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Ich bin der Neue ...

Begonnen von Artemis, 15. Februar 2008, 07:50:35

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Artemis

Geht es euch manchmal auch so?
Ihr geht artig irgeneiner Tätigkeit nach, kocht, lest, putzt Zähne, fährt Auto - und plötzlich steht jemand (imaginär natürlich  ;) ) neben euch und grinst euch an. So nach dem Motto: "Hi, ich bin der Neue!"

Tja, und dann ist er plötzlich da, der Neue. Der Protagonist, der keiner sein sollte, aber da wohl anderer Meinung war. Der aus irgendeiner Ecke des Autorenkopfes purzelt, ohne Story im Rücken, aber mit einem verflixt redseligen Mundwerk. Man fragt ihn also aus, diesen Neuen, und erfährt stückweise mehr über ihn. Und irgendwann beginnt man tatsächlich, diesen fremden Eindringling ganz nett zu finden. Dann sitzt man also da, plauscht mit dem neuen Charakter, tauscht erste Freundschaftsbändchen aus, und ganz plötzlich spuckt dieser Neue die Frage aus, ob er denn seine eigene Geschichte bekäme.
Wie, Geschichte?
Ja, so eine Geschichte halt. Ne ganz kleine. Weil er ja viel zu erzählen habe. Und nette Freunde habe er obendrein auch. Gäben sicher tolle Nebenfiguren.

Tja, dann sitzt dieser fremde Protagonist also beinebaumelnd im Kopf des Autoren und verlangt lautstark danach, seine Geschichte erzählen zu dürfen. Und der Autor, der ja tierlieb ist, lässt dem Burschen seinen Willen.
Und ist für die nächsten Monate zwangs-liiert mit dem Neuen.

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Geht euch das auch so? Dass ganz plötzlich jemand in euren Gedanken auftaucht, mit fertigem Charakter und erstaunlichen Eigenarten, ohne dass ihr auch nur einmal scharf nachdenken musstet, ob der Kerl seine Spaghetti nun mit Löffel und Gabel wickelt oder mit dem Messer kleinschnibbelt (und ihr tatsächlich mit totsicherer Gewissheit wisst, dass er sie vorm Kochen kleinbröselt!)? Normal dauert es ja Wochen, bis man einen Charakter halbwegs ausgearbeitet hat - umso unheimlicher wird es dann, wenn man so einem "fertigen" Prota begegnet. Wer nimmt einem die Gedankenarbeit ab? Das Unterbewusstsein?  :hmmm:

Heute morgen im Auto hatte ich so eine nette Begegnung, und ich ahne jetzt schon, dass die Folgen haben wird. Da hockte plötzlich ein schlacksiger Mitt-Zwanziger mit einer furchtbaren Gelfrisur aus den späten 50ern neben mir aufm Beifahrersitz, flätzte seine polierten Lackaffen-Lederschühchen auf mein Amaturenbrett und grinste mich an. Der Kerl ist mir nicht ganz geheuer, aber er hat interessante Unarten  :rofl:


Wie behandelt ihr solch einen aufdringlichen Gesellen? Schickt ihr den mit einer netten Postkarte eures Heimatortes in die Wüste, oder fordert ihr ihn heraus und guckt, was er zu bieten hat? Landet er im Notizbuch, oder wird er gar sofort in eine Rolle gesteckt, die zu ihm passt? Womöglich mit der eigenen Geschichte drumherum?



@ Mods:
Nein, das hier hat nix mit der Eigeninitiative zu tun, denn den Thread gibt es bereits, ich weiß  ;)  Mir gehts nur um das Erscheinen des Protas, bevor man die Story kennt, nicht um sein späteres Handeln in der Geschichte.

