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Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten

Begonnen von Rhagrim, 19. Oktober 2023, 14:26:25

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SebMeissner

Danke für die spannende Diskussion. Ich möchte zwei Sachen ergänzen.

Die Hinweise darauf, die hier angeführten Theorien und Experten wissenschaftlich zu hinterfragen, finde ich sehr gut. Ich habe aber Bauchschmerzen dabei, andere psychologische Theorien und Definitionen danebenzustellen, als wären diese besser. Ein erheblicher Teil unserer Grundlagen oder Störungsbilder basiert auf (konkurrierenden) Arbeitshypothesen oder dem aktuellen Konsens, der in der nächsten ICD aber bestimmt schon wieder treffender hinterlegt wird. Bei strikter Orientierung an der Falsifizierbarkeit von Theorien müssten wir in diesem Fachgebiet vieles zurückweisen, was akzeptierte Praxis ist. Psychologie ist oft eine Annäherung an Phänomene und eine skeptische Überprüfung unseres Verständnisses und unserer Messkriterien ist einfach immer angezeigt. Praktisches Beispiel: Die Methodik, mit der die von Araluen angeführte suggestive Diagnostik im deutschen Fallbeispiel aufgedeckt wurde, ist ebenfalls umstritten.

Bezüglich der Grenzen der menschlichen Beeinflussbarkeit durch "Gehirnwäsche": Es ist für jeden von uns klar, dass Kinder mit unterschiedlichen Sprachen und Anschauungen aufwachsen. Es gibt Kindersoldaten und Kinderarbeit. Selbstverständlich ist es möglich, Kinder mit strukturierten Indoktrinationen (und vielleicht Gewalt) in unterschiedlichste Weltanschauungen zu versetzen. In wie fern diese Anschauungen Bestand haben, wenn diese Kinder anderen Einflüssen ausgesetzt sind, ist individuell verschieden, aber in Kombination mit Isolation, Gruppendynamiken und Zwang geht eine Menge. Das gleiche gilt für vulnerable Jugendliche und Erwachsene, Stichwort Menschenhandel.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04Wenn es diese weitreichende, systematische und mächtige Verschwörung wirklich geben würde, dann müsste es mehr Hinweise darauf geben.
Das denke ich auch.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 19:51:43Es gibt zum Beispiel bei ritueller Gewalt durch Satanisten keine handfesten Hinweise darauf, dass so etwas existiert.
Du meinst jetzt wieder die organisierte, weltweite Variante, oder? Denn die Form der Gewalt existiert definitiv. Ich habe auch selbst schon mit einzelnen Tätern gearbeitet, meist vor einem Hintergrund von Wahnvorstellungen und Substanzmissbrauch.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04Ebenso ist es zwar möglich, dass Personen sich nicht mehr an den Missbrauch erinnern, aber es erscheint abwegig, dass sich alle von ihnen erst im Rahmen einer Therapie wieder daran erinnern.
Therapien überreizen häufig die mentalen Strategien, die Menschen von sich aus gegen negative Gefühle oder Erinnerungen entwickelt haben, und dann kommt es regelmäßig zu intensiven Gefühlen, gerade auch negativen. Solche Gefühle können Erinnerungen aufwühlen, die ähnlich konnotiert sind, z.B. Gewalterfahrungen. Hinzu kommen Menschen, denen solche Erinnerungen suggeriert worden sind, Therapeuten, die suggestiv arbeiten, und ideologische Interpretationen (wie z.B. religiöse Therapeuten, die BDSM-Schilderungen als Satanismus auslegen).
Missbrauchsopfer erinnern sich aber nicht nur in der Therapie, sondern z.B. in späteren sexuellen Situationen oder wenn sie eigene Kinder haben.

Mondfräulein

Zitat von: SebMeissner am 24. November 2023, 18:28:04Ein erheblicher Teil unserer Grundlagen oder Störungsbilder basiert auf (konkurrierenden) Arbeitshypothesen oder dem aktuellen Konsens, der in der nächsten ICD aber bestimmt schon wieder treffender hinterlegt wird. Bei strikter Orientierung an der Falsifizierbarkeit von Theorien müssten wir in diesem Fachgebiet vieles zurückweisen, was akzeptierte Praxis ist.

