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Harter Tobak - Wie viel ist zu viel?

Begonnen von Maja, 24. August 2019, 06:56:55

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Maja

Frage: Was kann man den Lesern zumuten? Ich denke, dass erwachsene Leser ziemlich abgebtüht sind, wo es um detaillierte Beschreibungen von Knochen,  Blut und Gedärmen geht, insbesondere in der High Fantasy. Aber wie sieht es mit anderen Sachen aus?

Ich stehe hier gerade beim Überarbeiten vor einer Szene, wo eine alkoholkranke Hauptfigur, die sich fast zu Tode getrunken hat, in ihrem Erbrochenen liegt. Details gibt es keine, nur die Feststellung, dass es so ist,  und mein Mann meint, das ist schon zu viel, und ich soll nur schreiben, dass er nicht mehr bei Bewusstsein ist.

Meine Betaleser haben drum gebeten, dass ich dem Thema Alkohol etwas weniger Platz eintäume, als ich es in der ersten Fassung getan habe, und das beherzige ich ich brav - es geht mir wirklich nicht darum, meine Leser zu ekeln oder zu vergraulen. Was aber drin bleibt, ist, dass dich Kevron bewusstlos trinkt, und an der Stelle will ich auch nichts verherrlichen oder beschönigen. Und man kann sich nicht schön bewusstlos trinken.

Was würdet ihr in so einer Situation machen? Voll mit der Kamera drauf, je härter, desto besser, im Dienste des Realismus und zur Abschreckung? Oder wirklich auf die Feststellung beschränken, dass Puls und Atmung immerhin noch vorhanden sind?

Danke für eure Anregungen! Da wir generell noch keinen Thread zum Thema "Zumutbares" haben, steht dieser jetzt für alle Fragen dieser Art offen.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Wildfee

Nein, ich würde nicht direkt draufhalten. Wenn ich mich bewusst triggern lassen möchte, lese ich entsprechende Genres.

Bei Thrillern, Krimis und Horror und auch in Teilen von Fantasy weis ich, dass es extremere Beschreibungen geben kann. In einem normalen Fantasyroman erwarte ich keine Szenen, in denen Blut spritzt, Gedärme irgendwo heraushängen oder in denen der Held oder die Heldin betrunken in ihren eigenen Körperflüssigkeiten liegen.

Ich habe mal einen eigentlich guten Roman einer lieben Bekannten abgebrochen und nicht wieder angefasst, weil sie ihrer 13jährigen Heldin bei der Geburt ihres Kindes das Becken gebrochen hat.
Das war in meinen Augen absolut und vollkommen überzogen, weil es dramaturgisch nicht notwendig war. Hoher Blutverlust, lange schwere Geburt hätten gereicht, aber so drastisch, wie die Geburt beschrieben war, war es definitiv nicht nötig.

Also von daher ganz generell für mein Empfinden: Nur dann draufhalten, wenn es für den Verlauf der Story unbedingt notwendig ist.
Gilt für mich auch für Sexszenen, obwohl ich Liebesromane liebe. Das muss angekündigt sein, und wenn es nur das eine Wörtchen "romantisch" im Klappentext ist.

Anila

#2
Guten Morgen Maja,

Ich mag als Ärztin da abgebrüht sein aber so kommen stark alkoholisierte Menschen in die Notaufnahme, in ihrem Erbrochenen, und bedeckt mit den anderen Körperflüssigkeiten. Ich finde das gehört so beschrieben, schon um die Dimension (optisch und olfaktorisch) der Selbstzerstörung zu begreifen.

