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Kulturelle Aneignung in Romanen

Begonnen von Nightingale, 02. Juli 2013, 21:48:54

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Angela

Wenn man Russe sein müsste oder Amerikaner, müsste der Autor dann nicht auch aus der Schicht stammen, die er beschreibt?
Ich will damit sagen, wir nähern uns nur von außen an die Realität unserer Protas an, können uns bemühen, sie abzubilden, kennen ihre Lebenswelt aber nur eingeschränkt. Und das macht jeder von uns sicher so gut er kann und steckt die Arbeit hinein, die er für nötig hält. (Oder sucht sich einen 'Platzhalter', oder schreibt das, was die Leute halt lesen wollen, und wird auch so reich ;D.)

Mondfräulein

Ich bin davon überzeugt, dass ein Autor nicht nur über das schreiben darf, was er kennt. Jeder Autor kann einen Roman über Japan oder die russische Revolution schreiben, selbst wenn er aus einem kleinen Dorf im Süden Bayerns kommt. Dabei hat der Autor jedoch stets die Verantwortung, intensiv genug zu recherchieren, um alles authentisch darzustellen. Es reicht nicht, sich den Wikipediaartikel zur russischen Revolution durchzulesen und dann noch Anna Karenina zu sehen, weil das ja auch in Russland spielt. Wer sich ein Setting ausleiht, muss auch sorgsam damit umgehen. Wer über seinen Tellerrand hinaus schaut, muss genau hinsehen, bevor er anderen davon mit jenem Anspruch von Authentizität erzählt, den Romane oft genug erheben. Mich reizt beispielsweise auch seit Jahren eine Geschichte rund um das alte Japan, aber ich traue mich da noch nicht so heran, weil ich es mich nicht trauen würde, das ohne eine sehr intensive Recherche einfach so runterzuschreiben. Aber ich will diesen Roman noch schreiben.

Interessant gerade zum Thema Indien finde ich, was ich vor ein paar Jahren mal bei der Recherche für ein Referat über Bollywood gelesen habe. Die indische Filmindustrie bedient bewusst Klischees, um auch dem ausländischen Publikum das Indien zu geben, das sie sehen wollen. Niemand wird bestreiten, dass es im indischen Alltag ein wenig anders aussieht als in diesen schillernden Dreistündern, nicht nur während der Tanzszenen. Und das kommt gerade von dort, wo man doch Authentizität am ehesten erwarten würde. Wer soll denn Indien richtig darstellen wenn nicht die Inder selbst?

AlpakaAlex

Oh, ein Thema mit dem ich mich ausführlich auseinander gesetzt habe. Kulturelle Aneignung ist etwas, über das ich mir halt viele Gedanken mache und diese auch im Rahmen meiner Dekolonialisierung der Phantastik Reihe festgehalten habe. Inklusive dieses Artikels eben spezifisch zum Thema kulturelle Aneignung.

Letzten Endes lässt sich zusammenfassen: Kulturelle Aneignung ist nicht prinzipiell ein Problem. Wenn ich eine Geschichte schreibe, in der ich mir amerikanische "Gun, Burgers and Freedom" Kultur, samt weißköpfigen Seeadler, aneigne, dann mag das albern sein, aber letzten Endes entsteht dadurch kein großer Schaden. Und das ist halt eben das große Stichwort: Es entsteht kein großer Schaden. Denn Amerikaner als US-Amerikaner im allgemeinen werden weder diskriminiert, noch sind sie eine großartig ausgebeutete Gruppe (außer durch den Kapitalismus, aber das ist wieder ein anderes Problem), noch wurden sie oder die "Guns, Burgers and Freedom" Kultur historisch auf irgendeine Art unterdrückt. Außerdem dominieren sie und ihre Geschichten die internationale Medienlandschaft - es kann also kein Zweifel daran aufkommen, das Amerikaner*innen amerikanische Geschichten erzählen und davon sogar eine Menge Geld machen können.

