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Muss jedes Buch eine "gute" Moral haben?

Begonnen von Artemis, 27. März 2007, 20:02:19

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Tintenweberin

#60
Zitat von: Kisara am 01. Juni 2012, 19:22:22
Und was ist, wenn wir über Selbstverteidigung sprechen? Ist es verwerflich dem Schlägertypen in der U-Bahn Pfefferspray oder eben Deo in die Augen zu sprühen um zu entkommen, unbedacht ob der davon blind werden kann? Oder ist es falsch denselben Schläger selbst anzugreifen, um ihn von dem Renter wegzukriegen, den er grade zusammen tritt?

Das ist vermutlich nicht der richtige Ort um über dieses Thema zu diskutieren, und es geht ja auch nicht darum, was ein Mensch tun könnte oder nicht. Wir sind uns vermutlich darüber einig, dass fast jeder Mensch in der passenden emotionalen "Gemengelage" einen anderen Menschen schwer verletzen oder sogar töten könnte. Was einen emotional und charakterlich hinreichend stabilen Menschen von einem Verbrecher oder einem Psychopaten unterscheidet, ist die Fähigkeit zu Scham und Reue.

Du bist noch sehr jung, Kisara, und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du niemals in eine Situation gerätst, in der das Adrenalin für dich das Denken übernimmt und du anschließend feststellen musst, dass du im "Vollrausch" ein fühlendes Wesen zu Schaden gebracht hast.

Meine Protagonisten geraten auch gelegentlich in Situationen, in denen ihnen die Gäule durchgehen, aber sie sind darauf nicht stolz. Bis jetzt haben noch alle unsere Geschichten ein versönliches Ende gefunden, das keineswegs gekünstelt oder aufgesetzt wirkt. Auch unsere Heldinnen und Helden sind an diesen unspektakulären, kleinen Siegen noch immer ein Stück gewachsen ...   ;)

Kisara


Vermutlich liegt meine radikale Einstellung an meiner Jugend, das will ich gar nicht leugnen. Aber es stimmt schon, das ist nicht der richtige Ort.

Mein Punkt ist eben einfach der, dass ich mir mehr Büche "ohne Moral" wünschen würde, aber ich glaube, die Verlage würden sie nicht haben wollen.
Von daher stellt sich hier wohl eher die Frage "Will ich veröffentlichen oder meinen Kopf durchsetzen?" Mit Moral hat man es bestimmt leichter einen Verlag und auch eine Fangemeinde zu finden. :hmmm:

Tintenweberin

Zitat von: Kisara am 01. Juni 2012, 20:03:58
Mein Punkt ist eben einfach der, dass ich mir mehr Bücher "ohne Moral" wünschen würde, aber ich glaube, die Verlage würden sie nicht haben wollen.

Das glaube ich nicht. Ich habe aufgehört DSA zu spielen, weil mir die Abenteuer rund um die Borbarath-Kampagne zu blutrünstig waren. Ich habe auch die Elfensaga von Herrn Hennen bei Seite gelegt, weil der Krieg zwischen den Trollen und Elfen immer widerwärtiger wurde. Einer meiner Schüler kam einmal ganz stolz mit einem dicken Wälzer über die Orks aus der selben Welt zu mir. Ich schlug das Buch an irgendeiner Stelle auf und stolperte in eine Szene, in der zwei Menschenbabys waidgerecht ausgenommen und küchenfertig zubereitet wurden. Ein paar Seiten weiter bahnte sich bereits ein Lustmord an ...   :-X

Ich fürchte, fiktionale Unmoral steht umso höher im Kurs je lauter wir im echten Leben nach dem Rundumsicherheitspaket für ein bequemes, gelingendes Leben schreien ...   :P

Alana

#63
Hm, aber Brutalität bedeutet ja nicht, dass das Buch keine Moral hat.

Allerdings stimme ich dir zu, ich finde die ausufernde Brutalität, die in Büchern immer mehr wird, beängstigend und sie ist mit ein Grund, warum ich kaum noch Erwachsenen-Fantasy lese und warum ich mir solche Serien wie Dexter nicht anschauen kann. Folter bleibt Folter, egal wer sie ausübt und aus welchem Grund.