LG aus dem Nachtdienst (Bett ich komme..)
Anila



Liebe Wildfee,
Lustig das Du genau das Gegenteil geschrieben hast.. wie gesagt bei mir könnte ein gewisser Abstumpfungsgrad vorliegen, aber um den Grad eines "Absturzes" zu charakterisieren finde ich es deutlich anschaulicher Einzelheiten zu schreiben, als wenn Einer einfach das Bewußtsein verliert... bin gespannt welche Meinungen noch kommen..
Bei Gewalt und Sex stimmt ich Dir übrigens zu, deswegen vll doch Berufsproblem.
https://www.tintenzirkel.de/counter/wordcount.php?mode=TiNo21&target=200000&title=T12:Flossen und Sand&count=14000

"Courage is grace under pressure." (Hemmingway)

Christian

Ich mag zwar die Kategorie "Nicht schön, aber (gar nicht so) selten" und würde es gern etwas ausführlicher und in seiner ganzen hässlichen Pracht lesen, aber ich habe da so ein (nennen wir es ...) Gefühl, dass es am Ende sowieso gestrichen wird. Auch wenn viele (gerade in meinem Genre) gern meinen, es so realistisch haben zu wollen, ist Realismus gar nicht gern gesehen. Mag noch jemand heißen Brei? ;D

Yamuri

Das ist eine wirklich schwierige Frage, die ich mir ja auch beim Betalesen gestellt habe. Einerseits bin ich eine Verfechterin des authentisch Darstellens, andererseits ist das Thema Alkoholmissbrauch ein Thema, dem man einen eigenen Roman widmen könnte. Es sollte daher nicht zu stark im Vordergrund sein, weil es nicht das Hauptthema der Reihe ist. Wenn Kevron sich bewusstlos trinkt, würde ich an sich aber auch nichts beschönigen wollen, einfach weil es ein ernstes Thema ist und weil ich es an sich gut finde abzuschrecken, mich nur eben frage ob das zu deinem Projekt passt, wenn du es zu detailliert machst.

Ich denke ich würde es so handhaben, dass ich mit Ausblenden arbeiten würde. Bis zu einem bestimmten Punkt würde ich beschreiben was Kevron tut, vielleicht auch einen inneren Kampf einflechten, den er verliert. Beschreiben wie er weiter trinkt, und weiß, der Alk hat ihn jetzt wieder fest im Griff, vorbei die Fortschritte des Entzugs. Auf das Psychische vielleicht etwas mehr eingehen und dann ausblenden. Wenn du wieder zu Kevron zurückkehrst die Bewusstlosigkeit darlegen, wobei ich durchaus reinschreiben würde, wenn er im Erbrochenen liegt. Ich schätze ich würde es tatsächlich mehr auf verschiedene Feststellungen beschränken und nicht zu detailliert werden. Denn du schreibst Fantasy und nicht Horror. Bei Horror würde ich anatomisch genaue Szenen erwarten, bei Fantasy weniger, da stören sie eher. Daher mein Gedanke mit Ausblenden zu arbeiten und dann eben auf wesentliche Fakten beschränken.

"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Christopher

Hm. Ich sehe da einen anderen Punkt:
Ebenso wie bei Sex- und Kampfszenen, kann es eher hinderlich sein mehr ins Detail zu gehen. Die Lücken füllt ein Leser für sich selbst und wird dabei so extrem/unextrem wie er/sie möchte. Zu viel Detailreichtum schränkt das Vorstellungsvermögen ein und gibt ihm keinen Spielraum. Ich würde mich daher auf 1-2 der extremsten Empfindungen die dein Charakter dabei hat beschränken, die ggf. die anderen Sachen die alle dazu gehören quasi unabdingbar machen. Wer mit kratzen im Hals in seinem eigenen Erbrochenem liegt, wird generell nicht besonders sauber sein z.B.
Be brave, dont tryhard.

Angela

Ein Punkt würde mir reichen, seine Ausdünstungen, (wenn es dann nicht sogar Schlimmeres gibt). Das ist etwas mit dem jeder von uns Erfahrung gemacht hat bei Trinkern. Er stinkt nach ...
Das wäre mir eklig genug.