Nehme ich mir aber nun statt der "Guns, Burgers and Freedom" Kultur, die Kultur der Navajo, so ist es etwas ganz anderes. Denn die Navajo haben bisher sehr wenige Möglichkeiten gehabt, ihre Geschichten in der Masse zu erzählen - deswegen haben die meisten Leute auch keine wirkliche Vorstellung davon, wie die Navajo-Kultur in wirklichkeit aussieht (die meisten wegen nur eine allgemeine, klischeeorientierte Vorstellung von "indigenen Amerikaner*innen" allgemein haben). Auch leben viele Navajo verarmt und können von ihren eigenen Geschichten nicht profitieren. Wenn ich also eine Geschichte über die Kultur der Navajo als weiße Person schreibe und diese veröffentliche, präge ich damit die Vorstellung der Leute mehr, als viele Navajo selbst die Chance hätten, sie zu prägen, was wahrscheinlich eine eher oberflächliche Darstellung sein wird, weil ich einfach nicht Navajo bin. Außerdem profitiere ich damit von einer Kultur, die historisch unterdrückt und ausgebeutet wurde. Und das ist halt unschön.

Deswegen gilt halt die Faustregel: Es ist nicht okay, als jemand aus einer traditionell kolonialisierenden Kultur über eine historisch gesehen kolonialisierte Kultur zu schreiben.

Allerdings gibt es dann halt eben auch diese Grenzfälle, die alles ein wenig komplizierter machen. Was ist mit China? China war nie wirklich kolonialisiert, hat aber unter der Kolonialisierung gelitten, ist nun aber selbst kolonialistisch. Was ist mit Japan? Japan war Kolonialmacht, allerdings war dies eine Reaktion darauf, dass versucht und angedroht wurde Japan zu kolonialisieren.

Und natürlich ist da noch die Sache mit der Diversität. In Sturmjägerinnen habe ich bspw. eine philippinische Hexe unter den Hauptfiguren und habe lange damit gekämpft, wie ich das mit ihrer Magie mache: Sage ich, ich gebe ihr, weil sie in den US aufgewachsen ist, einfach westliche Magie, oder gebe ich ihr philippinische Magie. Das eine löscht halt effektiv einen Teil ihrer Kultur aus, das andere ist kulturelle Aneignung. Letzten Endes bin ich halt dann doch mit der philippinischen Magie gegangen, weil es mir richtiger vorkam, als die Figur in ein westliches Bild zu stopfen.

Aber es ist eben ein sehr kompliziertes Thema.
 

Frostschimmer

Hä? Moment mal, willst du damit allen Ernstes sagen, dass man als westlicher Autor zum Beispiel keine Geschichte schreiben soll, die in Indien spielt, weil das kulturelle Aneignung ist, selbst dann, wenn das Setting sauber recherchiert und nicht stereotypisiert dargestellt wird?

Ähm... tut mir leid, aber das sehe ich absolut nicht ein. Nach dieser Logik ist mir als Autor also verboten, über den Rand meiner eigenen Kultur hinauszublicken und mich mit solchen zu befassen, sie mich interessieren, wenn für diese jetzt gleichzeitig gilt, dass sie eine Kolonialisierungsvergangenheit haben? Ich finde das sehr extrem, ehrlich gesagt. Auch ergibt die Begründung für mich leider absolut keinen Sinn.
Auf der einen Seite sagst du, dass die Geschichten dieser Kulturen nicht genug erzählt werden, dann aber legst du fest, dass nur jemand, der innerhalb dieser Kultur sozialisiert wurde, das Recht hat, davon zu erzählen, nicht aber jemand, der sich aus kultureller Neugier darüber informiert hat.
Warum ist es denn schlimm, wenn jemand diese Geschichten erzählt? Damit wird der Kultur doch dann auch Aufmerksamkeit zuteil, die sie sonst vielleicht nie bekommen hätte? Das Argument, dass nun jemand, der nicht innerhalb der fraglichen Kultur sozialisiert wurde, sich die Gelegenheit einfach nehme, diese Geschichten zu erzählen, und somit jemand, der innerhalb der Kultur sozialisiert wurde, diese nun nicht habe, ergibt für mich keinen Sinn. Man nimmt doch dieser Person nicht ihre Gelegenheit weg, es können doch auch mehrere Autoren über einen Sachverhalt berichten, das ist doch kein Wettrennen!

