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Der gute, alte Gegenspieler - alles rund um den Antagonisten

Begonnen von Aylis, 01. Juni 2015, 22:51:28

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Rhagrim

#45
Generell zu dem Punkt "Denkensweisen zu verstehen"

In seinem Buch "Wie man Freunde gewinnt" erwähnt Dale Carnegie ein Zitat von John Dewey, das bei mir seither haften geblieben ist und mir oft geholfen hat, die Motivation von Menschen zu verstehen:

Zitat,,Der stärkste Trieb in der menschlichen Natur ist der Wunsch, bedeutend zu sein."

Sehr, sehr viele Handlungen und Motivation lassen sich dadurch tatsächlich gut verstehen und geben Hinweise auf Charakter eines Menschen, wenn man die Frage stellt: "Was gibt dir das Gefühl von Bedeutung? Und wie versuchst du, es zu erreichen?"

Das ist auch eine gute Frage, die man sich selbst stellen kann, wenn man bereit ist, wirklich darüber zu reflektieren - zumal es oft wirklich nicht einfach zu erkennen ist, weil man bei der Antwort höchstwahrscheinlich dazu tendieren wird, sich unbewusst selbst zu manipulieren (siehe meinen vorherigen Post)

Ein paar Beispiele:
Macht, Ansehen, Geld und Ruhm wären mal so die Klassiker, die wir im Alltag und in jeder zweiten Geschichte zu sehen bekommen.
Leistung, in wie auch immer gearteter Form, um als klug/schön/schnell/stark/etc. wahrgenommen zu werden.
Krankheit/Schwäche/Sonstige Beeinträchtigungen oder herausragende Merkmale: Ein sehr trauriges Beispiel, das mich persönlich immer sehr mitnimmt, umso mehr, da ich so einen Fall auch in meiner Familie hatte. Es war offensichtlich, dass diese Person einen extremen Mangel an Selbstwertgefühl hatte und krampfhaft versucht hat, Aufmerksamkeit zu bekommen und diese leider ausschließlich durch ihre Krankheit auf sich ziehen wollte, was es am Ende unmöglich gemacht hat, dieser Person zu helfen. Sie hatte Angst, falls sie tatsächlich gesund werden würde, nichts "besonderes" bzw. nicht mehr "hilfebedürftig" zu sein und nicht mehr beachtet zu werden. Daher finde ich es sehr traurig, sowas mitzuerleben, weil dieses Bedürfnis nach Bedeutung und Zugehörigkeit einfach so stark verankert ist, dass es eine Heilung fast unmöglich macht - und man sich dadurch selbst aus der Angst heraus, nicht liebenswert zu sein, wie man ist, unbewusst selbst dazu verurteilt "unglücklich sein zu *wollen*".

Besonders tricky ist es, um wieder auf den Punkt des Idealismus zurückzukommen, wenn man seine Bedeutung darüber finden möchte, ein guter Mensch zu sein. Die Frage stellt sich: Willst DU ein guter bzw. rechtschaffender Mensch sein? Oder möchtest du von ANDEREN als solcher wahrgenommen werden, d.h. deine guten Taten nach außen tragen, damit sie möglichst wahrgenommen werden und du dafür Lob/Anerkennung/Respekt/etc. erhältst und daraus die Bestätigung schöpfst? Vielleicht darüber sogar ein Gefühl moralischer Überlegenheit entwickelst, und dadurch in eine Spirale reinrutscht, die das Potenzial zu Extremen in sich birgt?
Wie erkennt man den Unterschied? Bist du hilfsbereit und begehst deine guten Taten mehr oder weniger im Stillen und unterstützt Menschen/Tiere/Umwelt/sonstiges, einfach "nur" weil es dir ein Bedürfnis ist, ohne dabei eine großartige Show daraus zu machen?
Bsp.: Keanu Reaves, der wie jeder andere normalsterbliche in der U-Bahn fährt und einen Großteil seines Geldes an die verschenkt, die es nötig haben - ohne sich großartig damit zu brüsten.

Oder genügt die gute Tat an sich nicht, sondern es geht dir in Wahrheit eigentlich um die Anerkennung, die du dafür erhalten willst? Das Feedback, das Lob, das Zugehörigkeits- oder Überlegenheitsgefühl? Begehst du *wirklich* gute Taten, oder signalisierst du nur *anderen* deine vermeintlich moralische Überlegenheit?

Ich behaupte mal, dass jeder von uns ersteres von sich selbst glauben möchte und sich deswegen selbst (unbewusst) effektiv davon überzeugt, ein wahrhaft guter Mensch zu sein und das Hirn dann einen meisterhaften Spagat hinlegt, um etwaige Ungereimtheiten in dem Selbstbild mit Rechtfertigungen zu kompensieren. (siehe das Ende meines vorherigen Posts)

Ich glaube, genau in diesem Punkt liegt auch ein wahnsinniges Potenzial für wahrhaft *Gute* (no pun indended  :P ) Antagonisten, die menschlich und tiefgründig sind.

Zitat von: Yamuri am 04. Juni 2023, 09:52:10Die meisten Tyrannen fangen mit einem hohen Ideal an, mit einem Traum von einer besseren Gesellschaft, in der es allen Menschen gut geht. Um dieses Ideal zu erreichen, wird dann nur leider oft über Leichen gegangen.
In meiner Recherche hab ich festgestellt, dass genau das ein immer wiederkehrender Kreislauf in der Geschichte der Menschheit war.
Neue Ideen, Neue Idealisten steigen auf und schaffen es (vielleicht durch eine Revolution, vielleicht ohne) an die Macht. Spätestens dann stellen sie fest, dass nicht ALLE Leute mit ihnen einer Meinung sein und ihren Traum von (wasauchimmer) teilen. Sie sehen ihre Macht bedroht, sind aber gleichzeitig natürlich von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt und fangen dann an, zu denselben tyrannischen Maßnahmen zu greifen, wie ihre Vorgänger. And on and on it goes.

Es scheint immer so zu sein, dass wir von einem Extrem ins andere pendeln und es nicht schaffen, einen Mittelweg zu finden.

Ein tolles Ausnahmebeispiel, das mich total gerührt hat, ist Daryl Davis, ein schwarzer Musiker, Autor und Aktivist aus Amerika, der sich mit Mitgliedern des Ku Klux Klans angefreundet hat und sehr viele daraufhin ihre Roben abgelegt und den KKK verlassen haben.
(Link zu einer grandiosen Spotify Podcast Folge mit ihm)

Er wollte nur eine Antwort auf die Frage wissen "How can you hate me, when you don´t even know me?" und er hat sich darauf eingelassen, all den Vorurteilen und Anfeindungen mit Geduld und Freundlichkeit zu begegnen - und er hatte Erfolg. Also es *geht*, sobald man sich selbst weigert, Feuer mit Feuer zu bekämpfen - aber das ist am Ende das, wozu die meisten Menschen tendieren. Kämpfe zu gewinnen. Argumente für sich zu entscheiden. Jemand anderen, den man als "böse" wahrnimmt zu besiegen.

Da gibts von Daryl Davis auch ein schöns Zitat dazu:
ZitatYou cannot hate the hate out of a person. You cannot beat the hate out of a person. But you can love it out of a person. 

