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Alles zur Perspektive

Begonnen von Lastalda, 01. Januar 1970, 01:00:00

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Paka

*kicher* Ja, das mit den Zetteln war unglaublich. 🤣
Gerade eine Liste von acht der am häufigsten aus US-Bibliotheken verbannten Bücher gesehen. Fünf davon stehen in meinem Regal. 👍🏻😇

Fluide

#541
Hallo miteinander,

am Ende steht für mich bei der Perspektive - aber auch anderen Faktoren im Schreiben - immer die Frage: Funktioniert es? Wenn es funktioniert, dann: Super!

Wenn es nicht funktioniert, finde ich es hilfreich, zu verstehen: Warum funktioniert es nicht? Was ich nicht hilfreich finde, sind Kommentare wie: Das macht/darf man so nicht, ist ein handwerklicher Fehler, verletzt irgendwelche Konventionen/Regeln etc.   

Ich habe lange am Er-Erzähler rumgeknabbert (und knabbere immer noch) und der Unterscheidung in personal und auktorial. Nach und nach lüftet es sich ein bisschen, aber ich finde die Begrifflichkeiten nach wie vor schwierig. Wenn ich lese: auktorial mit personalen Einschüben oder personal mit auktorialen Einschüben, dann kriege ich jedes Mal einen Knoten im Kopf. Oder jemand hat auch mal geschrieben: Da wechselt dann der Erzähler, von einem personalen zu einem auktorialen ... zB für einen Absatz über das Wetter oder irgendwelche Infos oder so ... Auch da krieg ich einen Knoten im Kopf, mitten drin wechselt für einen Absatz der Erzähler? Da finde ich das Bild von der Krähe (liebe @Paka, deine Artikel haben mir gut gefallen) viel besser, die mal hoch oben fliegt und mal nicht.

Es gibt eine Internetseite auf der literaturtheoretische Grundbegriffe erklärt werden, die ich sehr hilfreich fand: http://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/dertextalssprachlicheszeichensystemdiscours.html
Dort wird unterschieden in: Wer spricht? und: Wer nimmt wahr? Und ich finde interessant, dass es auf dieser Webseite den Begriff "personale Perspektive/Erzähler" nicht gibt und auktorial "Nullfokalisierung" bedeutet (also Wahrnehmungsinstanz ist nicht an eine Figur gebunden, liegt außerhalb der Geschichte). Dort steht auch, dass bei den meisten Texten eine variable Fokalisierung vorliegt (also schaut Pakas Krähe von oben = Nullfokalisierung, sitzt die Krähe bei jemandem auf der Schulter = internale Fokalisierung). Ich sortiere das für mich mittlerweile so, dass es eher eine auktoriale Perspektive ist, wenn es jemanden gibt, der außerhalb der perspektivtragenden Figur etwas bewertet (nämlich der Erzähler), während eine personale Perspektive "nur" die Bewertungen der perspektivtragenden Figur weitergibt.

Ich würde zB auch sagen, dass eine Ich-Erzählerin, die etwas aus der Vergangenheit berichtet und einsortiert und bewertet usw eher eine auktoriale Perspektive hat, weil sie viel weiß, viel mehr als die Figur zu der Zeit des Geschehens und andere Bewertungen mit reinbringen kann als die Figur (sie selbst) zu jener Zeit. Zb Damals war ich jung und naiv und ich ging in das Restaurant, offen und neugierig, wer mich dort erwarten würde.
Sie kann auch über die Vergangenheit berichteten und sich weniger mit eigenen Kommentaren etc einmischen, das würde ich dann eher als personal bezeichnen. zB Ich ging ins Restaurant, war neugierig, wer mich dort erwarten würde.
Oder aber auch eine Ich-Erzählerin im Präsens, das ist dann absolut personal, weil sie natürlich über die Situation und wohin sie sich entwickeln wird, nicht mehr weiß als die Leser:innen.

Ein anderen Artikel über personal vs. auktorial, den ich hilfreich fand, ist dieser hier: http://editorial.ie/head-hopping/
Darin wird sehr schön deutlich, dass aus einer auktorialen Perspektive heraus, durchaus das Innenleben verschiedener Personen beschrieben werden kann und es "funktioniert", dass aber in eher personalen Perspektiven es dann einfach auch Spannung rausnimmt, weil alles so übererklärt wird. Besser ihr lest es selbst.

Und falls es noch jemanden interessiert, poste ich hier mal meine Aufzeichnungen entsprechend der li-go.de Website, wobei eher Punkt 2 und 3 interessant sind (Modus und Stimme), ich aber der Vollständigkeit halber auch die Infos zur Zeit eingefügt habe. Bei mehr Details bitte auf der Website schauen (hoffe, das ist ok, diese ZUsammenfassung mit Angabe des Links hier zu posten).