Hinzukommt außerdem, dass wir hier immer noch von Fantasy-Literatur reden, da ist Realismus ohnehin nur eingeschränkt zu erwarten. Wenn sich nun also ein westlicher Autor ein indisches Vorbild für seine Fantasy-Welt heranholt, verstehe ich absolut nicht, warum das ein Problem ist. Vielleicht weckt der Autor damit beim Leser ja sogar das Interesse, sich mit der indischen Kultur auseinanderzusetzen?

Tut mir leid, aber bei dieser Diskussion über kulturelle Aneignung habe ich immer mehr den Eindruck, dass kulturelle Blindheit regelrecht gefordert wird, um zu verhindern, dass irgendjemand behaupten kann, ihm wurde etwas weggenommen. Das finde ich nicht gut, da auch niemandem etwas weggenommen wird, wenn jemand über seine Kultur schreibt.
Das hat für mich den Beiklang davon, dass jemand, der ,,nicht dazu gehört" auch nichts sagen darf. Das hält der Kunstfreiheit einen Dolch an die Kehle.

Ary

Ich bin da komplett bei @Mondfräulein:

Zitat von: Mondfräulein am 07. Juli 2013, 23:41:47
Ich bin davon überzeugt, dass ein Autor nicht nur über das schreiben darf, was er kennt. Jeder Autor kann einen Roman über Japan oder die russische Revolution schreiben, selbst wenn er aus einem kleinen Dorf im Süden Bayerns kommt. Dabei hat der Autor jedoch stets die Verantwortung, intensiv genug zu recherchieren, um alles authentisch darzustellen. Es reicht nicht, sich den Wikipediaartikel zur russischen Revolution durchzulesen und dann noch Anna Karenina zu sehen, weil das ja auch in Russland spielt. Wer sich ein Setting ausleiht, muss auch sorgsam damit umgehen. Wer über seinen Tellerrand hinaus schaut, muss genau hinsehen, bevor er anderen davon mit jenem Anspruch von Authentizität erzählt, den Romane oft genug erheben.

Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

tarepanDaya

@AlpakaAlex Das ist ein Thema, was mich auch schon lange umtreibt. Danke fürs Hochholen und für den Link zu deinem Blogbeitrag mit den weiterführenden Links. Da kann ich mich weiter belesen und informieren! :vibes: - Ich fand auch den Link von (ich glaube) Malinche ganz interessant: Was ist Kulturelle Aneignung. Wie du schon sagst, ist es ein komplexes Thema, und weil ich noch Input suche, habe ich dazu auch noch keine hilfreiche Meinung.  :omn:

Mondfräulein

Es hilft in dieser Diskussion halt auch niemandem, wenn man sich sofort empört und die Kunstfreiheit bedroht sieht, nur weil sachlich und differenziert darüber diskutiert wird, wann man mit seinen Geschichten Schaden anrichtet und wann nicht. Dann eskalieren wir die Debatte wieder auf ein Level, auf dem man sie einfach nicht mehr führen kann. Und das kotzt mich inzwischen halt ehrlich gesagt einfach nur noch an.

Ich habe mich seit 2013 auch noch mehr mit diesem Thema beschäftigt und würde meinen Standpunkt jetzt vielleicht anders erklären. Ich denke, es ist halt einfach wirklich kompliziert und kommt immer irgendwie drauf an. Aber nach wie vor sehe ich es immer noch so, dass man einfach echt viel recherchieren muss. Und wenn ich mich so intensiv mit einer Kultur auseinandersetze, dann sollte ich irgendwann wissen, ob ich meine Geschichte erzählen kann oder nicht, denn zu einer Kultur gehören immer auch Menschen, die Meinungen dazu haben, wie sie selbst in Geschichten dargestellt werden sollten und wie eben nicht. Als Beispiel finde ich zeigen die Quileute ganz gut, wie kompliziert das sein kann. Soweit ich informiert bin, sehen viele die Twilight-Romane als zweischneidiges Schwert, denn auf der einen Seite hat die Aufmerksamkeit dem Stamm in mancher Hinsicht geholfen, auf der anderen Seite kennen viele den Stamm nur durch die Twilight-Romane und viele kritisieren die Darstellung in den Büchern und Filmen.