"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Sanjani

@Yamouri:
ZitatEdit: Zum Thema Menschen, die viel Geld haben, aber Angst haben finanziell ruiniert zu werden -> man muss selbst in dieser gesellschaftlichen Schicht gelebt haben um zu wissen, wie es sich anfühlt, was es bedeutet wohlhabend zu sein, unter welchen Zwängen und Erwartungen man dann steht. Es hat viel mit Gruppenzwang zu tun, viel damit, dass einem bewusst ist, dass wenn man viel hat, man das auch verlieren kann. Es zu verlieren ist gleichbedeutend mit einer Form des Gesichtsverlustes. Man hat in Wahrheit Angst dann sehen zu müssen, wie viele aus dem eigenen Bekanntenkreis sich abwenden würden, wenn man das Geld, das man hat wieder verliert, man hat Angst dann allein zu sein, ein niemand mehr zu sein. Das Geld ist nur ein Symbol dafür. Denn umso mehr Reichtum man besitzt, desto weniger wahre Freunde hat man unter Umständen. Die Angst das Geld zu verlieren, ist eigentlich die Angst, erkennen zu müssen, dass man die ganze Zeit allein war und die andren nur Freunde waren, weil man etwas besitzt. Diese Ängste verstehen, kann man wahrscheinlich nur, wenn man dieser gesellschaftlichen Schicht angehört, zumindest am unteren Rand.[/uote]

Das beschreibt perfekt das Problem, was ich mit Antagonisten habe. Natürlich muss man nicht alles selbst erlebt haben, um sich reinversetzen zu können. Aber es gibt eben manches, da komm ich einfach nicht dran, eben wie das mit dem Geld. Oder ein Psychopath oder Narzisst zu sein - ich kann das natürlich erklären, ich kenne auch diverse psychologische Theorien dazu. Aber kannst du wirklich echt nachempfinden, wie es ist, einfach keine echten Gefühle oder Mitgefühl jemandem gegenüber zu haben, sondern nur deinen eigenen Interessen zu folgen? Wie fühlt es sich an, wenn man einfach immer glaubt, die anderen seien schuld, wenn man unfähig zur Selbstreflexion ist - dazu fehlt es ja auch oft an Mentalisierungsfähigkeit - ich stehe vor einem Rätsel. Ich hab ja öfter die Leute in Therapie sitzen, die Opfer von solchen Leuten wurden, denen erkläre ich das dann auch, aber sie verstehen es nicht. Also kognitiv natürlich schon, aber ich hab immer den Eindruck, sie haben ein Bedürfnis, das auch gefühlsmäßig zu verstehen und scheitern daran und ich auch. Ich verstehe auch, dass Leute Ideale haben, ist ja im Großen wie im Kleinen so. Ich hab auch meine Ideale, aber dafür Menschen weh zu tun oder sie gar umzubringen? Dazu muss einem doch alles komplett egal sein. Ich weiß noch, als das mit den Verschwörungstheorien losging, da hab ich das an mir gemerkt, ich wollte am liebsten gar nix mit denen zu tun haben. Aber mir käme nie in den Sinn, da einen zu beleidigen, körperlich anzugehen oder gar umbringen zu wollen. Find ich echt schwierig da hinzukommen, also nur für die Autorenschaft natürlich :)

Trotzdem waren einige interessante und wichtige Impulse für mich dabei. Vielleicht werde ich es dennoch auch einfach mal so machen, dass ich anfange, den Charakter am Reißbrett zu entwerfen, und vielleicht spricht er dann ja doch mit mir.

Zum Thema Psychopathen: Es stimmt, die meisten sind keine Mörder, und es gibt viele gesellschaftlich erfolgreiche. Ob es die Möglichkeit gibt, dass ein Psychopath im Kern ein guter Mensch sein kann, das wage ich allerdings stark zu bezweifeln, ohne mich mit der Materie jetzt aber vertieft auszukennen. Ich hatte aber selber mal mit so jemandem zu tun, kann man hier auch bei den Menschengeschichten nachlesen, und es ist für mich wirklich schwer, diese Welt zu verstehen.

Zum Thema Narzissmus: Ich meine mal gelesen zu haben, dass man auch dann narzisstisch werden kann, wenn einem sozusagen alles in den Arsch geschoben wird, wenn man alles machen darf, einem keine Grenzen aufgezeigt werden, man von den Eltern hört, wie besonders man ist und dass man Anspruch hat, besonders behandelt zu werden. Aber auch bei Narzissten ist es ja so, dass es sehr erfolgreiche und im Leben gut angepasste gibt und solche, die richtig ekelhaft sind und ihre Mitmenschen wie Dreck behandeln.

Was die Kindheit angeht: Natürlich werden Dinge über Generationen weitergegeben, und deshalb stimme ich zu, dass es wichtig ist, dass Kinder eine gute Kindheit haben. Und natürlich habe ich auch schon Eltern kennen gelernt, die aufgrund ihrer schlechten Kindheit ihren Kindern absolut nicht gut tun, und das auch ohne ihnen psychisch oder physisch Gewalt anzutun. Meiner Erfahrung nach versuchen die meisten Eltern es für ihre Kinder besser zu machen und scheitern daran, weil sie einige andere Dinge falsch machen. Trotzdem sollte die Kindheit nicht ständig für antagonisten herhalten. Also natürlich lernen wir Grundannahmen über uns und die Welt in der Kindheit, das darf und muss natürlich enthalten sein, aber es müssen nicht immer die schweren Traumata sein. Im Übrigen gibt es auch Sadisten, die grundsätzlich eine eher gute Kindheit hatten. Da scheint auch Genetik eine große Rolle zu spielen. Aber natürlich sind auch nicht alle Antagonisten auch Sadisten.

Ich freue mich jedenfalls, sollte noch jemand Gedanken zum Thema haben.

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Fluide

Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Die schlimme Kindheit finde ich übrigens furchtbar abgedroschen. Bei mir in den Therapien sitzen sehr viele traumatisierte Patienten, die eine furchtbare Kindheit hatten, aber definitiv nicht böse sind.
Ich glaube, es gibt keine "bösen" Menschen. Schon als Kind mochte ich diese Disneyfilme nicht, wo es so eindeutig böse Antagonisten gibt (ZB der Film mit den Dalamatinern). Menschen sind nicht schwarz oder weiß, gut oder böse, sondern grau. Deine Pat sind nicht "böse" und doch wird es ja sicher einige Situationen geben, in denen sie anderen Unrecht tun, zB indem sie Motive anderer missdeuten und ihnen bspw niederträchtige Motive unterstellen.

Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Die interessante Frage ist ja eher, warum wählt jemand diesen Pfad, dass er andere Leute ausnutzt und schädigt, um Ziele zu erreichen.
Ich glaube nicht, dass irgendjemand morgens aufsteht und sagt: "Heute schädige ich Leute und nutze sie richtig fett aus. Das wird ein Spaß" Ich glaube, jemand hatte das auch schon geschrieben, dass niemand von sich denkt, böse zu sein. Kriege entstehen nicht (meiner Meinung nach natürlich nur), weil jemand denkt: Heute bin ich mal ein Arsch und zeige denen mal, wer hier der Boss ist, muahhhaaah!, sondern weil jemand zB denkt, er sei ungerecht behandelt worden (vielleicht könnte man auch sagen, aufgrund einer narzisstischen Kränkung, der wir auch alle schon mal anheimgefallen sind, wir fangen bloß keine Kriege an, aber vielleicht Streit mit dem Nachbarn oder dem:r Ehemann:frau).

Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Ich hatte tatsächlich nur einmal eine Perspektive eines Pädophilen, die ich persönlich richtig gut fand. Leider fällt mir der Buchtitel nicht mehr ein.
Vielleicht Lolita von Nabokov?

Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Tatsächlich geht es mir in der Arbeit bei manchen Leuten auch manchmal so. Da sitzen Leute vor mir, die echt viel Geld verdienen und die haben Angst, dass sie finanziell ruiniert werden könnten. Das gibt es ziemlich häufig, und ich verstehe es einfach nicht. Ich glaube, vieles davon ist einfach zu weit weg von meinen persönlichen Werten und Anschauungen.
Ich glaube gar nicht, dass man das alles verstehen muss. Mein Chef in der VT-Ausbildung hat immer gesagt: Menschen sind nicht logisch, sondern psychologisch. Das klingt zwar platt, aber ja, die Psyche hat ihre eigene Logik und du hast doch sicher auch irgendwelche (irrationalen) Ängste. Ich zB traue mich nicht in den Keller, wenn ich einen Gruselfilm gesehen habe (zB Stranger Things  ;D), obwohl ich weiß, dass das Quatsch ist. Verarmungswahn kommt sehr häufig vor, ich erliege ihm manchmal auch  ;)

Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Wie seht ihr das? Ist es überhaupt nötig, sich so weit hineinzudenken und hineinzufühlen oder genügt es, wenn man auf dem Reißbrett eine Figur entworfen kann, die schlüssig ist? Und falls nicht, was hilft euch, in den Protagonisten hineinzuschlüpfen?

Ich sage: Ja, es ist nötig. Manche sehen das sicher auch so und andere nicht. Was mir hilft, ist schreiben. Manchmal setze ich mich hin und schreibe einfach aus der Sicht der Figur etwas, als würde sie es mir erzählen. Ich mache dann manchmal sowas wie eine Biographische Anamnese. Vielleicht hilft es ja, wenn du der Figur als Therapeutin begegnest, vielleicht kannst du ja sogar einen Grund finden, warum sie zu dir kommt. Ich hab das noch nie gemacht, könnte mir aber vorstellen, dass es einem Antagonisten eben diese menschliche Seite verleiht, weil er dann ein Mensch mit Problemen ist. Und wenn du auf bestimmte Fragen, die du als Therapeutin stellst, keine Antwort von deinem sich bei dir in Therapie befindlichen Anta bekommst, könntest du immer noch hier nachfragen. Aber ja, ich finde wichtig, dass die Antas auch "echte" Menschen sind/sein könnten, nicht nur Schablonen oder Stereotype irgdendwelcher Pathologien.
Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Sanjani

Hallo Fluide,

Zitat von: Fluide am 04. Juni 2023, 19:36:22Ich glaube, es gibt keine "bösen" Menschen. Schon als Kind mochte ich diese Disneyfilme nicht, wo es so eindeutig böse Antagonisten gibt (ZB der Film mit den Dalamatinern). Menschen sind nicht schwarz oder weiß, gut oder böse, sondern grau. Deine Pat sind nicht "böse" und doch wird es ja sicher einige Situationen geben, in denen sie anderen Unrecht tun, zB indem sie Motive anderer missdeuten und ihnen bspw niederträchtige Motive unterstellen.

Ja, das Wort böse ist sicher nicht optimal gewählt. Aber das von dir gewählte Beispiel ist ja nichts, was ich als Böse bezeichnen würde. Aber gerade im Traumabereich hört man doch wirklich kranken Scheiß, bei dem mir manchmal wirklich kein anderes Wort einfällt.

ZitatIch glaube nicht, dass irgendjemand morgens aufsteht und sagt: "Heute schädige ich Leute und nutze sie richtig fett aus. Das wird ein Spaß" Ich glaube, jemand hatte das auch schon geschrieben, dass niemand von sich denkt, böse zu sein. Kriege entstehen nicht (meiner Meinung nach natürlich nur), weil jemand denkt: Heute bin ich mal ein Arsch und zeige denen mal, wer hier der Boss ist, muahhhaaah!, sondern weil jemand zB denkt, er sei ungerecht behandelt worden (vielleicht könnte man auch sagen, aufgrund einer narzisstischen Kränkung, der wir auch alle schon mal anheimgefallen sind, wir fangen bloß keine Kriege an, aber vielleicht Streit mit dem Nachbarn oder dem:r Ehemann:frau).

Du hast Recht, das Wort "schädigen" zu benutzen, bedeutet genau nicht, die Perspektive des anderen einzunehmen. Aber wenn ein Vater sein Kind foltert, dann fällt mir da einfach kein anderes Wort zu ein. Und wenn es dann offensichtlich verletzt ist, kann man ja kaum sagen oh das hat meinem Kind jetzt aber nicht geschadet, davon wird es nur stärker. Dazu muss man doch mega verblendet sein oder - was ich eher glaube - man genießt es, jemanden so zu behandeln.

Aber mal ein anderes Beispiel, kein Extrembeispiel: Angenommen, ich würde über jemanden schreiben wollen, der an die Spitze einer großen Firma möchte. Da gibt es dann ja Leute, die machen das auf ehrliche Weise, also durch harte Arbeit, und es gibt solche, die ihre Konkurrenten aus dem Weg räumen, beispielsweise, indem sie sie diskreditieren, Intrigen gegen sie spinnen, Lügen über sie verbreiten etc. Das schädigt ja von außen betrachtet den anderen, aber ich als Charakter muss dann ja im Grunde sagen: Mir steht es zu, Leiter dieser Firma zu werden, und dazu ist es auch ok, zu unleuteren Mitteln zu greifen - wie geht so was? Dieser Psychopathentyp, mit dem ich mal ein paar Wochen zusammen war, der hat mir ja nachweislich das blaue vom Himmel heruntergelogen - das habe ich bis heute nicht verstanden, wieso der das gemacht hat. Ich meine, wenn ich an seiner Stelle wäre, dann könnte es sein, dass ich mir denke, ok ich will der Frau jetzt imponieren, vielleicht sogar nur, um sie ins Bett zu kriegen. Aber spätestens da, wo ich mir denke, ich erzähl der jetzt, dass ich zwei Uniabschlüsse habe in Jura und Informatik und dass mir ein Kunde ein halbes Weingut geschenkt hat und dass ich schon mal allein als Blinder in Ägypten war - und das stimmt ja alles gar nicht, da würde bei mir sich schon das schlechte Gewissen melden und ich würde mir denken, das kann ich jetzt echt nicht bringen. Und ich verstehe nicht, was da in so jemandem vorgeht. Entweder, er glaubt mittlerweile seine Lügengeschichten so, was ich aber nicht glaube, weil er ja in der Zeit selbst auch noch welche frisch erfunden hat - er sei in Indien, weil seine Patentochter beim Klettern abgestürzt ist usw. oder er sagt, Wahrheit oder Lüge ist doch alles gleich oder wie geht das? Ich könnte so jemandem eine biografische Anamnese verpassen, ja, aber schreiben könnte ich über ihn nicht. Was übrigens blöd ist, weil ich ne Geschichte plane über einen, der Menschenhändler ist und ein Psychopath und sich an eine meiner Protagonistinnen ranmacht :)

ZitatVielleicht Lolita von Nabokov?
Nein, ich glaub, es war was anderes.