Discours – Wie wird erzählt, welche Mittel werden verwendet

    1. Zeit = Erzählzeit im Discours
        1. Ordnung: Hält sich der Discours an die Ordnung der Ereignisse?
            1. Einhalten der Ordnung: A B C
            2. Prolepse: A C B – Ereignis wird berichtet, bevor es passiert
            3. Analepse: B A C – Ereignis wird später berichtet, als es passiert
        2. Tempo:
            1. Zeitdeckendes Erzählen: zB Szene
            2. Zeitdehnendes Erzählen: zB Pause, Dehnung
            3. Zeitraffendes Erzählen: zB Raffung/Zusammenfassung, Ellipse
        3. Frequenz:
            1. Singulativ
            2. Iterativ
            3. repetitiv
    2. Modus = Grad an Mittelbarkeit und Perspektivierung
        1. Distanz: Skala von unmittelbar/szenisch bis mittelbar/narrativ
            1. Unmittelbar: kein erkennbarer Erzähler, keine Reflexionen, Kommentare etc. = show
            2. Mittelbar: starke Erzählerpräsenz mit Reflexionen, Kommentaren etc. = tell
        2. Fokalisierung – wer nimmt wahr? Nur selten liegt einheitliche F. über gesamten Text vor, normalerweise variabel mit dominanter Strategie
            1. Nullfokalisierung: ,,auktorial", Wahrnehmung an keine Figur gebunden, der Erzähler weiß mehr als die Figur
            2. Interne Fokalisierung: Wahrnehmung an Figur gebunden, Erzähler weiß so viel wie Figur; fixiert = bleibt an eine Figur gebunden, variabel = wechselt zwischen Figuren
            3. Externe Fokalisierung: Wahrnehmung an keine Figur gebunden, geht aber vom Inneren der erzählten Welt aus, Erzähler weiß weniger als Figur
    3. Stimme = Wer spricht bzw. erzählt?
        1. (fiktiver) Zeitpunkt des Erzählens:
            1. Früheres Erzählen – Ereignisse werden erzählt, bevor sie sich ereignen
            2. Gleichzeitiges Erzählen – Ereignisse werden erzählt, während sie passieren
            3. Späteres Erzählen – Ereignisse werden erzählt, nachdem sie passiert sind
            4. Eingeschobenes Erzählen – Ereignis noch nicht abgeschlossen, gleichzeitiges und späteres Erzählen durchmischen sich
        2. Ebenen des Erzählens – primär, sekundär, tertiär ...
        3. Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehen
            1. Homodiegetischer Erzähler = Teil der erzählten Welt (Hauptfigur, Nebenfigur, beteiligter Beobachter, unbeteiligter Beobachter)
            2. Heterodiegetischer Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt
 

Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Rotkehlchen

Mir geht es im Moment sehr ähnlich, @Fluide. Ich knabbere auch am personellen Erzähler. Ich habe mir auch die Beispiele, die du gepostet hast, durchgelesen. Das ist für mich recht eindeutig. Trotzdem tun sich bei mir noch Unsicherheiten auf.
Ich verstehe z.B. noch nicht, was mit "Fokalierung" gemeint ist. Vielleicht kannst du das nochmal mit deinen Worten erklären, Fluide?

Wenn ich deinen Beitrag und den von @Paka ein bisschen zusammenfasse:

Die meisten Fiktionen der heutigen Zeit werden aus der Sicht eines personellen Erzählers geschrieben.
Das empfindet der Leser als harmonisch, weil er diese Erzählweise gewohnt ist. Nah am Protagonisten zu sein und sich mit ihm identifizieren zu können, empfindet man als spannend.
Diese Nähe kann aber sowohl durch die personelle als auch durch die autoriale  Erzählerform vermittelt werden.

Oftmals ist es nicht immer möglich, den personellen vom auktorialen Erzähler zu unterscheiden, je nachdem in welcher Erzähldistanz der auktoriale Erzähler erzählt.

So ist es z.B. möglich, als auktorialer Erzähler zu beginnen (quasi aus der Vogelperspektive) und im Laufe der Geschichte näher an die Figur heranzuzoomen (sich dann quasi wie ein Vogel auf die Schulter des Protagonisten zu setzen).

Ich sollte mich aber beim Schreiben eines Romans auf eine Erzählform festlegen. So verstehe ich das.

Meine Frage:
Wenn ich jetzt meine Geschichte z.B. auktorial beginne und im Laufe eines Kapitels an eine Figur heranzoome, quasi dann aus ihrem Blickwinkel das Geschehen schildere ("personale Erzählform mit auktorialen einschüben", wie Paka es vorhin erwähnte), muss dann in den darauffolgenden Kapiteln immer ersichtlich werden, dass es sich um einen auktorialen Erzähler handelt?

Oder kann ich dann in den darauffolgenden Kapiteln die Erzähldistanz direkt so wählen, als wenn es ein personaler Erzähler wäre? (Also quasi auktorial, aber ohne vorher aus der Distanz sichtbar "heranzuzoomen"?)

Ich bin mir sicher, dass das den Lesern so ziemlich egal ist, solange es sich flüssig liest. Vielen Lesern wird der Unterschied nicht geläufig sein oder sie achten nicht darauf.
Mir stellt sich nur die Frage, wie es ist, wenn ein Lektor das Ganze liest.
,,Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge."
Kurt Marti

Fluide

Hey @Rotkehlchen, tut mir leid, dass ich erst jetzt zum Antworten komme, du hattest ja noch explizit eine Frage gestellt, da will ich dir natürlich so gut ich kann, drauf antworten. Alles unter Vorbehalt, ich übe ja selbst noch, ja?

Also, so wie ich Fokalisierung verstehe, ist eben die Frage: wer nimmt wahr?