Das überschneidet sich auch mit der Thematik, wann eine Geschichte Own Voices Autor*innen eher schadet und wann sie ihnen eher nützt. Außerdem würde ich hier auch nochmal zwischen Geschichten differenzieren, die wirklich konkret ein für diese Kultur spezifisches Thema aufarbeiten und solchen, die die Kultur eher als Setting nutzen. Eine Hauptfigur mit Wurzeln in Japan ist etwas anderes als eine Geschichte darüber, wie es ist, Japaner*in zu sein. Das macht finde ich auch nochmal einen Unterschied.

Arcor

@Frostschimmer
Ich kann deine grundsätzliche Reaktion nachvollziehen, mir ging es am Anfang auch so. Ich glaube, man muss das aber differenzierter sehen. Es hängt schlicht von vielen Faktoren ab.

Zum einen gibt es immer noch wahnsinnig viele Autor*innen, die nur oberflächlich recherchieren. Bei der Darstellung von anderen, realen Kulturen tun sich dann aber unzählige Stolperfallen für Rassismus, Kolonialismus, Slurs und Diskriminierung auf, weil schnell entsprechende Klischees bedient werden. Dies kann man durch sehr viel Recherche und Auseinandersetzung mit den entsprechenden Themen gut umgehen, sodass dann sicher nichts dagegenspricht, über diese Kulturen zu schreiben. Oder?

Hier tun sich aber zwei andere Dinge auf, die beachtet werden sollten. Zum einen, dass es oft für nicht-weiße Autor*innen schwierig ist, veröffentlicht zu werden. Der Buchmarkt in vielen westlichen Ländern ist primär weiß. Schreibt man dann als weiße*r Autor*in über eine andere Kultur, kann es sein, dass ein Verlag sich freut und es verlegt, aber dafür nicht das Buch einer Person dieser Kultur, weil der Verlag sagt: "Wir haben da ja schon was." Das muss nicht so sein, es kann aber passieren, und insofern ist es manchmal doch ein Wettbewerb/Rennen, jedenfalls wenn es nicht nur ums Schreiben an sich, sondern auch um das Veröffentlichen geht.

Zum anderen hängt es glaube ich immer auch von der konkreten Geschichte ab, ob es "in Ordnung" ist, als weiße*r Autor*in über eine fremde Kultur zu schreiben. Gerade wenn Themen wie Kolonialismus, Diskriminierung, Rassismus oder sonstige Formen von Feindlichkeit thematisiert werden, sollte man sich überlegen, ob man - auch mit umfassender Recherche - in der Position ist, eine solche Geschichte zu schreiben, oder ob dies nicht lieber den entsprechenden Personen überlassen werden sollte, den sogenannten own-voice-Autor*innen.
(Das kann auch bei ganz unverfänglichen Themen der Fall sein. Zum Beispiel, ich bin ein Mann und ich denke, es ist okay, Figuren in meinen Büchern auftreten zu lassen, die schwanger sind. Sollte ich aber ein Buch schreiben, das sich in der Ich-Perspektive im Detail mit Schwangerschaft, Veränderungen des eigenen Körpers etc. auseinandersetzt? Ich glaube nicht, weil ich es auch mit noch so guter Recherche zwar verstehen, aber nicht wirklich nachempfinden kann.)
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

AlpakaAlex

Die Sache ist nun einmal diese: Man kann so viel recherchieren, wie man will, aber man wird nie eine Geschichte auf dieselbe Art schreiben, wie jemand, der in dieser Kultur lebt. Selbst wenn man jetzt rein hypothetisch als deutsche*r Autor*in in das Land zieht und da für eine Weile lebt, hat man immer noch eine komplett andere Erfahrung, als jemand, der in der Kultur aufgewachsen ist. Ist halt einfach so.

Und wenn wir jetzt nun einmal bei dem Beispiel der Navajo bleiben: Das ist einfach eine aktive, unterdrückte Religion. Und es ist halt einfach nicht in Ordnung aus einer solchen unterdrückten Religion Aspekte zu benutzen, um sein Fantasy-Buch aufzupeppen. Gerade während halt Leute aus dieser Kultur keine Möglichkeit bekommen, diese Geschichten irgendwie auf ihre Art und Weise zu erzählen.