ZitatIch glaube gar nicht, dass man das alles verstehen muss. Mein Chef in der VT-Ausbildung hat immer gesagt: Menschen sind nicht logisch, sondern psychologisch. Das klingt zwar platt, aber ja, die Psyche hat ihre eigene Logik und du hast doch sicher auch irgendwelche (irrationalen) Ängste. Ich zB traue mich nicht in den Keller, wenn ich einen Gruselfilm gesehen habe (zB Stranger Things  ;D), obwohl ich weiß, dass das Quatsch ist. Verarmungswahn kommt sehr häufig vor, ich erliege ihm manchmal auch  ;)

In der Arbeit halte ich das genauso. Ich muss nicht alles verstehen, um dem anderen u helfen. Aber um einen solchen Charakter zu schreiben, müste ich mich da schon hineinfühlen. Natürlich hab ich auch irrationale Ängste, übrigens auch mit so Gruselsachen ;) aber ich weiß auch ziemlich genau, woher es kommt. Und wahrscheinlich wär das auch weg, wenn ich mich mal dranmachen würde. Aber diese Leute mit dem Geld hatten ja oft nie irgendwelche Erlebnisse mit Armut oder ein reales Risiko zu verarmen. Tatsächlich glaube ich da eher, dass das zutrifft, was Yamouri oder Rhagrim geschrieben haben, dass es so ein massiver Gesichtsverlust wäre. Ich meine, es gibt ja auch Leute, die sagen, wenn sie ihr Geld verlieren, ihre Firma pleite geht oder ähnliches, dann bringen sie sich um, das finde ich schon ziemlich krass. Aber das führt jetzt etwas vom Thema weg ;)

ZitatIch sage: Ja, es ist nötig. Manche sehen das sicher auch so und andere nicht. Was mir hilft, ist schreiben. Manchmal setze ich mich hin und schreibe einfach aus der Sicht der Figur etwas, als würde sie es mir erzählen. Ich mache dann manchmal sowas wie eine Biographische Anamnese. Vielleicht hilft es ja, wenn du der Figur als Therapeutin begegnest, vielleicht kannst du ja sogar einen Grund finden, warum sie zu dir kommt. Ich hab das noch nie gemacht, könnte mir aber vorstellen, dass es einem Antagonisten eben diese menschliche Seite verleiht, weil er dann ein Mensch mit Problemen ist. Und wenn du auf bestimmte Fragen, die du als Therapeutin stellst, keine Antwort von deinem sich bei dir in Therapie befindlichen Anta bekommst, könntest du immer noch hier nachfragen. Aber ja, ich finde wichtig, dass die Antas auch "echte" Menschen sind/sein könnten, nicht nur Schablonen oder Stereotype irgdendwelcher Pathologien.

Das ist mir eben auch wichtig. Selbst wenn im Buch nie eine Perspektive von denen da ist, müssen sie gut konstruiert sein. Ich hasse übrigens biografische Anamnesen :D Aber ich werde das mal ausprobieren. Ich werd mal eine Geschichte für die Person konstruieren, an der ich gerade arbeite, und dann sehen, ob ich was aus deren Sicht schreiben kann. Tatsächlich mach ich das bei meinen Protas auch oft so, aber da fallen mir die Lebensgeschichte oder wichtigen Ereignisse auch oft zu.

Viele Grüße

Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Fluide

Vielleicht schreibe ich deshalb keine so krassen Antagonisten, weil ich mich in so Extremköpfe gar nicht reindenken will. ZB Leute die extrem gewalttätig sind. Gibt doch diese Mafiaserie, mit dem Mafiaboss der zur Psychotherapeutin geht. Vielleicht dort mal reinschauen zu Recherchezwecken? Es ist aber sicherlich ein Unterschied, ob man tatsächlich so extreme Antagonisten hat oder eher so wie dein Karrieretyp- oder Lügnerbeispiel.

Zitat von: Sanjani am 04. Juni 2023, 20:17:35Das schädigt ja von außen betrachtet den anderen, aber ich als Charakter muss dann ja im Grunde sagen: Mir steht es zu, Leiter dieser Firma zu werden, und dazu ist es auch ok, zu unleuteren Mitteln zu greifen - wie geht so was?
Ich würde das so konzipieren, dass es so Grundannahmen gibt wie: Ich darf nicht scheitern. Wenn ich nicht erfolgreich bin, ist mein Leben/bin ich nichts wert. (Das gilt auch für deinen Lügner, also irgendwelche Grundannahmen, die der so mit sich rumträgt.) Dadurch entsteht innerer Druck, der ist nicht immer gleich groß, der wirkt implizit oder schlummert manchmal auch, aber wenns eine schwierige Situation gibt, dann ist da soviel Druck innen, es schaffen zu müssen, da ist dann gar kein Platz für Gedanken an andere. Ich glaube nicht, dass diese Person dann andere Leute, d.h. Kollegen als fühlendes Individuum mitdenkt, sondern eher als Hindernis. Wie, ich glaube es war Rhagrim, schrieb, wenn einem kein Mensch mehr gegenübersteht, kann man vieles tun. Die kognitive Dissonanz muss ja irgendwie aufgelöst werden. Wenn der aber nicht ansatzweise soziale Interaktion versteht, wird der nicht sehr weit kommen, das heißt, der kann sich nicht immer und nur wie ein Arsch verhalten.

Es gibt ja wahrscheinlich auch Bücher, wo der Antagonist eher "eindimensional" ist und die trotzdem gut funktionieren und nicht so schablonenhaft sind, oder? Ich lese so etwas nicht so viel, deswegen hab ich da so spontan keine Vorschläge. Kennst du "Raum"? Da ist doch der Typ, der Mutter und Kind gefangenhält, auch nur extrem, bin aber nicht ganz sicher. Der ist nur kranker Täter, glaube ich, und nicht mehr. Manche Menschen sind natürlich auch extrem. Aber Tiere ja auch. Delfine können sehr grausam sein und Seeotter erpressen wohl manchmal Nahrung indem sie Seeottterkinder kidnappen.

Also, was ich sagen will: Ich revidiere meine vorherige Aussage ;) und sage: Wahrscheinlich hängt es vom Plot und der Geschichte ab, ob es wirklich nötig ist, sich in den Antagonisten hineinzuversetzen oder ob Reißbrett genügt.

Zitat von: Sanjani am 04. Juni 2023, 20:17:35Ich hasse übrigens biografische Anamnesen :D
Dann machst du auch VT? TPler nennen das vermutlich anders.

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Yamuri

Ich kann mich tatsächlich in jede Figur hineinversetzen. Aber ich denke es ist nicht immer zwingend notwendig. Psychopathen würde ich eher mit Maschinen vergleichen, die rein funktional denken. Daher sind sie im Kern wohl weder gut, noch böse, sie sind einfach nur. Der Mensch bewertet Verhalten als gut oder böse. In der Serie Justice in the Dark ist es so, dass der Psychopath mit der Polizei zusammenarbeit, wobei ich mir inzwischen unsicher bin, ob bei dem Mann nicht ein Fehler gemacht wurde hinsichtlich der Diagnose. Selbstreflexion und keine Empathie zu haben sind zwei unterschiedliche Dinge. Auch ein Psychopath kann sein Handeln reflektieren und dann zu dem Schluss kommen, dass es aus funktionaler Sicht richtig ist, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Vielleicht erhofft sich die Person auch ein tieferes Verständnis in emotionale Prozesse, wie ein Kind, das ausprobiert und testet. Für die Betroffenen, die in so einen Test hingezogen werden, ist das schmerzhaft und man fühlt sich verraten. Aber ist das Verhalten objektiv betrachtet böse? Oder ist es eher der verzweifelte Versuch eines Menschen etwas zu verstehen, was er nicht verstehen kann, Einsichten zu gewinnen? Wie ein Wissenschaftler, der ein Tier auseinandernimmt oder einen Menschen, um zu verstehen, wie das Lebewesen aufgebaut ist? Würde bei einem sozialen Experiment der Forscher den Probanden zuerst sagen, was er erforschen will, würde sich niemand natürlich verhalten und das Ergebnis wäre verfälscht. Ein rein logisch-kognitiv denkendes Wesen, würde zu dieser Schlussfolgerung kommen und seinen selbstgewählten Probanden daher nicht sagen, was es vorhat, was dann wiederum verletzend ist für den Proband, der hintergangen wurde.