Bsp, ein (schnell aus der Luft gegriffener) Anfang einer Geschichte:
ZitatEs war still. Kein Mensch war zu hören, kein Vogel, kein Surren, kein Rauschen, kein Plätschern. Alles was war, war Stille.
Hier ist ja erst mal unklar, wer die Stille wahrnimmt. Man könnte jetzt fortführen und klarstellen, wer wahrnimmt, zB
ZitatSie sah sich um.
Ok, eine "sie" nimmt die Stille wahr, für mich ist jetzt an dieser Stelle klar, das wird wohl die Prota sein und ich erwarte eine personale Perspektive und alles was beschrieben wird, ist wohl das, was die Prota wahrnimmt = interne Fokalisierung, weil die Wahrnehmung einer Person aus der Geschichte beschrieben wird.
Bei:
ZitatMarissa sah sich um.
Durch das Einfügen des Namens ändert sich für mich etwas, für dich auch? Ich zB würde immer das unbestimmte "sie" bevorzugen, als das bestimmte "Marissa". Für mich deutet der Name zb auch eher auf eine:n auktoriale:n Erzähler:in hin, aber vielleicht bin das nur ich, die das so liest. Auf jeden Fall könnte dies weiterhin auktorial erzählt werden, während es mir beim "Sie sah sich um" schwer fällt, dass auktorial weiterzudenken.
Also Zb:
ZitatMarissa sah sich um. Sie stand mitten im Park und war allein. Sie wusste nicht was passiert war, sie hatte nur kurz die Augen geschlossen und ihr Gesicht in die wärmenden Strahlen der ersten Frühlingssonne gehalten.
Für mich ist immer noch nicht ganz klar, wer hier eigentlich erzählt (auktorial oder personal), aber klar ist schon, dass Marissa hier wahrnimmt. Ich tendiere eher dazu, dass auktorial zu lesen, auktorial aber als quasi gebunden an (oder auf der Schulter von) Marissa. Für mich würde es sich natürlich anfühlen und nicht nach einem Bruch der Perspektive, wenn es so weiterginge:
ZitatZu diesem Zeitpunkt wusste Marissa noch nicht, was passiert war und dass sie in diesem Moment die einzige Person, ja das einzige Lebenwesen auf der Erde war. In diesem Moment stand einfach nur da und sah sich um, sah, dass sie allein war. Die Stille hatte sie noch gar nicht bemerkt.
Jetzt ist klar, dass es eine auktoriale Perspektive ist, dass die Erzählerin mehr weiß als die Figur. Und es ist auch klar, dass die Stille im ersten Satz nicht von Marissa wahrgenommen wird, sondern von der Erzählerin, die selbst nicht zur Geschichte gehört = Nullfokalisierung.

Am meisten Probleme habe ich mit der externen Fokalisierung. Die verstehe ich auch nur so halb. Ich glaube, dass ist so eine Art neutraler Erzähler oder sowas wie eine Kameraperspektive.
Bsp:
ZitatMonika sitzt auf dem Sofa, ihr Blick ist auf den Fernseher geheftet. An der Wand sitzt eine Fliege. Als das Telefon klingelt, fliegt sie davon. Monika steht auf und geht zum Telefonapparat im Flur.
So würde ich mir das vorstellen, weiß es aber nicht genau. Es ist nicht ganz klar, wer hier eigentlich wahrnimmt. Oder? Was meinst du?

Zitat von: Rotkehlchen am 17. Mai 2023, 19:19:25Die meisten Fiktionen der heutigen Zeit werden aus der Sicht eines personellen Erzählers geschrieben.
Das empfindet der Leser als harmonisch, weil er diese Erzählweise gewohnt ist. Nah am Protagonisten zu sein und sich mit ihm identifizieren zu können, empfindet man als spannend.
Diese Nähe kann aber sowohl durch die personelle als auch durch die autoriale  Erzählerform vermittelt werden.
Gewohnheit spielt sicher eine Rolle, wobei es ja auch - gerade in den verschiedenen Künsten - darum geht, das Gewohnte zu brechen und dass das dann für Leute auch spannend ist. Also Gewohnheit ist natürlich auch mitunter langweilig, und ich denke, die meisten mögen es auch, überrascht zu werden, aber natürlich nur auf eine gute Art, und da wirds natürlich schwierig. Nah an den Protas zu sein, halte ich auch für wichtig, einfach weil es für mich persönlich beim Lesen wichtig ist. Und nah heißt nicht, dass ich die unbedingt sympathisch finden muss, aber ich will schon irgendwo andocken können und vor allem verstehen, warum sie tun, was sie tun.

Zitat von: Rotkehlchen am 17. Mai 2023, 19:19:25Wenn ich jetzt meine Geschichte z.B. auktorial beginne und im Laufe eines Kapitels an eine Figur heranzoome, quasi dann aus ihrem Blickwinkel das Geschehen schildere ("personale Erzählform mit auktorialen einschüben", wie Paka es vorhin erwähnte), muss dann in den darauffolgenden Kapiteln immer ersichtlich werden, dass es sich um einen auktorialen Erzähler handelt?
Ich würde immer sagen, die Erzählperspektive muss konsistent sein und zu deiner Frage würde ich sagen, du kannst auktorial starten, also im Sinne einer Nullfokalisierung und dann personal weitererzählen. Wo du - bei Fantasy und SF vielleicht noch mal mehr als in anderen Genres - aber vermutlich aufpassen musst, ist, deinen nullfokalisierten Anfang nicht als Infodump zu benutzen. Das mögen ja die meisten Leser auch nicht so, oder lass mal lieber von mir sprechen. Ich mag es auch lieber, wenn Geschichten und auch die Welten in denen sie spielen, sich langsam entblättern. Ich vermute, weiß es aber nicht, dass auch Lektoren eher schauen, ob es funktioniert, sich "gut liest", statt irgendwelche Regeln im Kopf zu haben. Aber die bleiben berufsbedingt wahrscheinlich schneller an etwas hängen bzw. werden schneller aus Texten rausgekegelt, wenn was nicht passt und können dann auch noch genau sagen, warum :-)
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Rotkehlchen

#544
Hallo @Fluide,
danke für deine Antwort und für die Beispiele. Mir wird immer mehr deutlich, dass es nicht immer möglich ist, zwischen der personellen und der auktorialen Erzählstimme zu unterscheiden (bzw. interne Fokalisierung, Nullfokalisierung).