Und dieses: "Das lass ich mir aber nicht verbieten!" ist halt auch einfach nur weißes Privileg, das da spricht. Weiße Menschen sind es halt gewohnt, sich einfach aus anderen Kulturen zu nehmen, was ihnen gefällt, und damit zu machen, was sie wollen.

Und es ist halt auch noch einmal ein riesiger Unterschied ob man russische Revolution, irgendwas mit Indien, modernes Japan oder über indigene amerikanische Völker schreibt. Russische Revolution ist halt komplett unproblematisch, weil es halt keine kolonialisierte, unterdrückte Kultur ist. Da ist es relativ undramatisch. Modernes Japan ist schon ein wenig problematisch - gerade weil die Neigung oft dazu geht bestimmte Vorstellungen zu verbreiten - aber bei weitem nicht so sehr, da Japaner*innen auf der internationalen Bühne halt genug Möglichkeiten haben ihre eigenen Geschichten zu erzählen (japanische Produktionen werden international vermarktet und so). Indien ist schon einmal ein Stück problematischer. Die haben auch internationale Vermarktung ihrer eigenen Medien, sind aber kulturell gesehen viel mehr gegängelt und haben halt viel stärker unter dem Kolonialismus gelitten. Und indigene amerikanische Kulturen sind halt in meinen Augen ein No-Go, weil die halt kaum die Möglichkeit bekommen, irgendwo etwas eigenes zu erzählen.
 

Amanita

Zumindest ich habe bis jetzt nicht mitbekommen, dass irgendjemand hier vorhat, Elemente indigener, amerikanischer Kulturen in eine Fantasywelt einzubauen und darauf besteht, das tun zu dürfen. Wenn man aber betrachtet, welcher Schaden dadurch bei einem in Deutschland auf Deutsch veröffentlichten Buch angerichtet wird, halte ich den für sehr überschaubar, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige der Kultur oder Menschen, die einen direkten Einfluss auf ihre Lebensrealität haben, das Buch jemals lesen werden ist äußerst gering. Trotzdem ist es eine Frage des Anstands, so etwas zu unterlassen, wenn die Angehörigen der Kultur es mehrheitlich explizit nicht möchten.
Schlecht recherchierte Darstellungen anderer Kulturen sind immer ärgerlich und frustrierend, für Angehörige der schlecht dargestellten Gruppe und alle anderen, die sich besser mit dem Thema auskennen. Diese Leuten werden das Buch dann höchstwahrscheinlich auch nicht mögen. Deswegen ist es grundsätzlich sinnvoll, sorgfältig zu recherchieren, wenn man über andere Kulturen schreiben möchte, aber darunter fällt für mich auch schon, wenn die Geschichte eines deutschen Autoren beispielsweise in New York spielen soll.

Die zweite Frage ist dann, wann wirklich durch schlechte Darstellungen, oder überhaupt durch Darstellungen anderer Kulturen Menschen konkret Schaden zugefügt wird. Um das zu entscheiden, reicht es meiner Meinung nach nicht, sich einfach anzuschauen, was in den USA für problematisch erachtet wird und es in der dortigen Gesellschaft sicherlich auch ist, und dies dann eins zu eins auf Deutschland zu übertragen, wo die Unterdrückungsdynamiken und auch die historischen Verfehlungen ganz andere sind.
Trotz aller kolonialer Beteiligung hat Deutschland doch hauptsächlich auf dem eigenen Kontinent gewütet und sowohl der Holocaust als auch der Vernichtungskrieg im Osten sind Themen, die man als deutscher Autor nicht einfach ignorieren kann. Gerade letzteres spielt in den meisten Debatten aber kaum eine Rolle, ganz im Gegenteil, zumindest gegenüber Russland macht sich im politischen Diskurs jeder verdächtig, der zuwenig Feindseligkeit an den Tag legt.
Ich würde es definitiv nicht als unproblematisch ansehen, als Deutsche über die Russische Revolution zu schreiben, gerade auch, weil deutsche Machtpolitik daran einen massiven Anteil hatte. (Lenin aus dem deutschen Asyl einreisen lassen, damit die Bolschewiken an die Macht kommen und den Kapitulationsvertrag unterschreiben...)