Ary

#1
Hi Artemis,
so ging es mir mit dem Hauptprotagonisten aus meiner "Romanidee" Meeresträume - ich nenne s erst mal eine Idee, da bist auf den Prolog, zwei Kapitel und einen groben Plot noch nichts davon vorhanden ist - außer den beiden Hauptcharakteren.
Eigentlich muss ich dazu sagen, dass unsere Pandorah und ihr Buch "Wie ein Schlangentanz" an allem Schuld sind. Da geht's nämlich um Meermänner, und genau so einer schoss mir beim Lesen dann auch in den Kopf, schwamm um mich rum, spreizte seine schicken Flossen ab und tappte mir auf die Schulter. Sagte:"Ich will meine Geschichte. Und übrigens, ich heiße Viondalár, aber du kannst mich Vion nennen. Das tun eh alle."
Tja, und dann saß ich da mit diesem netten, traurigen, hübschen Flossenkerl und fing an, mir aus dem Nichts einen Plot aus den Fingern zu saugen. Und da Vion schwul ist, war der nächste, der dann auftauchte, der Kerl, in den er sich in der Geschichte verlieben würde: Shanaro, kurz Shan, ein Mensch und Diplomat mit scharfer Zunge und einem Hang dazu, auf Schiffen zu segeln, die untergehen. Da war er, der Anfang der Geschichte. Juhu. Dabei war ich doch gerade dabei, an einem schon fast fertigen Buch zu basteln.
Das Ende vom Lied ist, dass Shan und Vion nach wie vor auf meiner Festplatte und in jeder Datensicherung mitdümpeln und mir ab und zu fordernde Finger in den Rücken pieksen, weil sie ihre Geschichte geschrieben haben wollen. Was auch passieren wird, sobald alles, was jetzt in Arbeit ist, das Siegel "fertig" auf die letzte Seite gedrückt bekommt.
Einfach mal machen. Könnte ja gut werden.

felis

@Artemis, bei mir sitzen die immer im Auto auf dem Beifahrersitz...  ;D
Der letzte lag allerdings auf der Rückbank, weil ein ausgewachsener Tigerkater nunmal auf den Beifahrersitz eines Beatles einfach nicht passt....

Da der Tiger mich nun schon seit Wochen plagt und die Magier von Kahrgad demnächst fertig werden fürchte ich , dass ich nicht drumrum kommen werde, danach seine Geschicht zu produzieren...
Meine Geschichtenideen fangen eigentlich immer so an. Es taucht irgend eine Figur auf und nervt so lang, bis ich ihr eine Geschichte aufschreibe....

Berjosa

Nein, dieses Problem hatte ich bisher noch nicht. Meine Helden melden sich erst, wenn die "Arbeitsplatzbeschreibung" steht, nach mehr oder weniger intensivem Headhunting. Aber wenn ich erstmal einen habe, bringt er gleich die ganze Familie und noch ein paar Bekannte mit.
Manchmal zieht auch das ganze Team von der einen Geschichte in die andere um.

zDatze

Mir passiert oft genau dasselbe wie Berjosa. Hat sich einmal ein Chara in meinem Kopf festgesetzt so kommt es auch vor, dass er nach einiger Zeit einfach in einer anderen Geschichte auftaucht und erneut verlangt, dass er seine Rolle bekommt. Da gibt es besonders hartnäckige Fälle.

Ansonsten ist es bei mir generell so:
Ein Bild/Foto/Film/Bekannter kann bei mir schon der Auslöser für einen neuen Prota sein. So entsteht zuerst der "Steckbrief" und die Geschichte bildet sich drum herum. Und genau an dieser Stelle liegt der Knackpunkt. Ist die Geschichte mitsamt seinen Prots ausgefallen und entwickelt sich fortlaufend weiter, so beginne ich damit Notizen zu machen. Ein grober Plot, der meistens aber dann irgendwo auf der Festplatte landet bis ich ihn wieder entdecke. Der Prota "gärt" so vor sich hin und wenn ein überzeugender Background da ist, schreibe ich mehr dazu.

Lord Bane

Bei mir ist das extrem.

Ich muss dazu sagen, dass ich letztes Jahr mit Medikamenten vollgepumpt im Krankenhaus lag. Eines Nachts wachte ich auf (jedenfalls glaubte ich das) und sah eine Gestalt an meinem Bett sitzen. Ich hielt den Kerl zuerst für einen Pfleger, aber dann sah ich, dass der Kerl einen langen Mantel trug und entgegen aller Vorschriften eine Zigarette rauchte. Sein Gesicht lag im Dunkeln.
"Hi", sagte der Mann. "Hast du schon mal daran gedacht, was zu schreiben? Ich meine, mal richtig, nicht immer den anderen Scheiß, den du so fabrizierst."
Ich blinzelte. "Hä?"
Er zog an seiner Zigarette, blies den Rauch gegen die Decke. "Mal ein richtig gutes Buch. Ist natürlich viel Arbeit und du wirst ´ne beschissen lange Zeit brauchen, um ´nen Verlag zu finden, wenn überhaupt. Aber zuerst musst du natürlich damit anfangen."
Ich fragte mich, warum der Mann im anderen Bett ( ein Alkoholiker mit schwerer Epilepsie), von dem Gerede nicht aufgewacht war.
"Also, was ist?", sagte der Fremde.
,,Ich weiß nicht." Mein Mund war trocken. Ich hätte gerne etwas getrunken, konnte mich aber nicht bewegen.
,,Du bist dabei, ob du willst oder nicht", sagte der Mann. Er hatte seine Zigarette zu Ende geraucht. Den Stummel warf er auf den Boden und drückte ihn mit dem Fuß aus. ,,Keine Wahl, verstehst du?"
,,Warum verschwindest du nicht einfach?", stieß ich hervor. Ich wollte nicht schreiben. Ich wollte gar nichts, nur schlafen.
Der Mann lachte. ,,Null Chance, mein Alter. Unterbewusstsein ist doch einfach ´ne feine Sache. Was da so alles auftauchen kann, du wärst echt überrascht. Jedenfalls werden wir in Zukunft ziemlich viel Zeit miteinander verbringen. Zum Schluss noch mein Name: Dirk Harfner. Merk ihn dir gut, du wirst ihn noch brauchen."