Wo ich in deinem Beispiel nicht unbedingt zustimmen würde, ist dass der Satz
"Sie sah sich um." ein Hinweis für eine personellen Erzählstimme wäre und
"Marissa sah sich um." für eine auktiriale Erzählstimme wäre.

Für mich sind beide beide gleichwertig. Anders würde es aussehen, wenn da
"Das Mädchen sah sich um." stünde.

Wenn die Wahrnehmung aus Marissas Perspektive wäre, würde sie nicht von sich selbst als "ein Mädchen" denken / sprechen. In dem Fall wäre es nach meinem Empfinden ein Hinweis für einen auktorialen Erzähler.


Zu deinem anderen Beispiel:
"Monika sitzt auf dem Sofa, ihr Blick ist auf den Fernseher geheftet. An der Wand sitzt eine Fliege. Als das Telefon klingelt, fliegt sie davon. Monika steht auf und geht zum Telefonapparat im Flur."

Ich bin mit den Begriffen der Fokaliserung nicht so ganz fit, aber ich würde sagen, dass dieser Satz nicht eindeutig ist. Personell würde ich ausschließen, da Monika die Fliege nicht wahrnehmen würde, wenn sie gerade auf den Fernseher schaut. Es könnte aber auktorial ODER neutral sein.
Der auktoriale Erzähler ist wertend, hat eine eigene Persönlichkeit. Der neutrale würde keine eigenen Emotionen durchscheinen lassen.
Der Abschnitt ist zwar recht neutral geschrieben, aber vielleicht hat der auktoriale Erzähler (falls es einer wäre) im Moment ja keine eigenen Gedanken zu der Szene. Man müsste den Text weiterlesen, um herauszufinden, um welche Erzählperspektive es sich handelt.


Beim Infodumping gebe ich dir recht! Ich empfinde eine Geschichte als gelungen, wenn die Gedanken von Personen, ihre Charaktereigenschaften, die Welt dem Leser ganz allmälich offenbart wird. Das wäre wohl die wichtigste Regel beim Schreiben. "Show, don't tell!"

Ich mag das übrigens auch überhaupt nicht, wenn der Leser vom Autor wie ein kleines Kind an die Hand genommen wird, wenn es darum geht, sich ein Urteil von einem Figur zu bilden. Ich

(Gemäß dem Motto "Hey Leser! Du sollst jetzt denken, dass das ein böser Mensch ist!")
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Kurt Marti

Coppelia

#545
Die literaturwissenschaftlichen Fachbegriffe sind ja dafür geschaffen worden, Texte zu analysieren und zu beschreiben. Sie sagen nichts darüber aus, ob ein Text "gut", spannend u. ä. ist. Die Fachbegriffe sind meist schon älter und die analysierten Texte auch. Es gibt z. T. auch neuere Ansätze und Begriffe. Ich habe in dem Gebiet mal geforscht, bin jetzt aber seit 10 Jahren raus.

Auktoriale Erzählperspektive ist im Großen und Ganzen etwas, was sich in Unterhaltungsliteratur aktuell kaum noch findet. Vor ca. 50 Jahren war sie dagegen noch relativ üblich, davor weitgehend Standard. Der Grund dafür ist meiner Vermutung nach, dass Erzählperspektive die Möglichkeit schafft, mit Figuren mitzufiebern. Je "näher dran" die Perspektive ist, desto spannender, unterhaltsamer und besser verkäuflich ist die Geschichte. Das hat der Buchmarkt natürlich auch erkannt und bevorzugt Geschichten mit Figurenperspektive. Und der Trend setzt sich noch fort.

Und ja, die Perspektive kann sich innerhalb eines Absatzes u. ä. ändern. Ich persönlich versuche aber immer, grundsätzlich nah an der Figur dranzubleiben und "auktoriale" Passagen möglichst zu vermeiden. Zusammenfassungen lassen sich z. B. auch aus der Perspektive einer Figur erzählen.

Zum Thema Namen und Erzählperspektive: Aus der Sicht einer Figur würde sie sich bei dem Namen (und Pronomen) wahrnehmen, den/die sie mit sich verbindet. Wer dann sowas schreibt wie "Marissa versteckte sich im Schatten und hielt den Atem an. Das schwarze Haar der jungen Diebin hing unter ihrem roten Kopftuch hervor" geht auf Distanz zur Figur und nimmt den Lesenden die Chance zum Mitfiebern, da sich der Charakter nicht als "die junge Diebin" wahrnehmen würde (und natürlich in der Lage auch nicht über ihr Aussehen nachdenken würde). Manche Schreibende versuchen, durch solche Formulierungen die Wiederholung des Namens zu vermeiden, aber das ist in meinen Augen grundsätzlich keine gute Idee.

Siara

Zitat von: Coppelia am 01. Juni 2023, 07:37:30Zum Thema Namen und Erzählperspektive: Aus der Sicht einer Figur würde sie sich bei dem Namen (und Pronomen) wahrnehmen, den/die sie mit sich verbindet. Wer dann sowas schreibt wie "Marissa versteckte sich im Schatten und hielt den Atem an. Das schwarze Haar der jungen Diebin hing unter ihrem roten Kopftuch hervor" geht auf Distanz zur Figur und nimmt den Lesenden die Chance zum Mitfiebern, da sich der Charakter nicht als "die junge Diebin" wahrnehmen würde (und natürlich in der Lage auch nicht über ihr Aussehen nachdenken würde). Manche Schreibende versuchen, durch solche Formulierungen die Wiederholung des Namens zu vermeiden, aber das ist in meinen Augen grundsätzlich keine gute Idee.