Aber wieder zurück zu meiner Ausgangsfrage: Wann kann ein Buch über eine bestimmte Gruppe, dieser Gruppe wirklich schaden?
Wenn der Autor in Konkurrenz zu Angehörigen der Konkurrenz tritt, die ihre Bücher auf demselben Markt anbieten wollen, aber schlechtere Chancen haben. (Ein Punkt, der auf die Navajo in den USA zutreffen könnte, in Deutschland aber nicht.)
Wenn Angehörige der Gruppe eigentlich zur Zielgruppe gehören und dann nur diese schlechte Darstellung ihrer Gruppe vorfinden.
Und der meiner Meinung nach gravierende Punkt: Wenn das Buch gefährliche Klischees verbreitet, oder die anderen innerhalb einer Gemeinschaft gegen die Gruppe aufhetzt.
Als Beispiel fällt mir dafür ein, wenn asiatische Frauen als devot und willig dargestellt werden und das dann Männer mit entsprechenden Neigungen dazu animiert, Geschäftsmodelle auszunutzen, die asiatische Frauen ausbeuten.
Oder auch, wenn in einem Buch die Wahl eines muslimischen Politikers dazu führt, dass dieser ein islamistisches Kalifat errichtet, wodurch Wähler davon abgeschreckt werden, Politiker mit muslimisch klingendem Namen zu wählen, was dann deren Teilhabe erschwert.

Im Gegensatz dazu bezweifle ich, dass eine Fantasygeschichte, in der inspiriert vom Mahabharata die Geschichte eines Atomkriegs unter Aliens dargestellt, in Indien tatsächlich irgendjemandem schadet, auch wenn es vielleicht Leute gibt, die sichaufregen würden, wenn sie es zu lesen bekämen. Grundsätzlich finde ich das aber auch nicht verwerflicher, als wenn Deutsche in amerikanischen Filmen entweder als Naziantagonisten oder beim Oktoberfest in Berlin auftreten, oder wenn japanische Mangas Mariendarstellungen als Aufnahme von Magie über die Muttermilch interpretieren.

Die als Inspiration für Fantasy beliebtesten Länder sind ja soweit ich das mitbekomme eher China, Indien, Japan, Ägypten und der Nahe Osten als indigene oder auch afrikanische Kulturen. Bei China, einem Land, das militärisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich sehr mächtig und uns tendenziell überlegen ist, sehe ich da keine Gefahr wirklichen Schaden anzurichten, bei Japan mit dem eigentlich immer auf Augenhöhe waren, auch nicht und Indien hat zwar mehr Probleme, ist aber immerhin Atommacht und uns also militärisch auch definitiv überlegen. Bei Ägypten und dem Nahen Osten ist es schwieriger, aber da gibt es zumindest sehr viele Möglichkeiten, den direkten Kontakt zu Menschen aus diesen Kulturen zu suchen, wenn man ihn nicht im Alltag sowieso schon hat und sich dann auch ausreichend auszutauschen, um genug zu lernen.
Bei allen sollte es aber natürlich trotzdem unterlassen werden, gegen diese Gruppen zu hetzen und wie schon mehrmals vorher geschrieben wurde, ist es auch wenig sinnvoll und angemessen, Geschichten darüber zu schreiben, was es bedeutet Mitglied einer Kultur zu sein, zu der man nicht gehört.

Bei afrikanischen und indigenen Kulturen scheint es ja wohl  eine Art Konsens zu geben, dass man es unterlassen sollte, als weißer Autor darüber zu schreiben, soweit ich das bis jetzt verstanden habe. Das ist ein Punkt, den man meiner Meinung nach bei den entsprechenden Diskussionen präzisieren sollte, damit sich nicht doch weiße Autoren angesprochen fühlen, wenn jemand anspricht, dass es zu wenig Repräsentation für diese Kulturen gibt.

