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Urban Fantasy - Reaktionen der Normal-Bevölkerung auf Übernatürliches

Begonnen von Vic, 21. August 2014, 20:25:00

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Denamio

Zitat von: Churke am 18. Februar 2016, 00:30:00
Da zitiere ich doch mal das Edikt vom 4. Dezember 356:

Interessantes Zitat, sicherlich. Es unterstützt recht gut die erwähnte These. In dem Fall funktioniert der Glaube an die Magie, weil sie als außerhalb des Systems stehend wahrgenommen wird. Sie ist eben nicht Teil des Systems und kann deshalb mystisch wirken. Zugleich ist es aber auch die Realisation der Moderne: Der Glaube an das Übernatürliche entsteht aus einem Mangel an Wissen.
Und hier kommt gerade der Aspekt der Moderne rein, der Soziologe Max Weber hat es sehr hübsch als die "Entzauberung der Welt"1 bezeichnet. Mit fortlaufender technischer Entwicklung ersetzte langsam aber sicher der Glaube an die Rationalität und Erklärbarkeit von Phänomenen, die Kraft der Magie und Geister.
Es ist ein zentrales Umdenken in Folge der Renaissance und Aufklärung. Man kann diese Entwicklungen natürlich ausklammern, dann kommt man aber zwangsläufig in den Bereich der Alternate History, weil gerade diese Epochen doch sehr stark prägend für unser heutiges Verständnis waren. Die besondere systemische Anfälligkeit und Demystifizierung des Übernatürlichen ist direkt mit der Säkularisierung verbunden.
Besagte Entzauberung der Welt informiert die sozialen Handlungen im Falle einer Konfrontation mit übernatürlichen. Entweder es ist für das System fremd, dann entsteht natürlich Panik, benötigt aber eine klare Trennung der Welten (Harry Potter, Nightside, Dresden, etc). Oder es ist dem System eigen und ist somit per Definition nicht mehr übernatürlich, weil es in den Apparat der Wissenschaft gerät. Das sind alles durchlässige Faktoren, in der Fantasy beliebig änderbar. Aber jede Änderung hier dran bringt massive gesellschaftliche Änderungen mit sich und dann ist es irgendwo auch nicht mehr die normale Bevölkerung heutzutage, wie im Eingangspost gefragt, sondern eine alternative Geschichte, die wiederum eigene Reaktionen darauf bringt. Stichwort ist hierbei der kulturelle Wandel im Laufe der Jahrhunderte.

Zitat
Die "so what?" Haltung passt auf einen modernen, säkularen Staat. Es ist allerdings auch durchaus denkbar, dass ein moderner Staat magische Umtriebe als Kapitalverbrechen verfolgt, weil ER SELBST sie nicht kontrollieren kann.

Auch dem widerspreche ich nicht. Allerdings ist zu sagen, dass gerade das Eingreifen der ganzen staatlichen Maschinerie die ultimative Entmystifizierung der Magie ist. Es gibt nichts, was Magie schneller tötet als Bürokratie und Paragraphen. ;D

Zitat von: Maubel am 18. Februar 2016, 00:05:40
Denamio, ich stimme dir da vollkommen zu, liebe es aber auch damit rum zu experimentieren.

Experimentieren ist toll, experimentieren ist heilig. ;D
Dein erstes Beispiel erinnert mich recht stark an Shadowrun. Dort war der grundsätzliche Aufbau so, dass die Magie eines Tages zurückkehrt. Und in dem Szenario hat das hübsch zu Aufständen, Gewaltverbrechen und ähnlichem geführt (die Übergangsphase) und schließlich zum Zeitpunkt wo die Stories dann wirklich spielen, war Magie so alltäglich, dass es in Labors erforscht und in Medien kommerzialisiert wurde.