Ich stimme dir zu, dass es Distanz schafft, würde hier aber nicht verallgemeinern, dass es schlecht ist. Es ändert den Stil und die Wirkung natürlich schon. Ich kenne einige Beispiele aus der High Fantasy, in denen diese Umschreibungen verwendet werden und gut funktionieren. Allerdings lässt sich dann diskutieren, ob es sich überhaupt noch um eine personale Erzählweise handelt - oder eher um eine auktoriale, die sich in diesem Kapitel/Absatz/Roman nur auf die Sicht einer Figur beschränkt. Oder der Charakter ist eben sehr dramatisch veranlagt und denkt gerne von sich als "die junge Diebin", etc. ;D
I'm going to stand outside. So if anyone asks, I'm outstanding.

Rotkehlchen

@Coppelia
Ich hatte auch davon gelesen, dass heutzutage es eher üblich ist, aus der personellen Perspektive zu erzählen.
Ich hab mir dann einfach einige Bücher aus dem Regal gegriffen und mal geschaut, wie andere berühmte Autoren das handhaben. Ich habe in "Harry Potter" 1, in "Artemis Fowl", in "Kelch und Schwert", in Kings "dunklen Turm" und in "der Schwarm" reingelesen und war doch sehr überrascht. Alle Autoren (von denen ich meine, dass sie ihr Handwerk verstehen, haben auktorial erzählt.

Ich hab zuvor gedacht, dass es bei moderneren Büchern eher die Ausnahme sei, so zu erzählen.
,,Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge."
Kurt Marti

Coppelia

#548
@Rotkehlchen So richtig neue Bücher sind das aber auch nicht mehr (ich glaube, ,,Der Schwarm" von 2009 ist das neuste). Die Bücher, die ich in der Kindheit gelesen habe, sind auch häufig auktorial erzählt, und das sind ja auch bekannte Klassiker.
Natürlich kann es auch jetzt hin und wieder noch vorkommen, dass Romane auktoriale Passagen haben, denke ich. Ich habe das aber in den letzten aktuellen VÖs, in die ich so reingeschaut habe, nur noch selten gefunden. Würde mich jetzt aber auch nicht wundern, gerade bei bekannten Autor*innen. Oder wenn es wirklich auf irgendeine Weise zum Gesamtkunstwerk Buch gehört.

Außerdem darf man auch nicht vergessen: Wer wirklich meisterhaft erzählt, kann mit den Perspektiven jonglieren und das Potenzial jeder einzelnen Erzählform nutzen. Dazu muss mensch aber genau wissen, was er/sie tut. Diese ,,die junge Diebin"-Formulierungen sind mir z. B. Sehr oft in Debütromanen aufgefallen, wo es ganz leicht wäre, sie beispielsweise durch ein Pronomen zu ersetzen und damit (in meinen Augen) den Text zu verbessern. Denn es ist dann offensichtlich, dass die Figur Perspektive haben soll. Da würde ich dann schon über die Formulierung nachdenken. Wenn ich es erzähltechnisch mit Stephen King aufnehmen kann, okay, das ist eine andere Sache. ;D 

Wie gesagt ändert sich die Erzählform oft im Laufe eines Romans und kann sich sogar innerhalb eines Absatzes ändern. Dass ein Roman nur eine einzige Art der Perspektive hat, ist auch so eine Sache, die in der Schule oft falsch vermittelt wird (weil es auch in Lehrbüchern oft falsch steht und auch die Lehrkräfte es nicht genauer wissen). Ich bin selbst damals mit dieser Ansicht an die Forschung rangegangen und war sehr überrascht, dass die Personen, die die Theorien und ihre Begriffe geprägt haben, viel differenzierter analysieren und ihre eigenen Werkzeuge anders anwenden, als wir es in der stark gekürzten Schul-Version lernen. Und im Studium scheine ich irgendwas anderes gemacht zu haben, jedenfalls nicht das! :rofl:

Edit: Sorry, ich hoffe, das klang nicht zu sehr nach Klugscheißen, bei dem Thema geht es manchmal etwas durch mit mir ...

Rotkehlchen

Ich verstehe! Vielen Dank! Da hab ich wieder einiges gelernt :)
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Kurt Marti

Fluide

#550
Zitat von: Rotkehlchen am 31. Mai 2023, 20:48:10Wo ich in deinem Beispiel nicht unbedingt zustimmen würde, ist dass der Satz
"Sie sah sich um." ein Hinweis für eine personellen Erzählstimme wäre und
"Marissa sah sich um." für eine auktiriale Erzählstimme wäre.

Für mich sind beide beide gleichwertig. Anders würde es aussehen, wenn da
"Das Mädchen sah sich um." stünde.
Ich glaube auch, dass ist eher aus der Perspektive _meines_ Schreibens. Ich würde in diesem Fall das Pronomen bevorzugen. Das Pronomen schließt für mich irgendwie die auktoriale Perspektive aus und ich würde leichter in die Perspektive finden. Aus Leserperspektive wäre ich beim Namen wohl nicht festgelegt und es wäre für mich, wie du schreibst, beides gleichwertig.