Ich denke, dass die meisten Menschen aus Dummheit anderen schaden, nicht aus Bosheit, sondern Gedankenlosigkeit. Wir denken alle zuerst an uns selbst. Das ist ein menschliches Naturell. Wir denken zuerst an unsere eigenen Interessen. Es ist eine Selbstlüge zu glauben, dass dem nicht so wäre. Wenn wir etwas tun, dann immer, weil es für uns einen Nutzen hat. Wenn wir Empathie besitzen und uns für unsere Mitmenschen interessieren (ich denke, dass eine Person sich auch ohne Empathie für Mitmenschen interessieren kann und dann durchaus erkennt, welches Verhalten angemessen wäre und welches nicht - wohingegen auch ein Mensch mit Empathie so frustriert von seinen Mitmenschen sein kann, dass ihm/ihr irgendwann gleichgültig ist was mit den Mitmenschen ist, weil die eigenen Verletzungen zu schmerzhaft geworden sind), wenn jedenfalls beides zutrifft, Empathie und Interesse am Mitmenschen, dann werden wir in der Regel darüber nachdenken, ob unser Handeln auch für andere ein Vorteil ist. In der Regel wird sich aber kaum ein Mensch für ein Handeln entscheiden, das nur den anderen nützt und einem selbst womöglich sogar Nachteile bringt. Das meine ich damit, dass jeder zuerst auf seine Interessen achtet und kaum etwas tun wird, was den eigenen Interessen entgegen läuft.

Aber ich denke auch, dass man sich nicht immer zwingend reinversetzen muss, wenn man nicht will. Ich habe selbst sehr extreme Emotionen. In mir ist viel Licht, aber ebenso viel Schatten. Ich bin bewusst nie in die Politik gegangen, denn ich weiß genau, wohin das führen würde. Ich verzweifle jetzt schon an der Menschheit und das hat sehr viel Groll in mir geboren, den ich in meine Geschichten einfließen kann. Ich habe einen kreativen Umgang mit meiner Wut auf die Gesellschaft gefunden.

Und ich denke, es ist völlig in Ordnung wenn die Menschen, die diesen Zorn kennen, diese Extreme in der eigenen Seele, sich kreativ damit auseinandersetzen, während Menschen, die das nicht in sich tragen sich anderen Themen widmen. Letztlich schreiben wir alle über das, was uns in unseren Herzen bewegt. Ich schreibe ein Stück weit über den Krieg in mir selbst.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Rhagrim

#51
Mir fällt es mittlerweile auch leichter, mich selbst in solche Figuren hineinzuversetzen.
Ich finde es sehr hilfreich, Biografien oder Interviews von "betroffenen" Menschen zu lesen oder anzusehen, die darin auf ihre Art zu denken und ihre Weltanschauung eingehen, um ein Verständnis dafür zu entwickeln.
Dabei meine ich nicht, dass man diese Art zu denken, oder manche Taten damit auch entschuldigen soll. Sondern lediglich ein Verständnis für das Wie und Warum zu entwickeln. Darin sehe ich einen großen Unterschied - und gleichzeitig ein großes Potenzial, das eigene Weltbild zu erweitern.

"Keine Angst vor den Schatten", sage ich da. Denn um das zu verstehen und wirklich nachempfinden zu können, muss man sich trauen, sich wirklich auf fremde Weltanschauungen, Meinungen, Arten zu Denken einzulassen - was allerdings dazu führen kann, dass man in dem Prozess auch mit seinen eigenen Schattenseiten konfrontiert wird.
Genau den Seiten, die man vielleicht bis dato verdrängt hat und/oder sie unbewusst auf andere projiziert hat, weil man sie nicht mit sich selbst in Verbindung bringen will.

Allein der Gedanke kann Angst machen, auf paradoxe Art und Weise kann es aber auch sehr heilsam sein, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und in dem Prozess auch die Persönlichkeitsanteile in sich zu integrieren, mit denen man eigentlich nicht in Berührung kommen will.
Ein Gefühl, das sich für mich als guter Richtwert herausgestellt hat, ist: umso mehr ich etwas nicht sehen/hören/wahrhaben will, desto mehr Potenzial steckt darin, etwas daraus lernen und mich weiterentwickeln zu können.

Ich hab zu den einzelnen Themen (Psychopathie, Narzissmus und Ideologie) noch ein paar tolle Interviews auf Youtube ausgegraben, die Einblick geben in die Denkensweise von jeweils Betroffenen bzw. Menschen, die sich intensiv damit auseinandersetzen. Die möchte ich gerne ergänzend zu den bereits erwähnten Buchempfehlungen (die übrigens auch alle als Hörbuch auf Audible verfügbar sind) hier verlinken, die ebenfalls auf Denkensart und Innenleben der jeweils Betroffenen eingehen.

1) Psychopathen
Interview mit einem Soziopathen (englisch)
Lydia Benecke Interview über das Mindset von Tätern/Psychopathen

2) Narzissten
Interview mit (ehemals) pathologischem Narzissten - Wieso ist der Narzisst so wie er ist?

Bei Narzissten hab ich auch persönliche Erfahrungen, die sich als sehr spannend und lehrreich herausgestellt haben. Mein Exfreund z.B. war Narzisst, wie er im Buche steht, und absolut davon überzeugt, einer höher entwickelten Spezies Mensch anzugehören. Irgendwann später, nach unserer Trennung, haben wir uns mal über die Einvernehmlichkeit beim Sex unterhalten, was er verächtlich abgewunken hat und meinte, dass eine Frau eigentlich dankbar dafür sein solle, dass jemand sie haben will und deswegen halt einfach mitspielen soll, wenn der Mann gerade will.
Das ist nun natürlich keine nette Aussage, aber es war eine *ehrliche* und dadurch ein faszinierender Einblick in die Gedankenwelt eines narzisstischen Menschen, wie er über Frauen und sich selbst bzw. seinen vermeintlichen Anspruch auf ihren Körper denkt.

3) Ideologie/Religion/Politik
Wie ist das Nazi zu sein? - Interview
Ex-Nazi trifft Rassismus-Opfer - Interview
Polizist trifft Antifaschisten - Interview
Interview mit einer ehemaligen Aktivistin (englisch)

Gerade bei so ideologischen/politischen/religiös motivierten "bösen Menschen" (böse unter Anführungszeichen, weil ich nicht denke, dass es "böse" in der Form wirklich gibt) spielt, denke ich, auch oft Gruppenzwang eine große Rolle und der Druck, mit den anderen in der gleichen Gruppe konform zu gehen bzw. gehen zu müssen, um nicht selbst Anfeindungen und Mobbing ausgesetzt zu sein.
In so einer Umgebung baut vieles auf Erwartungen auf, die an einen gestellt werden und abweichende Ansichten werden oft nicht wirklich toleriert, da sie das vorherrschende Weltbild bedrohen.
Gleichzeitig bewegt man sich dann oft nur in sehr auserwählten Kreisen, also einer "Echo Chamber", wo sich nur Menschen mit denselben oder ähnlichen Überzeugungen aufhalten und sich dadurch gegenseitig selbst bestärken. Dadurch rutscht man immer stärker in dieses Gruppendenken und diese gut/böse bzw. "wir gegen die" Mentalität rein und radikalisiert sich dadurch immer mehr. Wie sehr sich sowas aufschaukeln kann, sieht man dann ja immer wieder mal bei Protesten oÄ, wo man  nicht mehr alleine als Individuum Verantwortung für seine Aktionen trägt, sondern "nur" einer von mehreren ist, sodass sie Frage nach Schuld und Verantwortung gefühlt nicht mehr nur an einem selbst haften bleibt - sondern auf das Kollektiv abgeschoben werden kann.