ZitatObwohl Magie in der Welt alltäglich ist, verliert sie für den Leser oder mich als Autor nichts von ihrer Faszination. Allerdings habe ich lange überlegt, ob ich es überhaupt Magie nenne und habe mich schlussendlich dafür entschieden, weil es eben nicht Physik ist oder Chemie und irgendeinen Sammelbegriff werden sie auch für diese alltägliche Kraft benutzen.

Na, auch demystifizierte Magie kann für Leser und Autor faszinierend sein. Das wirkt dann wunderbar durch die exotische Fremde der Welt. Meine Argumentation bezieht sich ja mehr auf den Blick der einzelnen Charaktere in der betreffenden Welt. In deinem zweiten Beispiel, würde ein nicht-magischer Arbeiter wirklich noch staunen, wenn ein Eismagier arbeitet - oder wärs für ihn alltäglich? Ich finde für den Charakter wäre es alltäglich, nicht aber für den Leser/Autor weil diese im Bezugssystem der heutigen Welt stecken.

Vielleicht muß ich anhängen: Wenn ich schreibe das Magie in dem Fall banal wäre, dann meine ich damit nicht "banal zu lesen" sondern "banal für die Charaktere in dem Szenario".


1 https://de.wikipedia.org/wiki/Entzauberung_der_Welt

Churke

Zitat von: Denamio am 18. Februar 2016, 12:05:55
Es ist ein zentrales Umdenken in Folge der Renaissance und Aufklärung. Man kann diese Entwicklungen natürlich ausklammern, dann kommt man aber zwangsläufig in den Bereich der Alternate History, weil gerade diese Epochen doch sehr stark prägend für unser heutiges Verständnis waren. Die besondere systemische Anfälligkeit und Demystifizierung des Übernatürlichen ist direkt mit der Säkularisierung verbunden.

In der Viktorianischen Gesellschaft boomte das Übernatürliche. Wahrscheinlich war das die Sehnsucht nach dem Unerklärbaren in einer rationalen, fortschrittsgläubigen Welt.
Gut, wenn man soweit kommt, das Unerklärbare erklären zu können, dann ist damit die Entmystifizierung eingetreten, und die Magie wird zum normalen Wissenschaftszweig.

Es ist aber keineswegs so, dass historische Epochen wie Renaissance und Aufklärung ewig nachwirken. Ein paar hundert Jahre später kann das alles vergessen sein.

Aber was ich wegen der staatlichen Kontrolle sagen wollte: Nehmen wir an, eine Person hätte magische Fähigkeiten, könnte durch Wände gehen, sich unsichtbar machen, die Schlagbolzen von Maschinenpistolen festklemmen, telepathisch (= abhörsicher) kommunizieren usw.. Einem totalitären Staat wäre eine solche Person hochgradig unangenehm, denn sie wäre nicht zu kontrollieren. Der Staat würde diese Person kriminalisieren, sie zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit erklären, die Bevölkerung aufhetzen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln jagen. 

HauntingWitch

Wow, die Diskussion ist gerade total spannend. ;D

Eine sehr gute Darstellung des Umgangs mit Magie von Seiten Gesellschaft und Politik kommt in den X-Men-Filmen vor, finde ich. Die einen akzeptieren die "Magischen" (in diesem Fall Mutanten), die anderen halten sie für eine Bedrohung, wieder andere verstehen es einfach nicht und noch einmal andere benutzen und instrumentalisieren sie. Derweil mischen die Mutanten sich selbst in die Diskussion ein, wiederum mit ihren unterschiedlichen Ansichten über die Menschen und wie mit ihnen umzugehen ist.