Zitat von: Rotkehlchen am 31. Mai 2023, 20:48:10Ich bin mit den Begriffen der Fokaliserung nicht so ganz fit, aber ich würde sagen, dass dieser Satz nicht eindeutig ist. Personell würde ich ausschließen, da Monika die Fliege nicht wahrnehmen würde, wenn sie gerade auf den Fernseher schaut. Es könnte aber auktorial ODER neutral sein.
Der auktoriale Erzähler ist wertend, hat eine eigene Persönlichkeit. Der neutrale würde keine eigenen Emotionen durchscheinen lassen.
Der Abschnitt ist zwar recht neutral geschrieben, aber vielleicht hat der auktoriale Erzähler (falls es einer wäre) im Moment ja keine eigenen Gedanken zu der Szene. Man müsste den Text weiterlesen, um herauszufinden, um welche Erzählperspektive es sich handelt.
Ja, klar. Wenn man weiterliest, ändert sich vielleicht was, aber so wie es da steht, würde ich sagen: externe Fokalisierung bzw. neutraler Erzähler, wobei ich ja noch nicht einmal sicher bin, ob ich das überhaupt richtig verstehe.  ;)

Zitat von: Coppelia am 01. Juni 2023, 07:37:30Die literaturwissenschaftlichen Fachbegriffe sind ja dafür geschaffen worden, Texte zu analysieren und zu beschreiben. Sie sagen nichts darüber aus, ob ein Text "gut", spannend u. ä. ist. Die Fachbegriffe sind meist schon älter und die analysierten Texte auch. Es gibt z. T. auch neuere Ansätze und Begriffe. Ich habe in dem Gebiet mal geforscht, bin jetzt aber seit 10 Jahren raus.
Das finde ich auch noch mal einen wichtigen Aspekt, dass die Begriffe selbst wertneutral und rein beschreibend sind. Magst du mal aus dem Nähkästchen plaudern, was neuere Ansätze und Begriffe sind? Oder was ich dazu lesen könnte? Ich finde zB die Systematisierung, die ich hier vom http://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/dererzaehltext.html gepostet habe, wesentlich hilfreicher als die Begriffe personaler und auktorialer Erzähler.


Zitat von: Coppelia am 01. Juni 2023, 07:37:30Auktoriale Erzählperspektive ist im Großen und Ganzen etwas, was sich in Unterhaltungsliteratur aktuell kaum noch findet. [...] Je "näher dran" die Perspektive ist, desto spannender, unterhaltsamer und besser verkäuflich ist die Geschichte. Das hat der Buchmarkt natürlich auch erkannt und bevorzugt Geschichten mit Figurenperspektive. Und der Trend setzt sich noch fort.
Und Figurenperspektive wäre dann ja, was man personalen Erzähler nennt, richtig? Ich glaube auch, dass viele Leser sich eigene Urteile bilden wollen, warum auktoriale Erzähler vielleicht zusätzlich aus der Mode sind. So wie du das schreibst, klingt das, und das würde ja auch total Sinn machen, dass Figurenperspektiven immer personal sind, aber würde das nicht auch bedeuten, dass sich @Paka s Krähe dann nicht auf eine Schulter setzen dürfte bzw. in dem Falle eben nicht mehr auktorial erzählen würde? Auktorial wäre von "oben", sowas wie: "Lisa war traurig", statt zu "zeigen", dass Lisa traurig ist (weil das ja personal wäre, oder nicht?). Ein rein personaler Erzähler ist durchgängig dicht dran an der Figur und verschwindet darum eigentlich für den Leser, sodass der Text sehr unmittelbar wirkt (wie ein Film eher), was viele Leser:innen mögen. Ich mag es aber auch gerne, wenn es einen Erzähler gibt, der nicht in der Denkweise oder Wahrnehmung des Protas "gefangen" ist. Weil ich das aber so schwierig finde, schreibe ich meistens aus der Ich-Perspektive, da hab ich alle diese Probleme nicht und ich kann als "Ich" über die Vergangenheit schreiben und bewerten und einordnen, wie ich will. Das kriege ich in der 3. Person nicht so hin, denke aber, das muss doch eigentlich möglich sein, auch wenn ich keine Ahnung habe, was für ein Erzähler (personal, auktorial) das dann wäre.


Zitat von: Siara am 01. Juni 2023, 09:36:43Ich stimme dir zu, dass es Distanz schafft, würde hier aber nicht verallgemeinern, dass es schlecht ist. Es ändert den Stil und die Wirkung natürlich schon.
Das finde ich sehr wichtig, dass es einfach verschiedene Leser:innen und Geschmäcker gibt. Und dass auch jemand, den überhaupt nicht stört, was einen vielleicht selber stört, nicht dumm oder weniger gebildet oder wat weiß ich ist. Manchmal gibt es so Leute, die meinen: so und so ist es richtig oder falsch. Das geht mir hart auf die Nerven. Klar gibt es Leitlinien oder Regeln und Ausnahmen, die diese Regeln bestätigen, aber meine Güte das sind halt auch keine Naturgesetze, die man nicht brechen darf, sondern Konventionen, die sich ändern können. Wichtig ist ja nicht die Regel an sich, sondern das Verständnis dafür, warum es sie gibt bzw. ihre Wirkweise.


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Coppelia

#551
@Fluide (Literaturwissenschaftsgelaber) ;D
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Bei kreativer Arbeit ist ja alles erlaubt und möglich. Das heißt natürlich nicht, dass egal ist, wie es gemacht ist. Es mag alles möglich sein, und es gibt sicher auch unzählige tolle, unterschiedliche Arten, einen Text zu schreiben, trotzdem ist halt nicht alles gleich sinnvoll.