Gleichzeitig kann so etwas leicht "kultische" Dynamiken annehmen, was dann die Gefahr zu Extremen in sich birgt und in so eine sich selbst verstärkende Spirale ausarten kann. Robert Jay Lifton schreibt da in seinem Buch "Losing Reality" und "Thought reform and the Psychology of Totalism" die 8 Kriterien der Gedankenreform, wie er sie in Kulten, oder auch z.B. in den Umerziehungslagern Mao Zedongs studiert hat. Die gleiche Dynamik kann man sehr oft in ähnlichen Gruppierungen beobachten Ist total interessant, falls es jemanden interessiert, versuche ich mal, grob zusammenzufassen:
  • Milieu Control: Es wird kontrolliert, wie das Umfeld gestaltet ist und ob und wie ein Individuum Kontakt zu seiner Umwelt hat. Sei es jetzt in der Schule das Aufhängen von Führern, Flaggen oder sonstigem, Online ein Algorithmus, der einen manipuliert, indem man immer ähnliche Inhalte vorgeschlagen bekommt, oder eben, sicherzustellen, dass Mitglieder den Kontakt zu Freunden, Familie etc. einschränken oder abbrechen und diese durch Mitglieder ihrer neuen "Gemeinschaft" ersetzt werden.
  • Mystical Manipulation: Es wird eine "mystische Aura" um die Organisation, Gemeinschaft, etc. aufgebaut, die als "das einzig Wahre" dargestellt wird bzw. diejenige, die "Zugang zur Wahrheit" oder "Erlösung" hat. Ihre Anhänger sehen sich selbst als "Erleuchtete" oder "Auserwählte", die Zugang zu diesem besonderen Wissen haben und sich und ihre Mission/Ideologie/Religion/Partei/wasauchimmer als überlegen sehen.
  • Demand for Purity: Damit ist die Forderung nach absolut moralischer "Reinheit" und Ergebenheit zur Sache gemeint. Es wird eingeteilt in "Rein" =gut und "Unrein" =böse (sündig, wenn man so will). Dadurch wird ein Klima moralischer Schuld bzw. Scham erzeugt, indem jeder dazu angehalten wird, seinen eigenen Glauben zur Sache zu demonstrieren.
  • Confession: Man wird dazu gezwungen, sich öffentlich zu seinen "Sünden" zu bekennen, was einerseits den "Glauben" stärkt, selbst ein unreiner, unwürdiger Mensch zu sein und andererseits den anderen Mitgliedern die Möglichkeit in die Hand gibt, durch dieses Wissen Druck auszuüben und einen u.a. via Erpressung oder Drohungen daran zu hindern "auszusteigen".
  • Sacred Science: Um das grundlegende Dogma wird eine Art "heilige Wissenschaft" aufgebaut, die dem "Kern der Wahrheit" in dieser Gemeinschaft/whatever zugrunde liegt. Sie erklärt im Prinzip die ganzen, existenziellen Fragen, die sich darum drehen, wie die Welt organisiert ist und die Rolle und Aufgabe des Menschen darin. Sie ist die "einzige Wahrheit" um die sich alles dreht und legt die Methoden dar, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um das wie auch immer geartete Ziel zu erreichen.
  • Loading the Language: Sprache wird verändert, Begriffe erhalten zweideutige Bedeutungen. Manches darf nicht ausgesprochen werden, andere Phrasen müssen immer wieder rezitiert werden. Teilweise ensteht ein Sprachcode, den nur "Eingeweihte" verstehen, während "Außenstehende" keine Ahnung davon haben, dass ein und dasselbe Wort für sie eine andere Bedeutung hat, als für Mitglieder der Organisation/whatever.
  • Doctrine over Person: Dadurch stellt ein "Eingeweihter" die Doktrin über seine eigenen Ansichten/Zweifel/Gefühle, sodass er im Zweifelsfall der Lehre folgt und seine eigenen Bedenken als ungültig, falsch oder moralisch verwerflich betrachtet. Wenn er zB mit Situationen konfrontiert wird, die er als falsch erachtet und sich dennoch fügt, da er seine Zweifel oder Gedanken als Schwäche, Unglauben, etc. auslegt, die er "nicht haben sollte". Als Prüfung seines Glaubens. Sowas.
  • Dispensing of Existence: Die klare Unterscheidung zwischen den Eingeweihten und den Außenstehenden. Die Außenstehenden gelten als "böse", "unwissend", "Verdorben", ihnen wird quasi ihre Menschlichkeit abgesprochen und im schlimmsten Fall ihr Existenzrecht abgesprochen. Vielleicht gelten sie als Feinde, die es zu vernichten gilt, weil sie den Zielen der eigenen Organisation/whatever im Wege stehen, oder sie (angeblich) "bedrohen". Gleichzeitig wird damit die Angst bei Eingeweihten geweckt, dass sie genau in dieselbe Kategorie fallen, sollten sie es wagen, zu "Verrätern" zu werden und dieses Umfeld zu verlassen.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Michael W

#52
Ich möchte etwas in die Runde werfen, das sich auf einen bestimmten Aspekt der Antagonistenrolle bezieht. Die finale Auseinandersetzung mit dem Bösewicht ist in Fantasy-Geschichten sicher eine beliebte Szene und kann dementsprechend klischeehaft wirken. Immerhin ist sie mit der Erwartung verbunden, dass die Heldin oder der Held am Ende siegreich sein wird. Aber der Ausgang der Konfrontation ist ja nicht alles. Spannend ist auch, wie sie sich entwickelt. Ein mögliches Szenario ist, dass der Antagonist bislang mysteriös geblieben ist (also bisher nur durch Taten und Befehle aufgefallen ist) und erst bei der finalen Auseinandersetzung mit dem Protagonisten die eigenen Motive erklärt, die überraschend nachvollziehbar klingen. Dann kommt man beim Lesen idealerweise ins Stocken und fragt sich, wer denn jetzt wirklich böse ist. Das ist jetzt eher ein oberflächliches und kein konkretes Beispiel. Aber für mich ist das ein Zeichen, dass die Charakterisierung der Figuren gelungen ist: Wenn die Sichtweisen von beiden Seiten jeweils mit Argumenten begründet sind und emotional berühren.

Sanjani

Hallo noch mal und vielen Dank für die spannenden Impulse,

Zitat von: Rhagrim am 04. Juni 2023, 11:40:28Sehr, sehr viele Handlungen und Motivation lassen sich dadurch tatsächlich gut verstehen und geben Hinweise auf Charakter eines Menschen, wenn man die Frage stellt: "Was gibt dir das Gefühl von Bedeutung? Und wie versuchst du, es zu erreichen?"

Ganz so eindimensional ist es sicher nicht, aber es ist definitiv eine gute Heuristik.