AlpakaAlex

@Amanita Es ist vollkommen egal, ob jemand aus der etwaigen Kultur das Buch lesen wird. Der Schaden entsteht nicht, wenn jemand aus der etwaigen Kultur die Geschichte liest, sondern gerade wenn jemand, der der Kultur nicht angehört, diese Geschichte liest und sich deswegen ein falsches Bild über diese Kultur oder Elemente aus dieser Kultur bildet. Ein gutes Beispiel dafür sind beispielsweise yee naaldlooshii, weiter bekannt als Skinwalker. Die sind auch der Grund, warum ich die ganze Zeit die Navajo-Kultur als Beispiel heranziehe. Denn Skinwalker werden sehr gerne und immer und immer wieder in der Phantastik aufgegriffen, sowohl in Fantasy, als auch in Horror - und die Art, wie sie von nicht-Navajo Autor*innen dargestellt werden, ist nun einmal komplett falsch und auch sehr respektlos gegenüber der Bedeutung, die yee naaldlooshii in der Kultur der Navajo einnehmen.

Und nein, auch die Größe vom Militär und dergleichen hat absolut nichts mit kultureller Aneignung zu tun. Kulturelle Aneignung geht um zwei Dinge: 1) Welche Kulturen historisch unterdrückt wurden und 2) wer sowohl historisch, als auch aktuell die Macht über Geschichten hat. Und kein noch so großes Militär kann dir die Macht über Geschichten kaufen. Die entsteht einfach komplett aus der historischen Macht heraus. Es geht darum, das bestimmte Geschichten historisch unterdrückt wurden und teilweise es auch noch immer werden.
 

Frostschimmer

#26
Also, angenommen, ich würde etwas über Skinwalker schreiben, dann würde ich dabei höchstwahrscheinlich einfach an Wesen denken, die nach außen erst mal menschlich wirken, sich aber in andere Wesen verwandeln können, grundsätzlich also Gestaltwandler. Ich hätte dabei sicher nicht ,,yee naaldlooshii" im Sinn. Kann ja sein, dass der ursprüngliche Skinwalker den zum Vorbild hatte, aber die Navajo haben ja kein Patent auf Gestaltwandler. In der japanischen Kultur fallen mir da spontan die Tanuki ein, die haben das auch drauf, und selbst Figuren westlicher Märchen können das, Schneewittchens Stiefmutter zum Beispiel, oder auch Maleficent. Auch ältere Überlieferungen haben solche Wesen, zum Beispiel Loki oder sogar Lucifer (die Schlange). Gestaltwandler sind ein sehr, sehr altes Phänomen. Hierbei jetzt also Respektlosigkeit der Navajo-Kultur zu unterstellen, ist einfach unangebracht.

Abgesehen davon – das sagte ich schon einmal – reden wir hier immer noch von Fantasy. Ich schreibe also, wenn ich jetzt Anteile aus der Navajo-Kultur als Inspiration hernehme, nicht über die Navajo, sondern über ein fiktives Volk, das anteilsweise von den Navajo inspiriert ist. Ich nehme mir nicht heraus, zu behaupten, ich wüsste, wie es ist, ein Navajo zu sein. Ich gebe auch nicht vor, mich mit deren Kultur auszukennen, ich hätte in dem Fall nur einzelne Elemente als Inspiration für ein Fantasyvolk verwendet.
Da holt man sich die Inspiration überall und ich sehe absolut nicht ein, warum ich bestimmte Elemente dann nicht verwenden darf, vor allem, weil ich sie dann nicht mit der möglichen Herkunftskultur in Verbindung setze.
Ich muss dazu aber auch sagen, dass es auf Kultur meiner Ansicht nach keine Besitzansprüche gibt. (Religiöse Aspekte sind anders zu bewerten.)

Ich finde es schlicht allgemein befremdlich, dass es offenbar den Anspruch gibt, bestimmte Elemente nicht verwenden zu dürfen, weil irgendjemand meint, das Exklusivrecht darauf zu haben.

Mondfräulein

Zitat von: Frostschimmer am 05. September 2021, 12:37:48
Hierbei jetzt also Respektlosigkeit der Navajo-Kultur zu unterstellen, ist einfach unangebracht.

Unangebracht ist eher, dass du reale Problematiken wie Cultural Appropriation und Rassismus konstant kleinredest (nicht nur in diesem Thread sondern eigentlich immer, wenn es um das Thema geht) und dich dann groß drüber echauffierst, wie furchtbar es ist, dass dir jemand verbieten will, reale Kulturen, die durch Kolonialismus, Rassismus und Völkermorde fast ausgerottet wurden, für deine Fantasyromane zu verwursten. Du siehst es nicht ein, weil du es nicht einsehen willst. Du hörst nur dann zu, wenn du dich drüber aufregen kannst. Du versuchst nicht einmal zu verstehen, was das Problem dahinter ist und brichst es dann auf "Buhu, andere verbieten mir zu schreiben, was ich will" runter. Und das ist halt wortwörtlich respektlos.