Perspektive schreiben ist meiner Meinung nach Handwerk wie plotten oder Figuren charakterisieren. Dazu braucht es keine Schule/Studium, es lässt sich, wenn der Wunsch besteht, lernen. Zwar stört es viele Leser*innen nicht, falls handwerklich Luft nach oben bleibt, viele Romane sind ja auch trotz miesem Plot und flacher Figuren extrem erfolgreich, aber tendenziell schadet es einem Buch nicht, wenn das Handwerk beherrscht wird. ;D

ZitatIch mag es aber auch gerne, wenn es einen Erzähler gibt, der nicht in der Denkweise oder Wahrnehmung des Protas "gefangen" ist. Weil ich das aber so schwierig finde, schreibe ich meistens aus der Ich-Perspektive, da hab ich alle diese Probleme nicht und ich kann als "Ich" über die Vergangenheit schreiben und bewerten und einordnen, wie ich will. Das kriege ich in der 3. Person nicht so hin, denke aber, das muss doch eigentlich möglich sein, auch wenn ich keine Ahnung habe, was für ein Erzähler (personal, auktorial) das dann wäre.
Verstehe ich das richtig, dass in dem Fall die Figur quasi aus der Rückschau berichtet? Ja, es ist auf jeden Fall möglich, das auch zu machen. Du könntest für solche Stellen die Perspektive der Figur verlassen und den Erzähler sprechen lassen (früher normal, heute eher unüblich), oder auch einen Kniff anwenden wie z. B. Tagebucheinträge des späteren Figuren-Ich zur Kapiteleröffnung verwenden oder so. ;D

Eine Sache ist mir aus der Forschung besonders in Erinnerung: Perspektive ist mächtig, vielleicht eins der mächtigsten Werkzeuge, die wir beim Schreiben überhaupt haben. Im Großen und Ganzen entscheidet die Perspektive darüber, wer in einem Roman die Identifikationsfiguren sind und wer nicht, wer ,,recht hat" – nämlich die Figuren, die die meiste Perspektive haben. Perspektive bestimmt auch, welche Dinge, die in der fiktiven Welt passieren, überhaupt erzählt werden und welche nicht. Allein diese Auswahl bestimmt das Wesen und die Aussage eines Textes stark.
Und da hört es natürlich nicht auf. Wir haben die Möglichkeit, Stimmen sprechen zu lassen, die sonst nicht gehört werden, Gedanken und Lebensumstände sichtbar zu machen, die sonst nicht gesehen werden. Oder wir können, wer auch immer wir sind, was auch immer uns wichtig ist, durch die Geschichte, die Perspektive der Figuren, Raum geben. Da Perspektive die Denkweise der Leser*innen extrem beeinflusst, während sie das Buch lesen (und ggf., wenn gut gemacht, auch danach) können solche Geschichten tatsächlich die Welt verändern. Unter ungünstigen Umständen kann es aber auch passieren, dass eine Botschaft vermittelt wird, die nicht beabsichtigt ist. Meiner Ansicht nach kann mensch die Bedeutung von Perspektive und ihre Macht über die Lesenden daher gar nicht hoch genug einschätzen! Und daher finde ich es wichtig, sich mit dem Handwerk zu beschäftigen und wirklich zu verstehen, wie Perspektive funktioniert, was sie kann und wie. :)

Fluide

Cool, @Coppelia, danke für deine Antwort. Ich melde mich später noch mal ausführlicher, für jetzt nur hierzu:
ZitatDer Link auf li-Go.de führt bei mir leider nirgends hin. :hmmm:

Habe den Link in meinem Post korrigiert. Es ist http://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/dererzaehltext.html
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(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Yamuri

Ich denke allerdings wir können nicht verhindern, dass Menschen einen Text komplett anders wahrnehmen als wir das intendiert haben. Ja, Worte haben Macht - aber jeder Mensch hat basierend auf seiner persönlichen Geschichte eine völlig eigene Definition dieser Begriffe. Nur weil augenscheinlich der Begriff von allen verstanden wird, bedeutet das noch lange nicht, dass tatsächlich alle die den Begriff benutzen dasselbe darunter verstehen. Es ist ein Fehler zu denken, weil wir dieselbe Sprache sprechen, könnten wir einander verstehen. Tatsächlich ist das der Anfang der meisten Missverständnisse, dass wir davon ausgehen, dass Gefühle, die wir benennen sich für das Gegenüber genauso anfühlen, wie wir es empfinden.

Ich habe auch schon Texte auf eine Weise interpretiert, da haben andere nur groß geschaut. Oft sehe ich Dinge in Texten, die anderen einfach verborgen bleiben oder aber ich sehe die Dinge komplett anders. Aber nur weil ich eine bestimmte Botschaft in einem Text sehe, heißt das nicht, dass für andere da auch eine Botschaft ist. Es kann sogar sein, dass andere nur reine Unterhaltung wahrnehmen und gar keine Lehre daraus ziehen können, nichts von dem erkennen, was ich darin lese.

Aus Stephen Kings dunklem Turm z.B. ziehe ich unglaublich viel philosophisches Gedankengut, komplexe Erkenntnisse über das Universum selbst. Viele würden nichts weiter darin sehen als Unterhaltung. In Stephen King's ES hatte ich Mitleid mit Henry Bowers und seinen Freunden. Sie waren genauso Opfer, aber niemand hat es bemerkt und so konnten sie zu Tätern werden, weil es zugelassen wurde. Sie taten mir Leid, dass sie so enden mussten. Auch in einer koreanischen Krimiserie, die ich gerade sehe, denke ich mir gerade zu einer Antagonistin, dass die Protagonisten viel zu sehr damit beschäftigt waren ihnen nahestehenden Personen zu helfen, dass sie nicht gesehen haben, dass all das Leid nie geschehen wäre, wenn sie die stummen Schreie der Antagonistin wahrgenommen und ihr geholfen hätten. Ich sehe diese Dinge, wo andere nur einfach Antagonist vs Protagonist sehen. Mir fallen diese tiefgründigen Prozesse auf, die dazu führen, dass ein Mensch böse wird und ich sehe den Kipp-Punkt. Und sehe ich ihn, dann kann ich die Antagonisten nicht mehr als böse wahrnehmen, dann sehe ich die Protagonisten als nicht mehr gut und mitverantwortlich, weil sie ignorant waren und nicht sahen, wo sie hätten verhindern können, wenn sie einfach nur zugehört hätten, richtig zugehört.