Seitdem ist der penetrante Kerl bei mir. Ich werde ihn nicht mehr los. Wenn ich einmal nicht schreiben will, flüstert er mir ins Ohr: ,,Na los du faule Sau, ein paar Seiten schaffst du." Ich träume von ihm, ich sehe ihn manchmal im Spiegel. Da grinst er mich an, zieht an seiner Zigarette und zwinkert mir zu. Kein angenehmes Gefühl, einen Untermieter im eigenen Verstand zu haben.

Wenn ich wirklich genervt bin, drohe ich ihm, zu einem Psychologen zu gehen. Dann kann Dirk mal sehen, wie es ist, der imaginäre Freund eines Gesunden zu sein.  ;D

(Im Augenblick ist er zum Glück weg, Zigaretten holen, aber er kommt bestimmt gleich wieder.)


FeeamPC

Meine Protas sind eher so Momentaufnahmen. Eine kleine Szene, in der sie sich zeigen, gerade interessant und geheimnisvoll genug, daß man eine Geschichte dahinter ahnt. Aber diese Geschichte muß ich dann erst mühselig ausgraben.
Das kann dauern.
Ich habe einige Charaktere, die schon seit Jahren im Hintergrund rumoren und von Zeit zu Zeit beachtet werden wollen. Meist verschwinden sie wieder im Hintergrund meines Notizbuches oder meiner Festplatte und warten weiter. Manchmal ergibt sich doch endlich eine Geschichte.

Coppelia

#7
Ich kenne das genau, und bei mir ist es eigentlich mit einer Hauptfigur bisher noch fast jedes Mal so gewesen, zumindest bei den Romanen, die ich als "wichtig" ansehe (keine Ahnung, wie meine Prioritäten zustande kommen, aber ich habe sie). Auf einmal steht die Figur quasi neben einem und sagt: "Ich bin der und der, und so und so ist das!" Es bringt nichts, sich dagegen zu wehren. Die normale Reaktion ist, alles stehen und liegen zu lassen und den Roman für diese Figur zwischenzuschieben. Bei meinem momentanen Kandidaten bin ich immer noch dabei. Er erschien mir morgens beim Zähneputzen, als ich eigentlich an "jemand" anderen gedacht hatte, eine historische Figur.

Zitatmit fertigem Charakter und erstaunlichen Eigenarten, ohne dass ihr auch nur einmal scharf nachdenken musstet, ob der Kerl seine Spaghetti nun mit Löffel und Gabel wickelt oder mit dem Messer kleinschnibbelt (und ihr tatsächlich mit totsicherer Gewissheit wisst, dass er sie vorm Kochen kleinbröselt!)?

Ja, genau das. Faszinierend, dass es auch noch anderen Personen so geht. Ich kann dann normalerweise gleich sagen, wie die Person denkt, spricht, was sie gern isst, und andere Einzelheiten, auch welche, die einem irrelevant erscheinen. Überhaupt kenne ich über diese Figuren dann mehr Einzelheiten, als jemals in der Geschichte genannt werden und finde es schade, dass außer mir niemand davon weiß. ;) Mich überrascht häufig, wie extrem hoch der "Realitätsgrad" bei solchen Figuren ist. Wenn man das so sagen kann ...

Das soll allerdings nicht heißen, dass ich Figuren nicht auch manchmal sorgfältig erfinde und ausarbeite, die dann auch ihr Eigenleben entwickeln. Das ist wahrscheinlich sogar häufiger der Fall bei all den Mengen an Figuren. Aber eine richtige extrovertierte Hauptfigur kann von nun auf jetzt erscheinen. ;D

Ob ihr schon mal von euren Figuren geträumt habt, wäre auch meine Frage gewesen ... sicher einen eigenen Thread wert. :) Es gibt einige Figuren, von denen ich recht oft träume ...

