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Die besten und schlechtesten Romananfänge

Begonnen von Mondfräulein, 03. Dezember 2022, 13:22:06

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Christopher

#15
Tja, wenn ich das so lese, sind die meisten von uns recht einig darin, was wir nicht mögen.

Was mich zu der Frage bringt:
Warum zur Hölle kommen diese Anfänge dann so oft vor?


Da der eine oder andere ja schon berichtet hat ähnliche Anfänge zu haben und aus welchen Gründen, mach ich mal weiter.

In meinem Herzensprojekt starte ich auch mit einem Prolog aus Perspektive einer Figur, die nicht der POV ist. Das ganze geht über 2.3k Wörter, also ca. 8-10 Seiten. Die Figur kommt später auch wieder vor und is für Teil 4 sogar als Prota geplant. Also nix zum wegwerfen.

Aber warum habe ich den Einstieg so gewählt? Meine Gründe dafür sind folgende:
Die Geschichte spielt in einer Fantasywelt. Es gibt viel zu erklären und zu sehen. Die Prota gehört einer nicht-menschlichen Rasse an, deren Beschreibung sich aus der Sicht des POV aus dem Prolog (ein Mensch) sehr viel einfacher und flüssiger in den Text einbringen lässt. Der große Storybogen ist aus der Perspektive der Prota recht lange erst mal nicht zu erahnen, der Prolog hingegen weist gut darauf hin. Zudem erklärt er einen Teil der Welt, der sehr wichtig is, aber erst ca. nach dem ersten Drittel der Geschichte wieder erreicht wird.

Lange Rede kurzer Sinn: Der Prolog erledigt für mich in sehr kurzer Zeit, sehr viele Dinge, die nur ziemlich verkrampft oder als Exposition einbringbar wären und gibt gleichzeitig einen guten Einstieg in den großen Bogen, der für die Prota aus ihrer Perspektive nicht erkennbar ist.

Danach geht es direkt in der Geschichte los. Das finde ich akzeptabel. Darum habe ich den Einstieg so gewählt. Und fürchte, wo ich so viele der "schlechten" Einstiege sehe, dass viele Leute das anders sehen und meiner Geschichte allein deswegen schon keine Chance geben würden.


Von daher finde ich den Thread sehr interessant und bin gespannt, was ihr so zu berichten habt.


@Sunflower
Ich stimme dir bei Der Name des Windes zu. Aber erst beim zweiten lesen. Beim zweiten Mal sieht man, wie gut er eigentlich ist. Beim ersten Mal fand ich ihn dermaßen langweilig und belanglos, dass ich fast aufgehört hätte, zu lesen.
Be brave, dont tryhard.

Alana

#16
Warum solche Bücher so oft vorkommen, lässt sich vermutlich darüber erklären, dass die meisten Leser*innen nicht so viel gelesen haben wie wir Autor*innen. Vielleser haben eine andere Lesekompetenz. Ich bin daher auch schon länger davon abgekommen, solche Anfänge als schlechtes Handwerk zu bezeichnen oder korrigiere mich, falls es mir doch passiert. Gutes Handwerk misst sich nicht daran, was Vielleser und Story-Profis toll finden, sondern vor allem an der anvisierten Zielgruppe und deren Lesekompetenz und Erwartungen. Wenn die langatmige Exposition mag oder als Einstieg angenehm findet, dann ist es gutes Handwerk, wenn ein*e Autor*in das versteht und für sich nutzen kann. Ich denke, dass es schon viel Lesekompetenz erfordert, sich eine Story zu erschließen, die mit sehr viel Show und sehr wenig Tell arbeitet. Während gut eingesetztes Tell einen Roman eben sehr viel zugänglicher und barrierefreier machen kann.
Alhambrana

Mondfräulein

Hier sind schon einige sehr interessante Antworten zusammen gekommen! Ich habe das Gefühl, bei mir kommt es  oft auf zwei Dinge an: die Informationen, die vermittelt werden (Qualität und Quantität) und die Umsetzung.