Ein Szenario, wie Denamio es beschreibt, dass Magie wissenschaftlich so sehr zerlegt wird, bis sie normal wird, wäre mit sehr viel Zeit verbunden, denke ich. Das Genre geht ja von unserer heutigen Gesellschaft, wie sie ist, aus. Wenn nun also heute ein magisches Wesen entdeckt würde, denke ich, würde man es vermutlich erst einmal gefangen nehmen und erforschen wollen (sofern die anderen Punkte, die schon genannt wurden, wegfallen). Erst nach eingehenden Analysen und neuen Definitionen wird man es als eine Normalität akzeptieren und entsprechend in Gesetzestexte, amtliche Prozesse etc. integrieren. Eine Welt, in der diese Normalität bereits eingetroffen ist, wäre ja schon wieder eine zukünftige und greift somit  in die Sci-Fi über.

Oder man erschafft eine komplett eigene Welt, dann ist es aber nicht mehr Contemporary, sondern High Fantasy. ;) Ich lese zurzeit gerade "Die Greifen Saga I" von C.M. Spoerri, das spielt in einer Welt, in der magische Begabungen normal und erwünscht sind und eher die nicht-magischen Leute diskriminiert werden. Habe aber erst angefangen, stütze mich also nur auf einen eingeschränkten Eindruck des Buches. Es ist aber eine eigene Welt und nicht unsere.

Stichwort Diskriminierung, das wäre auch noch ein interessanter Punkt. Angenommen, man entdeckt die Magie bzw. die magischen Wesen jetzt heute und es gibt keine Panik, keine grösseren politischen Eindämmungsmassnahmen und keine Möglichkeit, es zu verbergen. Würde es den Wesen z.B. in Deutschland so ergehen, wie es Menschen mit Migrationshintergrund geht oder wäre das noch einmal etwas anderes? So etwas wäre aber vermutlich dann auch wieder 1-2 Generationen später denkbar, also schon wieder Zukunftsmusik.

Eine andere Überlegung ist, was wäre, wenn die magischen Wesen tatsächlich die Kontrolle über unsere Welt übernehmen würden? Weil sie in der Überzahl sind, weil sie in Politik und wichtigen gesellschaftlichen Positionen ihre Leute haben und die Menschen sozusagen "unterwandern" oder wie auch immer, sie es anstellen. Wie würden sie wohl über uns denken? ;-)

Etwas, das ich selbst sehr oft verwende, weil mich das einfach fasziniert, ist die Vorstellung, dass die magischen Wesen gar nichts von ihrer Magie wissen und sich für gewöhnliche Menschen halten. Das schweift aber jetzt etwas ab, denn da geht es immer mehr um Einzelschicksale und die eigene Reaktion des jeweiligen Charakters auf die Offenbarung. Wäre da noch interessant, Reaktionen von Freunden etc. zu erforschen.

Maubel

Zitat von: Denamio am 18. Februar 2016, 12:05:55
Na, auch demystifizierte Magie kann für Leser und Autor faszinierend sein. Das wirkt dann wunderbar durch die exotische Fremde der Welt. Meine Argumentation bezieht sich ja mehr auf den Blick der einzelnen Charaktere in der betreffenden Welt. In deinem zweiten Beispiel, würde ein nicht-magischer Arbeiter wirklich noch staunen, wenn ein Eismagier arbeitet - oder wärs für ihn alltäglich? Ich finde für den Charakter wäre es alltäglich, nicht aber für den Leser/Autor weil diese im Bezugssystem der heutigen Welt stecken.

Es ist für ihn tatsächlich alltäglich. Niemand reißt die Augen auf, wenn der Kühlschrank dank Magie wieder läuft. Genauso normal ist es, dass Charaktere Illusionsmagie auflegen wie Make-up - manche eben mehr als andere. Was für Staunen sorg,t sind eben ganz besondere Anwendungen, die eben vergleichbar sind mit hohen Leistungen, z.B. Sportweltmeister. Auch unter den Kühlschrank wartenden Eismagiern gibt es schnellere und langsamere und solche, die gleich mal einen Gefrierfach ohne Abgrenzung einbauen.

Also ja, in der Welt, in der Magie alltäglich ist, ist die Anwendung dieser kein Wunder.


