07:42:37
Oh vielen Dank für den verlinkten Artikel.

Ich musste mal wieder an einen meiner Freunde denken, der immer sagt, ohne Freuds Entdeckung der Psychoanalyse wären Autoren wie Tolstoj oder Dostojewski gar nicht möglich gewesen.

Das ist natürlich ein Scherz. Es ist ja genau anders herum, Schriftstellerinnen gehörten schon immer zu den feinen Beobachtanden. Insofern ist das Thema Traum vielleicht auch in Romanen erst aufgetaucht und dann in der Psychopathologie. Generell reden halt auch die Kids viel von Traumata heute, da passt es einfach in unsere Zeit.

Aber ich bin eher auf Parul Sehgal Seite. Es ist cool einen Roman darum aufzubauen, es ist uncool alle Romane darum aufzubauen.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Valentina am 17. Februar 2024, 14:19:46
Wow, das ist wirklich ein super interessanter Thread! Ich versuche das mal möglichst einfach aus der Sicht von einer neueren Autorin zu beantworten.

Man hat zwei Möglichkeiten:
- Entweder man wurde selbst traumatisiert, hat es (zumindest fast) verarbeitet und hat somit einen Blick von außen und von innen.

 Man weiß, wie es ist, man kennt die verschiedenen Schichten und Erfahrungen, die mit Trauma einhergehen. Jeder war mal ohne Trauma und manchen widerfährt es in unterschiedlichen Ausmaßen und je nachdem, wie man darauf reagiert, ändert sich die Persönlichkeit danach oder damit.
Man wird vor die Entscheidung gestellt, damit umzugehen und sich selbst in einem komplexen, schmerzhaften und langwierigen Prozess zu heilen oder man kann seinen Symptomen hinterherlaufen, sich in einer Traumaspirale wiederfinden und nur aus der Angst heraus agieren, das Trauma wieder und wieder durchleben.
Genau so kann man dann als Autor in die verschiedenen Schichten der Charaktere hineingehen. An welchem Punkt der Verarbeitung ist die Figur? Verarbeitet oder verdrängt sie? Und wie sieht das genau aus? Ist ihr Umfeld der Ursprung des Übels? Flieht sie und baut sich ein neues Umfeld auf, das das Trauma wieder einlädt oder schottet sie sich davon ab und heilt?
Wenn man etwas selbst durchlebt hat, kennt man die Muster, man weiß, welche Diagnosen es für das spezielle Thema gibt, ob sie aus Traumata oder doch teils genetischer Disposition entstehen (Allerdings, wie dieser Thread beweist, ist es ein sehr weites Feld, das scheinbar nie aufhört, weil Menschen eben komplex sind).
 Und man hat ein Gefühl für diese Themen in Form dafür, wie man es in eine Geschichte übersetzt. Trotzdem wollen manche, die so traumatisiert sind, vielleicht sogar explizit nicht über diese Dinge schreiben. Eben weil sie schmerzhaft sind, von vielen unverstanden und "begafft" werden als etwas, das "nicht normal, aber spannend" ist, wenn sie in einem Unterhaltungsmedium vorkommen. 

- oder man ist nicht in der Art traumatisiert, wie man es in die Geschichte schreiben möchte (und das sind wahrscheinlich die meisten, weil Fantasy mitunter sehr brutal sein kann) und muss vor allem lernen. Seien das Sensitivity Reader, Interviews mit Personen, Psychotherapeuten o.a. - im Internet gibt es so viele Informationen  wie noch nie zuvor und das ist eine sehr große Hilfe.
Der Effekt auf den Charakter ist immer das Wichtigste. Wie fühlt er sich, an welchem Punkt der Verarbeitung ist er, wie trifft er andere Entscheidungen basierend auf dem Erlebnis (ob gut oder schlecht) und wie ändert das den Plot und seinen Charakter?

Allerdings schließe ich mir hier anderen Stimmen an, dass das Trauma (vor allem bei Fantasy) nicht im Mittelpunkt stehen sollte. Jeder Mensch erlebt es anders und auch wenn man Sensitivity reader hat, heißt es nicht, dass andere Betroffene es nicht anders sehen oder fühlen würden. Außerdem wird von vielen Lesern Herzen Brechen oder Lügen als schlimmer bewertet als Töten, weil es Teil des Genres ist.
 
Insofern finde ich persönlich Trauma in Geschichten nur sinnvoll, wenn es von dem Charakter verarbeitet wird, er sich dadurch ändert und es in das größere Thema der Geschichte eingewoben ist.
Aber ich bin auch ein großer Fan von "Scheiße erleben, daraus lernen, stärker werden, es verarbeiten, aus der Scheiße rauskommen, gute Entscheidungen treffen, Happy End", weil es die Botschaft verstärkt, dass man vieles selbst in der Hand hat, wenn man nur will. Auch wenn viele scheinbar unüberwindbare Hindernisse im Weg bis zum Happy End auftauchen und es vielleicht nicht pompös ist, sondern eben nur ein stilles Händchenhalten.   


Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Franziska am 17. Februar 2024, 19:27:31
Sehr interessantes Thema. Ich finde es bei Fantasy auch immer wieder seltsam, wenn eine Figur nur schlimme Dinge erlebt, die man traumatisch nennen würde, es sich aber gar nicht auf sie auswirkt. Zwischen die Figur entwickelt PTBS und das Erlebte hat gar keine Auswirkung auf sie ist ja auch noch ein weites Feld.
Bei mir hab ich z.B. das Problem, dass sich die Figur durch Magie nicht an das traumatische Erlebnis erinnert. Außerdem ist es mit ihrer Magie verknüpft. Da kann ich nur spekulieren oder Psychologen fragen, ob ich das "realistisch" darstelle. Eure Beiträge waren auf jeden Fall sehr hilfreich.
Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Fluide am 17. Februar 2024, 22:39:29
Oh, der Thread ist total an mir vorbeigegangen bisher. Interessant, dass sich der Artikel auf das Buch von Yanagihara bezog. Ich habe das auch angefangen und nicht zu Ende gelesen, weil es mich irgendwie geärgert hat. Sie schreibt toll (finde ich), ich fand ihr Schreiben wirklich großartig, aber ich bin mehr und mehr zu dem Schluss gekommen, dass das Buch irgendwie inhaltsleer ist und dass es nur Oberfläche beschreibt und das hat mich dann mehr und mehr geärgert.

Tatsächlich ist das was, was mich momentan häufiger ärgert, da werden Traumata genommen, um Figuren Tiefe zu verleihen, ihr Verhalten zu erklären, Mitgefühl auszulösen. Für mich ist Literatur immer auch eine Übung in Empathie, aber ganz oft werden Traumata einfach nur "benutzt" und das nervt mich gewaltig. Denn was so oberflächliches Traumaherangeziehe auslöst ist eben kein Mitgefühl, sondern Mitleid. Wir wälzen uns mal recht schön in diesem Schmerz. Ojeojeoje, aber den Menschen wirklich verstehen, tun wir nicht.

Was ich in Romanen lesen will, sind Menschen, deren Handlungen Sinn ergeben, weil die Autor:innen sie gut vorstellen und einführen und darstellen. Dann kann ich sagen: Ah ja, das ist so und so ein Mensch, das und das fällt dem schwer oder leicht und ich habe Mitgefühl, wenn der blöde Entscheidungen trifft, die blöde Konsequenzen haben, einfach weil der:die Autor:in das für mich nachvollziehbar geschildert hat und ich in der Person und ihrem Sosein eben das allgemeine (und damit auch mein eigenes) Menschsein wiedererkenne. Dafür brauche ich keinen Rückgriff auf irgendeine traumatische Vergangenheit. Für mich ist das - sorry, das klingt jetzt vermutlich hart - lazy writing. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, die Person nachvollziehbar zu schildern. Nein, ich zaubere einfach ein Trauma aus dem Hut. Zack, das erklärt ja wohl alles, oder? In der Realität weiß ich auch nichts über die Vergangenheit der meisten Menschen. Kann ich erst Mitgefühl für jemanden aufbringen, wenn ich von seiner traumatischen Vergangenheit weiß? Und haben Leute, die keine Traumata erlebt haben, kein Mitgefühl verdient?

Sorry für den rant, Leute. Ich meine natürlich nicht, dass es keine Geschichte über traumatisierte Menschen geben soll. Das schon, natürlich, aber niemand soll Traumata und/oder traumatisierte Leute _benutzen_, um einer Geschichte mehr Tiefe zu geben oder irgendetwas zu erklären. Mich macht das sauer. Das ist nämlich keine echte Tiefe, das ist nämlich nur eine Illusion von Tiefe.

*rant off


Titel: Re: Trauma schreiben
Beitrag von: Sanjani am 16. März 2024, 17:10:40
@Fluite:
ZitatWas ich in Romanen lesen will, sind Menschen, deren Handlungen Sinn ergeben, weil die Autor:innen sie gut vorstellen und einführen und darstellen. Dann kann ich sagen: Ah ja, das ist so und so ein Mensch, das und das fällt dem schwer oder leicht und ich habe Mitgefühl, wenn der blöde Entscheidungen trifft, die blöde Konsequenzen haben, einfach weil der:die Autor:in das für mich nachvollziehbar geschildert hat und ich in der Person und ihrem Sosein eben das allgemeine (und damit auch mein eigenes) Menschsein wiedererkenne. Dafür brauche ich keinen Rückgriff auf irgendeine traumatische Vergangenheit. Für mich ist das - sorry, das klingt jetzt vermutlich hart - lazy writing. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, die Person nachvollziehbar zu schildern. Nein, ich zaubere einfach ein Trauma aus dem Hut. Zack, das erklärt ja wohl alles, oder? In der Realität weiß ich auch nichts über die Vergangenheit der meisten Menschen. Kann ich erst Mitgefühl für jemanden aufbringen, wenn ich von seiner traumatischen Vergangenheit weiß? Und haben Leute, die keine Traumata erlebt haben, kein Mitgefühl verdient?
Sorry für den rant, Leute. Ich meine natürlich nicht, dass es keine Geschichte über traumatisierte Menschen geben soll. Das schon, natürlich, aber niemand soll Traumata und/oder traumatisierte Leute _benutzen_, um einer Geschichte mehr Tiefe zu geben oder irgendetwas zu erklären. Mich macht das sauer. Das ist nämlich keine echte Tiefe, das ist nämlich nur eine Illusion von Tiefe.
*rant off

Grundsätzlich volle Zustimmung.
Aber: Es kommt immer auch ein bisschen darauf an, was für eine Person man entwerfen möchte. Wenn ich beispielsweise jemand haben will, der oft überschießend emotional ist, dann würde ich als Psychologin es eher unglaubwürdig finden, wenn die Person eine Lebensgeschichte hat, wo alles geradlinig verlaufen ist und sie bis zum Abenteuer, über das ich schreibe, noch nie eine Krise gehabt hat. Denn Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation können auch genetisch sein, lösen aber oft auch Interaktionsprobleme zwischen dem Kind und der Familie aus. Deshalb müssen nicht die schweren Traumata am Werk sein, da gebe ich dir voll Recht, aber irgendwas war am Werk.

LG Sanjani