Und noch zur Ausgangsfrage: Ich glaube auch, dass es wichtiger ist, dass das Buch eine Frage beantwortet, dass man mit dem Prota mitleiden und seine Handlungen nachvollziehen kann. Dann braucht es auch den erhobenen Zeigefinger nicht. Allerdings glaube ich, dass es selten gelingt, ein Buch ganz ohne Moral am Ende zu schreiben, wenn man dem Leser ein zufriedenstellendes Ende bieten möchte.
Alhambrana

FeeamPC

Ich weiß nicht, wie weit man das ausleben/ausschreiben soll... Brutalität kann manchmal schon mit wenigen Worten geschickt angedeutet werden und muss keineswegs in epischer Ausführlichkeit auf den Seiten stehen.
Was die unmoralischen Helden angeht- aus ihrer eigenen Sicht haben sie meistens eine Moral, auch wenn sie nach unseren Maßstäben eher minimalistisch ausfällt. Manchmal ist es eben so, dass die Guten nur etwas weniger böse sind als die Bösen und alle Beteiligten ihre guten Gründe haben.
Das wäre dann Kimi noir oder Dark Fantasy oder dergleichen.
Uns es gibt genügend Leser für diesen Stoff.

canis lupus niger

Weichgespülte und porentief reine Helden finde ich ebenso langweillig und un-lesenswert, wie die meisten anderen hier.

Deshalb habe ich für einen meiner Protagonisten eine ganz andere Lösung gefunden. Er ist ein zutiefst moralischer Mensch und trotzdem kämpft und tötet er, wenn er das für das geringere Übel hält. Das tut er auch notfalls ohne nachzudenken; manchmal musste er dann hinterher feststellen, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hat. Trotzdem steht er zu seiner Entscheidung und würde in einer entsprechenden Zwangslage wieder schnell und kompromisslos handeln. Ein guter Mensch ist er deswegen also nicht, zumindest sieht er selber sich nicht so.

In einem anderen (angefangenen) Projekt entsteht eine akute Kriegsgefahr. Menschen glauben, aufrüsten zu müssen, es kommt zu Verbrechen, Hinterhalten, Gefechten, Morden, alles im Namen der jeweils eigenen, gerechten Sache. Ein Drache rettet einen (menschlichen) Freund aus einem Hinterhalt und verhindert dessen Verschleppung. Dazu muss er die Wegelagerer töten. Hinterher begräbt er deren Leichen ebenso wie die der von ihnen ermordeten Freunde des Geretteten. Auf dessen Vorhaltungen erwidert er, dass sie vernunftbegabte Wesen waren, deren Tod er sehr bedauert.

Ich finde, Moral kann man auch in einem modernen Roman lesenswert verarbeiten, wenn die Geschichte sich glaubhaft damit auseinander setzt. Sie darf aber nicht die Rechtfertigung dafür sein, dass "der Held" alles darf und "der Böse" verachtenswert ist und deshalb vernichtet werden darf. Sie muss das Ergebnis eines Prozesses sein, dem die Charaktere der geschichte unterworfen sind, und jeder muss zu seinem eigenen Ergebnis kommen. Ob einer zum zynischen Mistkerl wird, zur Mutter Teresa oder irgend etwas dazwischen, das bleibt dem Autoren überlassen. Nur glaubhaft und nachvollziehbar muss es sein.

Was nützt die moralische Keule ("Dies ist richtig!", "Das ist falsch!")? In der realen Welt gibt es auch kein Schwarz-Weiß. Jeder muss ständig für sich Entscheidungen treffen, und sei es die mit dem Ergebnis "Was geht mich das an?" Ob diese Entscheidungen "richtig" oder "falsch" sind, ... wenn der Leser ein Urteil darüber fällt, hat man ihn doch schon zum Nachdenken (und moralischen Werten) gebracht. Das ist (für die Moral ;)) viel effizienter als zu sagen: "Dies ist ein Guter, deshalb gewinnt er an Ende auch. Verhalte Dich wie er und dann wird für Dich am Ende auch alles gut." Heilige haben schon in den Zeiten nicht als Vorbilder funktioniert, als die Menschen noch an sie geglaubt haben, und zwar gerade deswegen, weil sie Heilige waren.