Loki

Obwohl die Diskussion schon länger im Sande verlaufen zu sein scheint möchte ich zu den extrem umfangreichen Kommentaren noch anmerken, dass in einem Buch, das heute spielt, die momentane Gier/wirtschaftliche Nutzung von allen Ressourcen etwas zu kurz kommt. Es wurde ja zwischendurch schon angeschnitten - Vielleicht würden alle, sogar die Regierungen beide Augen zu drücken aber irgendwelche Organisationen würden versuchen alles magische irgendwie zu Geld zu machen. Ein eher wackeliges Beispiel dazu sind die X-Men und Deadpool. Wie sich das im Einzelnen entwickeln würde kann sich jeder selber vorstellen denke ich ;D Nur als kleiner Nachtrag  :engel:

Soly

Da würde ich mich Loki gleich mal anschließen und auch noch etwas nachtragen.

Vielleicht habe ich beim Überfliegen was übersehen, aber ich habe das Gefühl, die Diskussion dreht sich hauptsächlich darum, was passiert, wenn das Übernatürliche/Magische/Mystische in unserer Menschenwelt bekannt und alltäglich wird. Die Antworten sind Eingliederung, Integration, Ablehnung, Realitätsverweigerung, Hass, etc... alles klar, müssen wir nicht weiter darüber reden.

Ich möchte allerdings einwerfen, dass wir in der Urban Fantasy ja davon ausgehen, dass das Übernatürliche existiert, genauso wie alles, was wir in unserer Realität als normal betrachten. In unseren Welten sind Vampire, Werwölfe, Geister und Magier keine umstrittenen Spukgestalten, sondern harte Fakten. Es gibt sie, denn wir beschreiben deren Geschichten.
Ergo entstehen sie nicht einfach so in die normale Welt hinein, sondern werden von uns in eine Welt hineingeschrieben, in der sie schon immer fester Bestandteil waren.

Deshalb jetzt mein großes rhetorisches Fragezeichen:
Warum gehen wir davon aus, dass die Menschen im Status Quo nichts vom Übernatürlichen wissen? Wir diskutieren über "Coming-Outs" und Hexenjagden und die Angst vor dem Unbekannten, aber übernatürliche Wesen, die in den von uns erschaffenen Welten schon immer existiert haben, sind nichts Übernatürliches. Sie sind für die in dieser Welt lebenden Menschen ebenso alltäglich und schon immer da wie Vögel und Wildschweine und Elefanten.
Die andere Möglichkeit wäre, dass die übernatürlichen Wesen sich mit Absicht versteckt haben und deshalb nicht bekannt sind. Dann stellt sich aber die Frage: Warum offenbaren sie sich jetzt doch plötzlich?

Das ist so ein generelles Problem von mir, wenn es um Urban Fantasy geht. Vielleicht gibt es von den erfahreneren Autoren hier ein paar Antworten darauf? Ich würde mich freuen.
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Zit