Das stimmt absolut. Aber in den Theorien selbst findet man häufig schon Anhaltspunkte, ob sie wissenschaftlich Hand und Fuß haben. Wichtig ist, dass eine Theorie überhaupt falsifizierbar ist. Freuds Ödipuskomplex ist es zum Beispiel nicht. Wenn ein Junge kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat, dann deutet das auf einen Ödipuskomplex hin. Wenn ein Junge ein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat, dann kompensiert er seinen Ödipuskomplex und das deutet ebenso auf einen Ödipuskomplex hin. Die Theorie ist nicht widerlegbar, weil es für jede mögliche Ausprägung eine Erklärung gibt. Ich kann nicht belegen, dass kein Ödipuskomplex vorliegt.

Gerade in der klinischen Psychologie hat sich in den letzten Jahren auch viel getan. Die ICD 11 hat im Vergleich zur ICD 10  einige grundlegende Neuerungen eingeführt. Die ICD 12 wird wahrscheinlich wieder einiges umwerfen. Aber wie du schon sagst, Psychologie ist eine Annäherung.  Wir wissen nie etwas ganz genau, sondern versuchen, möglichst dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu entsprechen. Vielleicht klassifizieren wir psychische Störungen in 50 Jahren vollkommen anders als jetzt.

Das Problem dabei ist, dass diese Unbeständigkeit der Wissenschaft häufig nicht sehr vertrauenserweckend wirkt. Epistemische Überzeugungen durchlaufen nach einigen Modellen Entwicklungen vom Laien zum Experten. In der Wissenschaft wissen wir nie etwas wirklich sicher, wir nähern uns an, überwerfen alte Theorien, treffen Annahmen. Diese Verständnis von Wissen als immerwährender Prozess des Erfahrens und Entdeckens ist etwas, mit dem Wissenschaftler*innen vertraut sind, das aber nicht der Vorstellung der meisten Laien davon entspricht, wie Wissen und Wissenschaft funktionieren. Deshalb wirkt echte Wissenschaft oft weniger vertrauenserweckend als falsche Annahmen, die aber sehr überzeugend daherkommen, weil sie die klaren Aussagen treffen, die man in der Wissenschaft oft vermeidet. "Alle Menschen lassen sich in 16 Persönlichkeitstypen einteilen, mit diesem Test kann ich dir sagen, was für ein Typ du bist" klingt vertrauenserweckender als "dieser Test ist gut belegt und ich kann dir sagen, wie hoch dein Neurotizismus-Wert über oder unter dem Durchschnitt liegt, aber Selbstauskünfte sind sowieso keine objektive Messmethode, es gibt noch einige andere Persönlichkeitsmodelle und ich kann dir sagen, was das Ergebnis eventuell bedeuten könnte, aber nichts davon muss auf dich zutreffen".

Zitat von: SebMeissner am 24. November 2023, 18:28:04Du meinst jetzt wieder die organisierte, weltweite Variante, oder? Denn die Form der Gewalt existiert definitiv. Ich habe auch selbst schon mit einzelnen Tätern gearbeitet, meist vor einem Hintergrund von Wahnvorstellungen und Substanzmissbrauch.

Genau. Missbrauch existiert definitiv in den unterschiedlichsten Formen. Was ich wie viele andere auch anzweifle, ist die Existenz eines weltweit organisierten Netzwerkes satanischer Kulte, die systematisch Kinder missbrauchen und ihre Erinnerungen dann gezielt löschen, um sie dann durch bestimmte Codewörter im Erwachsenenalter wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Ich kann nur empfehlen, sich noch einmal mit Satanic Panic zu befassen. Es gibt wenig Hinweise darauf, dass diese Bedrohung real ist, aber sehr viele Hinweise darauf, dass sie es nicht ist. Viel davon fußt leider auf Therapeut*innen, die mit unsauberen Methoden gearbeitet haben. Viele einschlägige Berichte aus den 80ern zum Beispiel erwiesen sich später nachweislich als falsch.