Grey

Wenn ich mir die Antworten hier so durchlese und mit meinen eigenen (durchaus ähnlichen) Erfahrungen vergleiche, würde ich wirklich gern mal eine vergleichende Hirnstudie mit Schizophrenen und Autoren dieser Art machen. Das könnte eine durchschlagende biopsychologische Studie werden ... vielleicht könnte man so die Belege dafür festigen, dass das Ich-Bewusstsein nur ein soziales Konstrukt ist ... ;)
Autoren als Bindeglied der Theorien, wie der Archaeopterix. Hat schon Stil, der Gedanke ...  :hmmm:

Artemis

#9
Zitat von: Grey am 16. Februar 2008, 10:01:09
eine vergleichende Hirnstudie mit Schizophrenen und Autoren dieser Art machen

Grey, Autoren sind schizophren - und zwar multi-schizophren ;D Irgendwo müssen die ganzen Figuren ja herkommen, ne? Und jeder Satz ist dann der Erguss der Schizophrenie, wenn sich unser Alter Ego selbstständig macht und das Ruder in die Hand nimmt :gähn:

Hast du schon mal versucht, einem nicht-schreibenden Menschen zu erklären, dass da grade eine riesige Protagonisten-Party in deinem Kopf tobt und du selber (aus Höflichkeit natürlich) an einem Glas Sekt nippend in der Mitte stehst und mitplapperst?  :rofl:  Irgendwann muss man die Jungs und Mädels "da oben" ja auch mal privat besser kennenlernen *lach*

gbwolf

Es gibt sogar ein wissenschaftliches Buch über Schriftsteller und Psychosen. Allerdings weiß ich den Titel nicht mehr, nur noch den Standort in der Stadtbücherei Heidelberg (wenn es noch nicht ausgesondert wurde).
Wenn man Google bemüht kommt man schon auf ein paar spannende Seiten wie die z.B.:
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=2060

Aber das bietet wieder Stiff für einen neuen Thread  ;)

Romy

Zitat von: gbwolf am 16. Februar 2008, 12:26:09
Wenn man Google bemüht kommt man schon auf ein paar spannende Seiten wie die z.B.:
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=2060

Den Link kannte ich zwar noch nicht, aber so was in der Art hatte ich trotzdem schon mal gehört/gelesen  ;) Überrascht mich alles jetzt auch nicht wirklich  ;D
Hatte in einem anderen Forum auch mal einen Buchtitel zu dem Thema gefunden, aber das Buch gabs zumindest bei Amazon nicht mehr und deshalb hab ich die Sache nicht weiter verfolgt ... aber vielleicht find ich den Titel noch mal wieder  :D

Um zum eigentlichen Thema zurück zu kommen: Ja, das Problem mit diesen aufdringlichen Prots ist mir gut bekannt. Besonders nervtötend sind allerdings Nebenfiguren anderer Geschichten, die sich in den Vordergrund drängen und selbst zum Prot werden wollen und ziemlich schnell auch viel farbiger und interessanter als der eigentliche Prot werden und solange nerven, bis man die ursprüngliche Geschichte begräbt und sich ihnen zuwendet ... oder zumindest eine Fortsetzung beginnt, in der sie selbst Hauptfigur werden dürfen ... passiert mir recht häufig mit meinen 'Bösewichtern', das die mich verfolgen, bis sie ebenfalls mal Prot werden dürfen  8) ;D

saraneth

Hallo Artemis,

ja, das kenne ich. Sehr gut sogar. Meine aktuelle Prota ist genau so erschienen. Die Geschichte an sich hatte ich zwar schon vorher im Kopf, aber mit ihr, meiner Protagonistin, habe ich sie nie in Verbindung gebracht.

Die eigentliche, die in dieser Geschichte die Hauptrolle spielen sollte, wurde von meiner "Erscheinung" quasi verdrängt. Sie war eine von den nett ausgeformten Charas, die man sich wochenlang erarbeitet. Aber anscheinend war sie zu nett, denn bisher ist sie aus der  Versenkung nicht wieder aufgetaucht.

Wobei ich aber zugeben muss, dass meine jetzige Prota wirklich interessanter ist, als das ehemalige Mädel. Von daher... ich bin nicht traurig drum. ;D