Wenn wir unsere Welt als Maßstab heran ziehen, dann würde ich auf deinen Einwurf generell mit "Postmoderne" antworten. Für uns gibt es nichts Neues unter der Sonne, alles war schon da, wir sind sicher, noch in diesem Jahrhundert in der absoluten Katastrophe zu enden und für Märchen und Träume sind wir längst zu desillusioniert. (Es gibt vielleicht Einzelne, die noch etwas zu blauäugig sind oder die sich gerade wegen der Desillusion in das Romantische flüchten.) Ich denke, wir sind uns dazu auch einig, dass wir in einer Welt der Wissenschaft leben, was mich zu deiner Frage führt: Wir kennen die Geschichten, aber halten sie nicht für real. Es sind Märchen, keine Tatsachenberichte. Wenn du jemandem erzählst, du bist ein Vampir und kannst tagsüber nicht raus, dann werden viele dich für verrückt halten, manche juckt es nicht und sie lassen dich einfach leben, andere werden dir nahe legen, dir Hilfe zu holen. Und natürlich wird es trotzdem einige Romantiker geben, die dir nur zu gern glauben wollen. Ob sie dann tatsächlich daran glauben oder ob sie dein Spiel mitspielen wie es LARPer tun (alle wissen, es ist nicht real – für die Zeit des LARPs sind sich aber alle einig, es als real anzunehmen), sei dahingestellt.
Ich denke, dass es für Welten wie unserer keine generelle Verhaltensweise gibt, weil ziemlich viele Menschen ziemlich viele Ansichten dazu haben. Es gibt ja auch weiterhin Zeitgenossen, die die Wissenschaft für Ammenmärchen halten und lieber an anderen Vorstellungen festhalten. Wobei ich letztlich schon denke, dass der Standartfall in der Urban Fantasy der ist, dass Übernatürliches für ein Märchen gehalten wird und der Held/ die Heldin anfangs erst von der Existenz überzeugt werden muss. (Hängt vielleicht auch mit der Heldenreise zusammen: Könnte der Plotpunkt "Verweigerung des Rufs zum Abenteuer" sein.)

Edit

Zu dem Punkt "Warum erst jetzt?" noch: Warum sollten sie sich nicht schon zuvor offenbart haben? Weiß mans? Wenn wir wieder bei unserer Welt bleiben, dann kann man ja schön in der Geschichte sehen, was mit Hexen passiert ist. Wenn wir unsere Welt für geld- und machtgeil halten, dann wäre ich doch ziemlich doof, meiner Konkurrenz zu verraten, dass ich eine Hexe habe, die meinen Superbestseller braut. So fortschrittlich wir in einigen Bereichen sind, so hinterwäldlerisch sind andere Gegenden. Wenn sich Hexen generell offenbaren würden, würde das ziemlich viel Chaos verursachen.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Aphelion

@Solmorn

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze dazu.

Bei der einen Variante schaffst du eine Welt, die fast so ist wie unsere. Du kannst dann natürlich von der Prämisse ausgehen, dass Magie etwas ganz Normales ist.

Die andere Variante nimmt sich eine Welt zum Vorbild, die genau so ist wie unsere - jedenfalls an der Oberfläche. Dahinter steckt oft das Gedankenspiel: Was wäre, wenn Menschen, die an XYZ glauben (und dafür ausgelacht werden), doch Recht haben?

In dem Fall wären die Menschen eben nicht an das Übernatürliche gewöhnt, weil sie es ja nicht als Teil der Realität akzeptieren oder nichts von verborgenen Vorgängen wissen. :) "Men in Black" wurde hier ja schon als Beispiel genannt; der Film geht sehr humoristisch damit um.

Beide Varianten sind möglich. Man unterscheidet zwar zwischen High Fantasy und Low Fantasy, aber dabei handelt es sich nicht um zwei Stufen, sondern um ein Spektrum. Du kannst deine Welt mehr oder weniger fantastisch gestalten.

Mit Erfahrung, Wissen oder Können hat das aber nichts zu tun - es ist deine Entscheidung, deine Welt und deine Geschichte. :)

Peftrako

Wie bereits Maubel etwas früher geschrieben hat, sehe ich die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung.

Auf der einen Seite die "normale" Bevölkerung, deren Glaubensspektrum von "alles" bis "nichts" reichen wird. Die einen glauben fest an das Übernatürliche und haben dies auch schon vor dessen Offenbarung getan. Die anderen glauben nicht daran und werden im Extremfall auch offensichtlich Übernatürliches mit rationalen Mitteln zu erklären versuchen.

Auf der anderen Seite "die Offiziellen": Politik, Verwaltung und Staat. Es gilt, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Wie geht man mit jemandem um, der sich magisch aus jedem Gefängnis befreien kann? Welche Straftaten müssen in ein Strafgesetzbuch aufgenommen werden, die nur durch Übernatürliches begangen werden können und sich nicht mit den üblichen Gesetzen vereinbaren lassen? Welche Einschränkungen gelten hinsichtlich der Nutzung des Übernatürlichen?