Frostschimmer

@Mondfräulein nö, das ist so nicht, ich sehe nur nicht ein, warum ich keine Elemente verwenden darf, die in eine Fantasywelt passen, nur weil es vor 250 Jahren vielleicht mal so war, dass Angehörige meiner Kultur eine andere unterdrückt haben. Außerdem stülpst du sehr oft Argumente über unsere Kultur, die aus dem nordamerikanischen Sektor kommen, und hier nicht passen.
Außerdem ist alles problematisch, wenn du nur lange genug gräbst. Die Schrift, die wir hier verwenden, ist nicht unsere, sie kam mit den Römern her, die Zahlen sind arabisch. Ich weiß, ich weiß, jetzt kommen wieder die "auf Augenhöhe" Argumente, aber so war das nicht. Es gab blutige Kriege.
Kulturen stehen im Austausch, das war schon immer so. Was ich nicht einsehe, ist, dass plötzlich alles ein Problem ist. Diese Argumente erzeugen Probleme, wo eigentlich keine sind/sein müssten.
Was ich im Moment sehe, ist ein absoluter Generalverdacht weißen Menschen gegenüber, respektlos und feindselig zu sein. Ich finde das wirklich traurig. Rassismus ist mir völlig fremd, das kannst du mir glauben, aber plötzlich soll das ein Problem sein.
Schade, wirklich. Eigentlich hatte ich hier auf einen Austausch auf "Augenhöhe" unter schriftstellerisch Tätigen gehofft, aber anscheinend gibt es hier überwiegend Politdiskussionen - nein, Moment, Politdebatten.
Sei's drum, ich halte mich raus.
LG
Frostschimmer

Mondfräulein

Der Punkt ist doch, und das haben hier genug Leute lange genug erklärt, dass diese Dinge vor 250 Jahren jetzt immer noch Konsequenzen haben. Wir leben in einem System, das aus dieser Zeit entstanden ist und immer noch bestimmte Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften systematisch benachteiligt. Die Römer sind keine von Diskriminierung betroffene Minderheit.

Und ja, Kulturen tauschen sich aus. Das ist auch etwas Schönes. Dieser Thread dient ja auch dazu zu sortieren, wann es sich um Cultural Appreciation, kulturellen Austausch und Cultural Appropriation handelt. Alle drei Dinge gibt es, den Unterschied zu erkennen ist nicht immer leicht.

Und nein, Rassismus ist dir nicht fremd. Die Aussage selbst ist wahnsinnig ignorant. Du ignorierst ihn nur. Weil du in einem rassistischen System lebst, in dem du selbst von Rassismus profitierst. Rassismus zu ignorieren ist ein Privileg, das nur die haben, die nicht davon betroffen sind. Rassismus zu ignorieren heißt aber auch, dass man das System unterstützt, das andere Menschen unterdrückt, diskriminiert und benachteiligt.

Es ist auch nicht "plötzlich" ein Problem. Es war immer ein Problem, Weiße haben es nur ignoriert und dafür gesorgt, dass es nicht als eines wahrgenommen wird, damit das System nicht ins Wanken gerät. Geändert hat sich nur, dass BIPoC endlich zugehört wird. Wirklich nur das.

Das Problem ist halt, dass wir in unserer Gesellschaft generell nicht auf Augenhöhe sind, weil wir in einer rassistischen Gesellschaft leben, die von rassistischen Machtstrukturen durchzogen ist. Um auf Augenhöhe über das Thema zu diskutieren, müssen wir Rassismus und die Stimmen von BIPoC anerkennen und ihnen zuhören. Wir müssen unsere weißen Privilegien anerkennen und erkennen, wann es halt auch einfach mal nicht um unserer Meinung und Befindlichkeiten geht. Anders kann man in Debatten um dieses Thema keine Augenhöhe feststellen.

Und das Argument "auf einmal ist alles politisch" ist halt auch so durchzogen von weißen Privilegien.