ZitatBesonders tricky ist es, um wieder auf den Punkt des Idealismus zurückzukommen, wenn man seine Bedeutung darüber finden möchte, ein guter Mensch zu sein. Die Frage stellt sich: Willst DU ein guter bzw. rechtschaffender Mensch sein? Oder möchtest du von ANDEREN als solcher wahrgenommen werden, d.h. deine guten Taten nach außen tragen, damit sie möglichst wahrgenommen werden und du dafür Lob/Anerkennung/Respekt/etc. erhältst und daraus die Bestätigung schöpfst? Vielleicht darüber sogar ein Gefühl moralischer Überlegenheit entwickelst, und dadurch in eine Spirale reinrutscht, die das Potenzial zu Extremen in sich birgt?
Wie erkennt man den Unterschied? Bist du hilfsbereit und begehst deine guten Taten mehr oder weniger im Stillen und unterstützt Menschen/Tiere/Umwelt/sonstiges, einfach "nur" weil es dir ein Bedürfnis ist, ohne dabei eine großartige Show daraus zu machen?

Ich nehme an, dass die meisten Menschen etwas von beidem haben, und das ist ja auch ok so, finde ich. Aber natürlich sind auch nicht alle Antagonisten Extreme, was ja vielleicht auch noch mal wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen. Nur weil jemand vielleicht ein Karrieretyp ist, der im Beruf auch mal zu unleuteren Mitteln greift, heißt das nicht zwangsläufig, dass er generell ein Arsch ist :)
Danke übrigens für die vielen interessanten Beispiele. Zum Lesen englischer Bücher fehlt mir echt die geistige Anstrengungskraft, aber ich hab mal in den Real Dictators Podcast reingehört, der ist wirklich unglaublich spannend und gut gemacht und man kann die Leute insgesamt auch gut verstehen.

Zitat von: Fluide am 04. Juni 2023, 22:42:06Vielleicht schreibe ich deshalb keine so krassen Antagonisten, weil ich mich in so Extremköpfe gar nicht reindenken will. ZB Leute die extrem gewalttätig sind. Gibt doch diese Mafiaserie, mit dem Mafiaboss der zur Psychotherapeutin geht. Vielleicht dort mal reinschauen zu Recherchezwecken? Es ist aber sicherlich ein Unterschied, ob man tatsächlich so extreme Antagonisten hat oder eher so wie dein Karrieretyp- oder Lügnerbeispiel.

Also solche gewalttätigen Antagonisten sind bei mir auch absolut nicht die Regel. Aber meine Faszination liegt tatsächlich eher bei denen als bei den Lügnern und machtgeilien Karrieretypen, mit denen kann ich so gar nix anfangen. Oh Gott, das klingt jetzt aber auch bisschen komisch, was ich da geschrieben habe ;)

ZitatIch würde das so konzipieren, dass es so Grundannahmen gibt wie: Ich darf nicht scheitern. Wenn ich nicht erfolgreich bin, ist mein Leben/bin ich nichts wert.

Tatsächlich hab ich sogar so jemanden mal in Behandlung gehabt. Ich weiß aber nicht, inwiefern der auch unleutere Mittel genutzt hat, um sein Scheitern zu verhindern, müsste ich ihn mal fragen :)

ZitatEs gibt ja wahrscheinlich auch Bücher, wo der Antagonist eher "eindimensional" ist und die trotzdem gut funktionieren und nicht so schablonenhaft sind, oder? Ich lese so etwas nicht so viel, deswegen hab ich da so spontan keine Vorschläge. Kennst du "Raum"? Da ist doch der Typ, der Mutter und Kind gefangenhält, auch nur extrem, bin aber nicht ganz sicher. Der ist nur kranker Täter, glaube ich, und nicht mehr. Manche Menschen sind natürlich auch extrem. Aber Tiere ja auch. Delfine können sehr grausam sein und Seeotter erpressen wohl manchmal Nahrung indem sie Seeottterkinder kidnappen.

Nein, das Buch kenne ich nicht. Und das von den Seeottern wusste ich nicht, aber ich glaube, die denken nicht in unserem menschlichen Sinne, die verhalten sich so, wie sie festgestellt haben, dass es nützt, oder?
Meine Sorge ist, glaube ich, dass ich mit meinem Antagonisten dann in diese Schublade rutsche, dass die Leser denken, was ist das denn für eine miese Charakterkonstruktion - eben weil ich selber so wenig Beispiele gelesen habe, die mich wirklich überzeugt haben. Aber tatsächlich heißt das ja nicht, dass diese Beispiele viele andere auch nicht überzeugt haben. Vielleicht bin ich ja auch sehr anspruchsvoll. Und manchmal weiß ich ja auch nicht, was der Autor intendiert hat. Ich hab z. B. letztens die Mars Nation Trilogie von Brandon Q. Morris gelesen, da gibt's auch so nen Wirtschaftstyp, der will eine Marskolonie aufbauen und den Mars unter seine Kontrolle kriegen. Das war so ein furchtbar unsympathischer, ekelhafter Typ. Wenn der Autor dieses Gefühl auslösen wollte, ist es ihm definitiv gelungen. Aber nachvollziehen konnte ich seine Aktionen nicht so richtig, und das hat mich frustriert

ZitatDann machst du auch VT? TPler nennen das vermutlich anders.

Jo genau. Wobei ich die klassischen VT-Verfahren tatsächlich gar nicht so gut finde ;)

Zitat von: Rhagrim am 05. Juni 2023, 15:13:37In so einer Umgebung baut vieles auf Erwartungen auf, die an einen gestellt werden und abweichende Ansichten werden oft nicht wirklich toleriert, da sie das vorherrschende Weltbild bedrohen.
Gleichzeitig bewegt man sich dann oft nur in sehr auserwählten Kreisen, also einer "Echo Chamber", wo sich nur Menschen mit denselben oder ähnlichen Überzeugungen aufhalten und sich dadurch gegenseitig selbst bestärken. Dadurch rutscht man immer stärker in dieses Gruppendenken und diese gut/böse bzw. "wir gegen die" Mentalität rein und radikalisiert sich dadurch immer mehr. Wie sehr sich sowas aufschaukeln kann, sieht man dann ja immer wieder mal bei Protesten oÄ, wo man  nicht mehr alleine als Individuum Verantwortung für seine Aktionen trägt, sondern "nur" einer von mehreren ist, sodass sie Frage nach Schuld und Verantwortung gefühlt nicht mehr nur an einem selbst haften bleibt - sondern auf das Kollektiv abgeschoben werden kann.

Ich finde, das konnte man während der Corona-Pandemie sehr gut beobachten, wie sich die Fronten zwischen "Verschwörern" und den anderen verhärtet haben. Und Der Pfad, wo man heute noch öffentlich was sagen kann, ohne als Verschwörer oder Rechter gesehen oder betitelt zu werden, wird auch immer schmaler, was keine gute Entwicklung ist, aber das führt jetzt etwas OT.

ZitatGleichzeitig kann so etwas leicht "kultische" Dynamiken annehmen, was dann die Gefahr zu Extremen in sich birgt und in so eine sich selbst verstärkende Spirale ausarten kann. Robert Jay Lifton schreibt da in seinem Buch "Losing Reality" und "Thought reform and the Psychology of Totalism" die 8 Kriterien der Gedankenreform, wie er sie in Kulten, oder auch z.B. in den Umerziehungslagern Mao Zedongs studiert hat. Die gleiche Dynamik kann man sehr oft in ähnlichen Gruppierungen beobachten Ist total interessant, falls es jemanden interessiert, versuche ich mal, grob zusammenzufassen:

Danke, das ist sehr interessant. Ich hab irgendwann mal ein Buch gelesen - Flucht aus Lager 14 hieß das, das beschreibt das Leben eines Nordkoreaners, der aus einem Lager geflohen ist. Ich glaub, ich muss das auch noch mal lesen.