Neben dem persönlich Aspekt, der die Betrachtung eines Einzeln betrifft und dem politischen Aspekt, der den Umgang des Staates/der Verwaltung mit dem Übernatürlichen betrifft, sehe ich auch eine soziale Komponente.

Personen mit übernatürlichen Fähigkeiten stellen vermutlich eine Minderheit dar, deren Ausgrenzung nur eine Frage der Zeit ist. Schilder an Läden mit "nur für nicht-Magier" oder an Fußballstadien "nur für nicht Telekineten" sind denkbar oder gar wahrscheinlich. Darf ein Telepath Polizist werden und bei Verhören mit seiner Fähigkeit das Aussageverweigerungsrecht umgehen?

Eine perfekt durchdachte Welt ist meines Erachtens sehr schwierig umzusetzen, da jeder einzelne noch so kleine Aspekt berücksichtigt werden müsste. Eine plötzliche Offenbarung des Unnatürlichen ("Buh! Ich kann zaubern und so ganz nebenbei bemerkt: ich bin nicht alleine") dürfte im Chaos enden und vermutlich nicht selten im Untergang der Minderheit, wenn diese nicht mächtig genug ist, um sich zu erwehren. Eine schleichende Offenbarung bietet die Zeit zur Anpassung der Gesellschaft an die neue Sachlage und scheint meines Erachtens die beste Lösung (siehe auch Beitrag Maubel).
Phantasie ist eine gläserne Blume. Sanft zu berühren, zerbrechlich und filigran. Durchsichtig kaum wahrnehmbar für die einen. Strahlend schön in schillernden Farben für die anderen. Je nach Licht, in welchem sie betrachtet wird.

Churke

Zitat von: Solmorn am 26. Juli 2017, 11:12:43
Ich möchte allerdings einwerfen, dass wir in der Urban Fantasy ja davon ausgehen, dass das Übernatürliche existiert, genauso wie alles, was wir in unserer Realität als normal betrachten.

Urban Fantasy ist kein Gedankenexperiment, dafür gibt es historische Vorbilder. Darum habe ich oben auch ein Zaubereigesetz aus dem Codex Theodosianus zitiert.
Für die Menschen vergangener Epochen waren Magie und übernatürliche Wesen so real wie für uns Terroristen. Sie waren überall, schlugen jederzeit zu und gaben sich nie zu erkennen.
Wie konnten sich die Menschen das einbilden, wenn es nicht existierte?
Und, mehr noch, wie konnte es, unabhängig vom Bildungsstand, auch schon damals Menschen geben, die das Übernatürliche für Aberglauben hielten?
Das zeigt, dass "Realität" eine subjektive Angelegenheit ist.
Man kann nicht einfach sagen: "Wenn es Dämonen gäbe, dann hätten wir das gemerkt".

Trippelschritt

Die Hexen hat man verbrannt. Und damit war das Problem weitgehend gelöst. Könnte man meinen. Aber diese Lösung hatte auch eine günstige Voraussetzung. Es gab eine gewaltige Gegenmacht. Die römische Kirche mit der scharfen Waffe der Inquisition.
Als Autor und Weltenbauer bin ich für die Randbedingungen der jeweiligen Welt ebenso verantwortlich wie für die dort ablaufenden Prozesse. Es wird das geschehen, was der Autor sagt, dass es geschieht. Er muss nur dafür sorgen, dass es plausibel erscheint. Und das ist einfach, weil er Herr über alle Faktoren ist.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Soly

Zitat von: Churke am 26. Juli 2017, 13:53:48
Urban Fantasy ist kein Gedankenexperiment, dafür gibt es historische Vorbilder.

Na ja... doch. Zumindest in meinem Verständnis.