Insofern denke ich, wir sollten uns selbst nicht überschätzen. Sobald wir ein Buch den Lesern geben, wird es unterschiedliche Interpretationen geben und wir können individuelle Interpretationen nicht verhindern und müssen das auch nicht. Aber das führt grade sehr weit weg von dem Thema Perspektive. Ich denke es gibt neben der Erzählperspektive auch die Perspektive der Lesenden und diese interpretiert die Perspektiven im Text auf ihre eigene individuelle Weise und egal wie gut das Handwerk ist, wir werden die Perspektive der lesenden Person damit nicht manipulieren können.
"Every great dream begins with a dreamer. Always remember, you have within you the strength, the patience, and the passion to reach for the stars to change the world."
- Harriet Tubman

Coppelia

#554
Danke für die Diskussion, ich finde die soooo interessaaaant! :wolke:  :vibes: Jetzt weiß ich wieder, wieso ich das Thema damals so gern mochte. ;D

@Yamuri
Du hast meiner Meinung nach auf jeden Fall recht damit, dass viele Faktoren dabei eine Rolle spielen, wie ein Text von der lesenden Person verstanden wird, und dass es dabei vorkommen kann (und auch völlig okay ist, naja, meistens) wenn ein Text nicht so verstanden wird wie ursprünglich mal intendiert oder die lesende Person mehr für sich mitnimmt, als drinsteckt (dazu fällt mir Kafka ein "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns"). Persönliche Erfahrungen, gesellschaftlicher Hintergrund, zeitliche Entfernung zum Text, Voreinstellung zum Text beim Lesen usw. machen viel aus.
Trotzdem bin ich persönlich fest davon überzeugt, dass durch Perspektive Einfluss darauf genommen werden kann, was Lesende aus dem Text mitnehmen, auch wenn es nicht immer (gleich, gleich gut) funktioniert.

Manipulation Lesender durch Texte (ein weiteres Ex-Forschungsthema von mir, sorry :rofl:) ist ja nichts Schlechtes an sich. Es gehört ja sogar ein bisschen dazu, dass sich die Lesenden auf das "Spiel" der Fiktion einlassen und das, was ihnen erzählt wird. Natürlich kann es sein, dass lesende Person und Text nicht gut zusammenpassen. Wenn z. B. die Manipulation offensichtlich, Gut und Böse klar verteilt sind u. ä., wird sich eine kritisch lesende Person davon wohl eher nicht so beeinflussen lassen. Aber gut gemachte Manipulation merkt mensch nicht. ;D
Witzig ist, dass ich vorhin den Absatz über das Identifikationspotential mit der antagonistischen Figur wieder gelöscht hatte, um nicht zu weit vom Thema abzukommen. Gerade anspruchsvollere Texte arbeiten ja viel damit, dass auch die antagonistische Figur Perspektive bekommt oder Hinweise im Text "versteckt" sind, die es zulassen, sich mit dieser Figur zu identifizieren. Gerade bei Stephen King, der ein meisterhafter Erzähler ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass die Identifikation mit den Antagonisten absichtlich möglich gemacht wird, gerade wenn jemand gründlicher liest und beim Lesen reflektiert. Macht diese mögliche Identifikation nicht einen Teil des Horrors aus? Dass wir die Beweggründe der "Bösen" verstehen und uns vorstellen könnten, selbst an ihrer Stelle zu sein? Dass sie uns leid tun, anstatt dass wir sie verabscheuen, wie es vielleicht angemessen wäre?

ZitatIch denke es gibt neben der Erzählperspektive auch die Perspektive der Lesenden und diese interpretiert die Perspektiven im Text auf ihre eigene individuelle Weise und egal wie gut das Handwerk ist, wir werden die Perspektive der lesenden Person damit nicht manipulieren können.
Das sehe ich anders. Ich denke, es ist die große Stärke (und Gefahr) von Büchern, dass sie genau das können. Wie gesagt, sicher nicht immer und bei allen Menschen, aber die Möglichkeit besteht. Wir können nicht ändern, wer eine Person ist, wenn sie anfängt, ein Buch zu lesen, aber zumindest potenziell ein kleines bisschen, wer sie ist, wenn sie das Buch schließt (Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Person dafür offen ist und dass wir unser Handwerk gut verstehen). Wenn Bücher das nicht könnten, würden sie nie den Horizont erweitern oder zum Nachdenken anregen. Wir könnten es uns schenken, Bücher in der Schule zu lesen. Ideologisch bedenkliche oder gefährliche Bücher könnten munter weiter konsumiert werden, weil sie dann ja keinen Schaden anrichten würden. Die Debatten über Diversität und Repräsentation in Büchern wären überflüssig usw.
Allerdings tendieren wir ja schon dazu, unsere bestehende Meinung bestätigen zu lassen, in unserer Echoblase zu bleiben und daher auch bevorzugt entsprechende Bücher zu wählen, insofern sind die Möglichkeiten von Literatur hier definitiv auch begrenzt - jedenfalls, wenn die Meinung und Weltsicht weitgehend unverrückbar feststehen.