KaPunkt

So wie du es jetzt beschreibst würde ich es drinlassen.
Er ist bewusstlos und liegt in seinem Erbrochenem. Das ist so. Du musst ja nicht weiter auf Geruch, Konsistenz etc. eingehen. Und nur was geschrieben ist, hat eine Chance, nicht gestrichen zu werden.
Vielleicht bin ich ebenfalls abgestumpfter (auch wenn ich nicht wüsste, woher), aber ich bin bei @Anila.
Oder du machst es wie Angela vorschlägt, gehst auf ein sensorisches Detail ein und überlässt den Rest der Phantasie des Lesers.

Liebe Grüße,
KaPunkt
She is serene
with the grace and gentleness of
the warrior
the spear the harp the book the butterfly
are equal
in her hands.
(Diane di Prima)

Anila

Ich glaube schon auch das ein Mittelweg richtig ist: es muss nicht jedes unappetitliche Detail beschrieben sein, weil da bin ich ganz bei Christopher, der Leser hat ein Recht sich das nach seinem Geschmack auszumalen.

Trotzdem finde ich es ist ein Unterschied (ohne das ich Kevron kenne) ob jemand elegant das Bewußtsein verliert wenn er zu schnell oder zu viel getrunken hat oder ob man so dicht ist, dass man sich übergibt und einfach drin liegen bleibt.. Dabei ginge es mir gar nicht um eklig oder schockierend sondern darum den Grad des Trunken- und vielleicht auch Kaputtseins zu beschreiben.
https://www.tintenzirkel.de/counter/wordcount.php?mode=TiNo21&target=200000&title=T12:Flossen und Sand&count=14000

"Courage is grace under pressure." (Hemmingway)

Tintenteufel

Ich greife mir für mein Argument mal ein Zitat von @Wildfee heraus, obwohl ich den Gesamtpunkt verstehe.
Zitat von: Wildfee am 24. August 2019, 07:57:14
Nein, ich würde nicht direkt draufhalten. Wenn ich mich bewusst triggern lassen möchte, lese ich entsprechende Genres.

Das ist für mich keine Frage des Genres, sondern des Stils. Wenn ich Tolkien lese, erwarte ich keine heraushängenden Gedärme - bei GRRM sehr wohl. Es gibt Horrorromane, die vergleichsweise zahm, wegen ihrer psychologischen Finesse aber unglaublich gut sind, genau wie es explizite und lächerliche Horrorwerke (Saw etc.) gibt.

Ich denke das musst du mit dir selbst ausmachen, Maja. Es gibt für alles ein Publikum, für manche Sachen aber eben nur ein kleines. Da spielen dann auch Fragen der Schuldigkeit eine Rolle: Willst du explizit die schlechten Auswirkungen von Alkohol zeigen? Oder ist das "nur" ein Plotpoint, der abgehakt werden soll? Soll es ekeln, Mitleid erwecken, abschrecken usw. usf. Das sind künstlerische (d.h. ästhetische) Entscheidungen, die nicht von Genrekonventionen abgedeckt werden.

Persönlich würde ich sagen, dass ein Autor bei lebensnahen Situationen (wie Alkoholismus, der jährlich 74.000 Menschen in Deutschland tötet) auch eine lebensnahe Beschreibung schuldig ist. Keine abschreckende, aber eine realistische. Das ist nur eine Frage des persönlichen Stils. Ich würde Christopher da ansonsten vollumfänglich zustimmen. Ist aber allein deine künstlerische Verantwortung, die kann dir keiner abnehmen.