The Invisible Life of Addie LaRue von VE Schwab: Das erste Kapitel beginnt mit Addie, die im Bett eines Mannes aufwacht, der sich nicht an sie erinnert. Er glaubt, er hat am letzten Abend einfach zu viel getrunken, sie lernt ihn aber seit Monaten kennen. Es stellt sich heraus, dass jede Person, die sie trifft, sie wieder vergisst, wenn sie sie aus den Augen verliert oder einschläft. Das ist ehrlich eines der besten ersten Kapitel, die ich je gelesen habe. Ich lerne die Rahmenbedingungen ihres Handels und vor allem, was das emotional mit ihr macht. Ich frage mich gleich, wie sich das noch auf sie auswirkt, wie sie so lange damit gelebt hat und wie es überhaupt dazu gekommen ist.

The Inheritance Games von Jennifer Lynn Barnes: Ich fand das erste Kapitel gelungen, weil es die Protagonistin gut einführt. Die Protagonistin wird als Person beschrieben, die gerne spielt und Risiken abwägt. Sie spielt jeden Morgen im Park Schach, dann geht sie zur Schule und überlegt genau, wie viel Mühe sie sich geben muss, um noch die niedrigst mögliche Punktzahl für eine 1 zu erreichen, weil sie genau abwägen muss, wofür sie wieviel Zeit aufbringen kann, weil ihre finanzielle Situation so schlecht ist. Dann wird sie ins Büro des Rektors gerufen, weil ihr vorgeworfen wird, bei einem Physik-Test geschummelt zu haben, weil der so schwer ist, dass ihn eigentlich niemand lösen kann. Sie soll ihn am nächsten  Tag wiederholen und sie sagt nein, ich mache ihn jetzt hier in Ihrem Büro.

In diesem ersten Kapitel bekomme ich noch nicht viel davon mit, worum es im Buch später geht, aber ich lerne viel über die Protagonistin. Vor allem aber ist sie gleich am Anfang in einer Situation, in der sie aktiv handelt und das gefällt mir sehr. Das macht sie als Person interessant und deshalb möchte ich weiterlesen und mehr über sie erfahren.   

Six of Crows von Leigh Bardugo: Leigh Bardugo beginnt ihre Bücher gerne aus der Sicht einer unbeteiligten Person, die nicht zu den Protagonisten oder Perspektivträgern gehört und das stört mich, denn warum soll mich diese Person jetzt interessieren? Sie steigt hier gleich in den Plot ein, aber ich finde, sie bleibt zu vage, um mich wirklich in den Bann zu ziehen und ich habe noch keinen echten Grund, warum mich der Plot interessieren soll. Der Plot hat hier noch keinen Bezug zu irgendeiner Person, die mich interessiert und deshalb interessiert er mich auch noch nicht. Ich liebe das Buch, aber nicht den Prolog.

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät von Juno Dawson: Der Prolog beginnt damit, dass die Protagonistinnen als Kinder zusammen sitzen und über eine Zeremonie reden, die am nächsten Tag stattfinden soll. Ich mochte das erste Kapitel nicht, weil hier einfach zu viele Figuren auf einmal eingeführt werden. Ich kann mir nicht zu jeder Figur Namen und Eigenschaften merken. Da fühle ich mich schnell überfordert.

The Cruel Prince von Holly Black: Ich liebe die Bücher total! Der Prolog ist großartig. Er beginnt mit Judes Familie: sie, ihre Eltern, ihre Zwillingsschwester und ihre ältere Halbschwester. Dann kommt der Vater ihrer älteren Halbschwester, der zu den Fee gehört, und tötet ihre Eltern. Er ist eigentlich gekommen, um seine Tochter zu holen, aber weil die Eltern der Zwillinge ja jetzt tot sind, nimmt er sie auch mit ins Feenreich. Das erste Kapitel zieht mich gerade deshalb so in den Bann, weil die Ausgangssituation, die hier geschaffen wird, so interessant ist. Jude wächst daraufhin also als Ziehtochter des Mannes auf, der ihre Eltern getötet hat. Sie wächst als Mensch im Feenreich auf. Das ist eine spannende Ausgangssituation mit tausend möglichen Konflikten und ich möchte unbedingt herausfinden, wie das ausgeht und was als nächstes passiert.