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Übernatürlichen in unserer eigenen Welt und der Welt der Fantasy-Geschichte ist doch der zwischen Wirklichkeit und Wahrheit. Du sagst, dass Realität etwas Subjektives ist - genau das ist mein Punkt (abgesehen davon, dass Realität als Begriff schon die Objektivität in sich trägt; subjektiv ist die Wirklichkeit).

Nehmen wir das populäre Beispiel Werwölfe. Für dich und mich sind sie die Handlungsträger unzähliger Geschichten, Legenden, Sagen etc., wir haben aber noch nie einen gesehen. Wir können nicht wissen, ob es sie tatsächlich gibt, genauso wie wir nicht wissen können, dass es sie explizit nicht gibt. Wir können höchstens daran glauben und innere Gewissheit haben, aber wir wissen nicht, ob Werwölfe existieren. Werwölfe gehören also zu unserer subjektiven Wirklichkeit - wir glauben an ihre Existenz oder eben nicht.
Wenn ich ein Urban-Fantasy-Buch lese, dann lerne ich darin werwölfische Perspektivträger kennen, die mit der "normalen Menschheit" interagieren. Ich verfolge ihre Handlungen und Gedanken und ihre Interaktion mit den Menschen. Innerhalb der Geschichte, also in dieser Welt zwischen den Buchdeckeln, sind sie mit absoluter Sicherheit vorhanden, ob der einzelne Mensch an sie glaubt oder nicht. Ihre Existenz ist objektive Wahrheit und damit Realität.
Was zur Frage führt: Wie kann etwas objektiv Reales, dessen Existenz nicht von Glauben und subjektiven Vorstellungen des individuellen Betrachters zusammenhängt, gleichzeitig etwas Übernatürliches sein?

Zitat von: Churke am 26. Juli 2017, 13:53:48
Man kann nicht einfach sagen: "Wenn es Dämonen gäbe, dann hätten wir das gemerkt".

Nein, kann man nicht.
Wir sehen die Welt um uns herum mit ihren Geschehnissen, die am Ende irgendwelcher Kausalketten hängen (in denen durchaus auch übernatürlicher Glieder sein können). Wir als Teil unserer Wirklichkeit sehen: "Das ist passiert. Es gibt verschiedene Erklärungen dafür. Es könnte ein Zeichen für das Wirken eines Dämons sein. Vielleicht existieren Dämonen, vielleicht nicht."
In der Welt der UF-Geschichte ist es andersherum. Da heißt es: "Das ist der Dämon. Er ist 6375,846 Jahre alt und heißt Larry. Das hat er gemacht und das ist dabei rausgekommen."
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Denamio

Nicht umsonst wird Urban Fantasy häufig im Kontext mit der Postmoderne gesetzt, häufiger noch als Science Fiction und Fantasy selbst. Das Fehlen einer objektiven Wahrheit ist einer der Eckpfeiler dieser Philosophie. An ihrer statt treten eine beliebige Anzahl subjektiver Wahrheiten, von denen manche dominanter sind als andere, aber nicht zwangsläufig wahrer.

Sobald Menschen davon überzeugt sind, ja es gibt Werwölfe, ab da verändern die Werwölfe das soziale Gefüge. Da ist es unerheblich ob es sie wirklich gibt oder nicht, das Resultat ist identisch.

Immortal

Ich habe ja im NaNo 2015 selbst an einem Urban Fantasy Roman geschrieben.