Zit

Hat der Leser einen Mehrwert davon, so angeekelt zu werden? Passiert da in der Charakterentwicklung etwas, das man nur in diesen Zustand der Figur erkennt oder hat es direkte Plotrelevanz, dass er da soooo abstürzt und du jedes Detail beschreibst? Ich sehe es eher wie Yamuri. Ist es ein Roman, in dem es hauptsächlich um Kevron und sein Alkoholproblem geht, dann kannst du da ins Detail gehen. Ist das nur Kevrons persönliche Schwäche in einem sonst anders gelagertem Foman, würde ich bei Statements bleiben. Vielleicht auch das Fasttotsaufen überspringen und gleich da bleiben, dass er im Erbrochenen aufwacht und nun in aller Schande seinen Dreck aufwischen und sich reinigen muss.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Wildfee

Zitat von: Tintenteufel am 24. August 2019, 09:24:10
Ich greife mir für mein Argument mal ein Zitat von @Wildfee heraus, obwohl ich den Gesamtpunkt verstehe.
Zitat von: Wildfee am 24. August 2019, 07:57:14
Nein, ich würde nicht direkt draufhalten. Wenn ich mich bewusst triggern lassen möchte, lese ich entsprechende Genres.
Das ist für mich keine Frage des Genres, sondern des Stils. Wenn ich Tolkien lese, erwarte ich keine heraushängenden Gedärme - bei GRRM sehr wohl. Es gibt Horrorromane, die vergleichsweise zahm, wegen ihrer psychologischen Finesse aber unglaublich gut sind, genau wie es explizite und lächerliche Horrorwerke (Saw etc.) gibt.

danke  :jau: das war mein Punkt  :)

Alina

Also spontan würde ich sagen, die Information, dass die Figur in ihrem Erbrochenen liegt, würde ich dem Leser geben.
Ich finde, diese Einzelheit ist hilfreich, die Situation - auf den ersten Blick hin - einzuschätzen und ich bekomme als Leserin eine deutlich bessere Vorstellung von der Szene als wenn ich nur erfahre, die Figur ist bewusslos (Bewusstlosigkeit erkennt man ja auch nicht auf den ersten Blick?) Weitere Einzelheiten würde ich aber glaube ich nicht unbedingt lesen wollen.

Coppelia

#13
Für mich klingt es eher harmlos (bin vielleicht abgebrüht? ;D), und ich hätte gar kein Problem damit. Bei solchen Sachen denke ich mir tendenziell: Was ich gern im Text hätte, darf in den Text. Wenn man das Glück hat, ein Lektorat zu haben, was ja in deinem Fall gegeben ist, kann das Lektorat im Zweifelsfall anmerken, dass etwas gestrichen werden soll. Ich hänge nicht an jedem Detail.
Wenn man aber ein schlechtes Gefühl hat, während man es schreibt, weil man es selbst als zu viel empfindet, würde ich es rausnehmen.
Natürlich trägt alles, was man schreibt, dazu bei, sich ein Image als Autor*in zu erarbeiten und die weiteren Erwartungen der Leser*innen zu beeinflussen, das muss man bedenken. Ich denke, von der Genre-Konvention her ist dieses Detail kein Problem.

ZitatGilt für mich auch für Sexszenen, obwohl ich Liebesromane liebe. Das muss angekündigt sein, und wenn es nur das eine Wörtchen "romantisch" im Klappentext ist.
Gilt das Wort "romantisch" als Kennzeichen für Sexszenen im Text? Das würde mich echt mal interessieren. Ich würde eher andere Wörter erwarten; was weiß ich, "leidenschaftlich" oder so. Denn ich kann mir gut nicht romantische Sexszenen vorstellen und habe tendenziell den Eindruck, dass in "romantischen" Texten höchstens geküsst wird, aber ich kenne mich in dem Genre nicht so aus. :rofl:
Meine Storys enthalten fast alle Sexszenen, aber sie als "romantisch" zu bezeichnen, würde völlig falsche Erwartungen wecken. GRRM hat übrigens auch Sexszenen in seinen Romanen. ;)

Jen

Als in Heitz' Legenden der Albae direkt im Prolog Augen zerstochen wurden, wusste ich immerhin, dass ich dieses Buch nicht lesen möchte. Triggerwarnungen oder Ekelhaftes direkt zu Beginn finde ich sinnvoll. Bei Erbrochenem wäre die Triggerwarnung z.B. für (ggf. ehemals) Bulimiekranke sinnvoll.
Guilty feet have got no rhythm.