Das Obsidianherz von Ju Honisch: Das ist einer der Prologe, die ich am wenigsten mag. Erstmal kommt eine Einführung, in der die Autorin erklärt, in was für einer Welt wir uns befinden. Das würde ich nicht so machen, kann ich aber noch hinnehmen. Es wäre eleganter, das im Text zu zeigen statt es mir so direkt zu erklären. Dann kommt der Prolog und darin sitzen fünf Personen zusammen und reden über den Plot des Buches und die dunkle Bedrohung, die es zu verhindern gilt. Dabei reden sie über fünf weitere Personen, die sie schicken, um die Bedrohung aufzuhalten. Die fünf ersten Personen kommen im ganzen Buch nie wieder vor und sie alleine wären mir schon zu viel, aber im Prinzip kommen hier zehn unterschiedliche Personen vor, die ich mir alle merken soll und ich hatte beim Lesen das Gefühl, mein Kopf explodiert.

Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow von Gabrielle Zevin: Ich konnte nach dem ersten Kapitel nicht mehr aufhören zu lesen. Ich kann gar nicht genau sagen wieso, außer dass das Buch einfach so unheimlich gut geschrieben ist. Die erste Szene wirkt erstmal unspektakulär: Sam trifft in der U-Bahn seine alte Freundin Sadie wieder. Aber in jedem Satz steckt so viel Kontext und der Schreibstil alleine macht es absolut lesenswert.

If We Were Villains von M.L. Rio: Ich fand zum einen den Schreibstil sehr packend, zum anderen steigt das Buch gleich mit einem Rätsel ein, das mich interessiert. Oliver sitzt im Gefängnis und wird bald entlassen, ein Ermittler will endlich wissen, was damals wirklich passiert ist, weil er den Fall nie lösen konnte. Zehn Jahre lang hat ihn dieser Fall nicht losgelassen. Ich bekomme hier noch gar keinen Kontext, was damals eigentlich los war, warum Oliver im Gefängnis sitzt, aber ich bekomme eine Ahnung davon, was dieses Geheimnis mit den beiden gemacht hat. Und am Ende des Prologs will ich ehrlich auch dringend wissen, was damals passiert ist.

Was sich hier sehr durchzieht, ist dass mir die Romananfänge, die mir gefallen, immer einen Grund geben, warum ich die Geschichte weiterlesen und warum sie mich interessieren soll. Das kann entweder eine spannende Hauptfigur sein oder aber eine Situation, die ich interessant finde, vielleicht auch ein interessanter Konflikt.

Als Autor muss ich mehr tun als Informationen zu vermitteln. Als Leserin brauche ich vor allem einen Grund, mich für diese Informationen zu interessieren. Wenn ich den Romananfang von Holly Black lese, sauge ich danach jede Information zum Weltenbau auf, weil mich Judes Ausgangssituation so interessiert, dass ich unbedingt wissen möchte, wie die Welt aussieht, in der sie lebt.

Insofern würde ich sagen, ich muss auf der einen Seite aufpassen, dass ich nicht zu viele Informationen auf einmal vermittle und nicht zu viele Figuren auf einmal vorstelle, weil ich mir nur eine begrenzte Anzahl an Informationen und Figuren auf einmal merken kann. Kontext hilft, Informationen einzuordnen und sie mir zu merken, aber der muss erstmal geschaffen werden. Gleichzeitig brauche ich einen Grund, warum mich die vorgestellten Informationen überhaupt interessieren sollten.