Dabei habe ich es tatsächlich so gemacht, dass die fünf Fraktionen (Menschen, Engel, Hexen, Vampire, Werwölfe) schon immer zusammenleben, ja einen eigenen Senat haben, an dem alle Regierungen zusammenkommen. So haben Menschen und Engel im Mittelalter besonders eng zusammen gearbeitet, während Hexen damals die erklärten Feinde waren. Werwölfe leben bei mir am Rand der Gesellschaft, sind zumeist ziemlich kriminell (aber nicht alle), weshalb von vielen einfach alle Werwölfe das Stigmata kriminell verpasst bekommen, einfach nur weil sie ein Werwolf sind. Vampire sind bei mir kulturell sehr interessiert und Hexen mischen ziemlich groß in der Weltwirtschaft mit. Engel halten sich aus allem ziemlich zurück, die sind mehr mit dem Gottproblem beschäftigt, aber zum Beispiel auch gläubig und besuchen gerne Kirchen.
Ich habe durchaus Parallelgesellschaften, es gibt Vampirbars, Werwolfclubs etc., aber es ist nicht verboten als Mensch dorthin zu gehen, man muss eben nur die Kultur mögen.

So, lange Rede kurzer Sinn. Ich bin dieser Diskussion komplett aus dem Weg gegangen, in dem es in meiner Welt schon immer alles gab. Genauso gibt es auch niedere Wesen wie Gargoyles, Ghule, Geister... Und dafür gibt es eben gewissen Jäger bei den Menschen, da sie nicht so viele Fähigkeiten wie die anderen besitzen.  :)

Prinzipiell kommt es glaube ich immer auf den Typ Mensch an. Es gibt ja wirklich Menschen, die an Geister etc. glauben und sich da vielleicht einfacher tun, weil sie esoterisch angehaucht sind. Es kommt denke ich auch immer darauf an, seit wann es das erste "Auftreten" dieses Übernatürlichem gab.
Zahme Vögel träumen von der Freiheit, wilde fliegen.

Churke

Zitat von: Solmorn am 26. Juli 2017, 14:44:50
Was zur Frage führt: Wie kann etwas objektiv Reales, dessen Existenz nicht von Glauben und subjektiven Vorstellungen des individuellen Betrachters zusammenhängt, gleichzeitig etwas Übernatürliches sein?
Unvollständige Information.
Unser Bild der Wirklichkeit besteht nur zu einem Bruchteil aus selbst Erlebtem oder Erkanntem.
Beispiel: Wir halten die Kugelgestalt der Erde für eine Tatsache. Aber wie viele Menschen sind dazu in der Lage, den Beweis zu führen? Für uns ist die Kugelgestalt Realität, weil wir denen vertrauen, die es uns sagen. Aber was, wenn die Vertrauensleute erzählen, dass die Erde eine Scheibe ist?
Die Scheibe wird zur wissenschaftlich anerkannten Tatsache.  ;D Und wenn sie das erst einmal ist, spielt es auch keine Rolle mehr, wenn jemand den Erdumfang berechnen kann. Man wird den Spinner auslachen.  :pfanne:

Wenn wir etwas nicht selbst erlebt haben - und auch da können wir uns täuschen - richten wir uns nach der Glaubwürdigkeit der Information, und diese richtet sich überwiegend nach der Vertrauenswürdigkeit der Quelle. Den Vampir in der Bild-Zeitung werten wir als Ente, den Vampir in der Tagesschau als sensationelle Entdeckung.
Und wenn sich die UNO mit Vampirrechten befasst, dann gehen wir vielleicht sogar dafür (oder dagegen) auf die Straße.
Aber was ist, wenn die Tagesschau Fake News verbreitet hat?

Noch weitreichender ist das Unterdrücken wahrer Informationen. Was wäre, wenn Vampire existiertet, aber die Tagesschau beschlossen hätte, nicht darüber zu berichten? Einem Menschen, der einen Vampir gesehen hätte, würde man nicht glauben, weshalb der Augenzeuge es klugerweise auch verschweigen würde.
Das sind natürliche gruppendynamische Prozesse. Wenn alle Nazis sind, sind wir auch Nazi. Wenn alle gegen Nazis sind, wir auch gegen Nazis.  ::)

Realitätsmanagement und Spin Doctoring sind wiederkehrende Themen in meinen Geschichten.  ;)