Viele Grüße

Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Yamuri

@Sanjani

Ich fürchte das wird es immer geben, Leser:innen, die das Verhalten einer Figur einfach nicht nachvollziehen können. Ich habe das beobachtet an den Kommentaren zu manchen Serien. Manche Figuren sind sehr polarisierend, sie werden entweder gehasst oder geliebt. Das spiegelt sich dann oft deutlich in den Kommentaren wieder. Vielleicht ist das aber gar nicht so schlimm? Und vielleicht sagt das, wir eine Figur wirkt auf einen Menschen wesentlich mehr über den Menschen selbst aus, als über die Figur?

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Ich bevorzuge auch nicht die "super gewalttätigen" Antagonisten, sondern eher die "sehr intriganten", die Ränke schmieden, auf der Psychologie-Schiene fahren und körperliche Gewalt eher in Maßen und nicht in Massen einsetzen. Also mehr psychische und emotionale Gewalt (es gibt ja viele Formen von Gewalt, Gewalt bedeutet ja nicht zwingend, dass man jemanden physisch verletzt), unter Druck setzen, Menschen in eine unangenehme Situation bringen, in der sie sich verstricken und der Antagonist dann Macht/Kontrolle ausüben kann. Macht und Kontrolle sind so Themen, die mich in Geschichten faszinieren.

Ganz wichtig ist mir bei Antagonisten aber auch, dass sie trotz allem menschlich bleiben, dass sie auch Sehnsüchte und Schmerzen haben, innere Zwänge. Ich glaube dadurch wird ihr Handeln dann auch eher nachvollziehbar, wenn sie nachvollziehbare Ziele haben, z.B. weil sie glauben nur durch ihr Handrln ihre Familie vor irgendetwas schützen zu können (selbst wenn es irrational gedacht ist, Menschen sind im Denken halt nicht logisch sondern oft sehr unlogisch). Eben Menschen mit denen man Mitgefühl haben kann. Sehr gern mag ich auch gefallene Helden, Menschen, die eigentlich das Potenzial gehabt hätten Helden zu werden, aber scheitern und zu den Monstern werden, die sie bekämpfen.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Rhagrim

#55
Freut mich, wenn für dich was nützliches dabei war @Sanjani  :)

Ich denke, unterm Strich kann man einfach sagen, dass kein Mensch ausschließlich böse oder gut ist, sondern aus unzähligen Grauschattierungen besteht und gute Gründe hat, warum er tut, was er tut. Ich versuche immer, meine Charaktere als "echte Menschen" zu begreifen und sie zu verstehen, ohne sie dabei zu verurteilen - egal, ob sie meine eigenen Überzeugungen widerspiegeln, oder nicht.
Ihnen soweit als möglich aufgeschlossen und neutral zu begegnen hilft mir persönlich dabei total.

Zitat von: Yamuri am 07. Juni 2023, 07:54:40Und vielleicht sagt das, wir eine Figur wirkt auf einen Menschen wesentlich mehr über den Menschen selbst aus, als über die Figur?
Das glaube ich auch. Ich glaube, wenn wir auf eine Figur (egal ob positiv, oder negativ) besonders stark reagieren, dann, weil sie irgendein unbewusstes bzw. nicht aufgearbeitetes Thema in uns selbst anspricht, und uns damit konfrontiert.

Hm, dann werfe ich hier auch einmalig meine ganz persönlichen 2 Cent zu dem OT Thema dazu, ehe ich mich daraus lieber zurückziehe:
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Derufin Denthor Heller

Antagonisten, Helden und ihre Psychosen.

Ein spannendes Thema und für das Schreiben sicher ein mächtiges und wertvolles Werkzeug.
Beim Schreiben meiner Romane bin ich auf einen weiteren Aspekt gestossen, der gerade in der "Phantastik" beachtet werden sollte.
Ich möchte diesen gerne hier teilen.
Die moralischen Wertvorstellungen vieler meiner Figuren kann man nicht so einfach erklären. Uralte Wesen, göttergleiche Figuren oder der Tod als Gestalt können nicht alleine durch gesellschaftliche Moral und eine Psychoanalyse beurteilt werden. Die Unsterblichkeit oder auch nur eine drastisch verlängerte Lebensspanne verändert die Sichtweise.
Vielleicht war gerade deshalb der Vampir in seiner Urgestalt eine unmoralisch handelnde Horror-Schreckens-Gestalt.


Yamuri

Ich finde das mit den uralten Wesen und göttergleichen Figuren auch sehr spannend. In chinesischen Xianxia Serien kommen ja sogenannte "Immortals" und götterähnliche Figuren vor. Die haben auch ihre ganz eigenen Konflikte, Probleme und natürlich auch andere Werte und Sichtweisen, gerade aufgrund ihres langen Lebens. Auch das Thema Reinkarnation das bei Xianxia ein beliebtes Trope ist, bietet andere Aspekte.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

SebMeissner

#58
Das sind wirklich tolle Anstöße, Rhagrim, danke!


Zitat von: Sanjani am 03. Juni 2023, 20:03:18Ich kann nur absolut nicht nachvollziehen, wie solche Leute ticken, und das will für mich als Psychologin schon echt was heißen.

Eventuell fällt dir das auch gerade deshalb schwer, weil sich die "Ich helfe meinem Klienten"-Sicht und die "Ich erschaffe eine zwangsweise überzeichnete und vereinfachte Figur, damit sie den Lesern schlüssig erscheint"-Sicht beißen?


Ansonsten möchte ich noch sagen, dass ich die greifbare Motivation einer Figur, auch eines Antagonisten, viel zentraler erlebe, als deren theoretischen Hintergrund. Mag sein, dass der Antagonist eine klinisch relevante Beeinträchtigung bescheinigt bekommen könnte, aber im Text möchte ich vorallem seine Entscheidungen spüren und daran bestenfalls so zu knacken haben, wie die Protagonisten. Vor allem in den kleinen Dingen. Mein Antagonist schickt seine Leute nicht in den Tod, weil er böse ist, sondern weil ihm die mentale Verbindung zu ihnen Kopfschmerzen bereitet und er endlich in Ruhe essen möchte. Und er kann sich natürlich nicht eingestehen, dass ihn seine eigene Unfähigkeit, diese Verbindung einfach zu lösen, überfordert hat - Schuld sind die Helden, die ihn in diese Situation gebracht haben. Er ist gekränkt und wird sich bei nächster Gelegenheit revanchieren.

Ich erinnere mich an eine Studie zu dissozialen Jugendlichen in Haftanstalten, bei denen deutlich geworden ist, dass Strafen sie zwar nicht beeindrucken, sie aber überaus erreichbar für Belohnungen waren. Ich denke, dass man sich auch einen psychopathischen Charakter als sehr erfolgsorientiert vorstellen kann: Dem Gegenüber zu zeigen, wer der Boss ist, oder den Gegenüber hinters Licht zu führen, können wertvolle Ziele sein.

So etwas lässt sich leichter in eine Geschichte flechten, finde ich.

Rhagrim

Kennt ihr den Youtube Channel "Cinema Therapy", wo ein Psychotherapeut und ein Filmproduzent Filme und die psychologischen Hintergründe einzelner Charaktere oder der Charakterdynamiken besprechen? Dort haben sie eine eigene Reihe, in denen es um die Antagonisten in Filmen geht. Total spannend. :)
Link : Villain Therapy
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung