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Plotten komplexer Romane

Begonnen von Coppelia, 21. Juli 2014, 13:10:38

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Churke

Zitat von: Coppelia am 24. Juli 2014, 09:11:08
Ein zentraler Kern und ein gemeinsames Ziel sind für mich unterschiedliche Dinge. Einen zentralen Kern habe ich, hoffe ich jedenfalls. Es geht um den im Zusammenbruch begriffenen Staat Kessel. Einige Personen wollen den Zusammenbruch verhindern, auf die eine oder andere Art. Andere haben für dieses Problem keinen Blick

Ich glaube nicht, dass man das erfolgreich trennen kann.
Staaten brechen nicht einfach von sich aus zusammen. Hinter solchen Prozessen stehen immer Menschen und ihre Ziele. Die Bürgerkriege in der Spätphase der römischen Republik z.B. waren eine Folge der sozialen Missstände. Es gab Leute (also nicht nur Männer  ;) ) die diese Missstände angehen wollten. Nur war das eine Kampfansage an die konservativen Senatoren, die ihre Macht und ihre Privilegien bedroht sahen. Betrachtet man die hierarchische Struktur und das dynastische Denken der Senatorenfamilien, wird ziemlich klar, was man in einem historischen Roman aus z.B. Lucius Opimus (der Gaius Gracchus beseitigen ließ) machen würde. Die Mentalität eines typischen römischen Sklavenhalters kann man bei Cato d.Ä. und Columella nachlesen. Für diese Leute war es nicht nur der Roman way of life, sondern auch einfach billiger, Latifundien mit Sklaven zu bewirtschaften und dem Lumpenproletariat ein paar Almosen zuzuwerfen.
Wahrscheinlich dachte Opimus nicht an die langfristigen Folgen dieser Politik, das tun solche Leute nie.
Wie würde ich Opimus' Charakterentwicklung anlegen? Wandlung vom neutralen Standeskollegen hin zum erbitterten Gegner der Gracchen. Die Gracchen wollen Rom zerstören!  Vielleicht glaubt er sogar selbst daran, weil er die res publica mit seinem Privatvermögen gleichsetzt. Er wurde später wegen Bestechlichkeit verbannt, war also anerkanntermaßen gut darin, an sich selbst zu denken.

Enorm schwierig ist bei solchen Plots, die Hintergründe darzustellen, ohne in Belehrungen zu verfallen. Es ist nun mal sehr ungeschickt, wenn Figur A in geschliffenen Monologen stets eine akkurate Analyse der politischen und sozioökonomischen Probleme abliefert, damit der Leser Bescheid weiß. Dabei zeigt gerade die heutige Zeit, wie schwierig es ist, in Politik und Wirtschaft zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Daraus lassen sich vom Autor Spannungsmomente kreieren. Der Autor weiß, weshalb ein Staat untergeht, aber er verrät es dem Leser nicht (oder erst am Schluss) und belässt es bei Andeutungen, legt den Pro- und Antagonisten widerstreitende Aussagen in den Mund.

Das sind alles Dinge, die in einen komplexen Plot eingearbeitet gehören.

Überhaupt sind katastrophale Fehleinschätzungen ein oftmals elementarer Bestandteil von Plots. Die Cäsarmörder glaubten, durch einen Tyrannenmord die Republik zu retten - und trugen sie dabei zu Grabe. Weitsichtigere Politiker hätten dafür gesorgt, dass Rom zur republikanischen Staatsform zurückkehrt, wenn Cäsar an Altersschwäche stirbt.

Als Autor muss man dann sowohl die Pläne der Cäsarmörder als auch die der Triumvirn völlig logisch klingen lassen, obwohl die Cäsarmörder absolut falsch liegen.

Coppelia

@ Anjana
Danke für deine Tipps! :)
Dinge wie den familiären Hintergrund des Prota müsste ich vorher plotten, das bräuchte ich, um seine Perspektive zu finden und könnte es schwer während des Schreibprozesses einweben. Aber andererseits ist es natürlich auch spannend, solche Dinge während des Schreibens erst herauszufinden.
Farbige Perspektiven ist eine super Sache. Früher habe ich das nicht gemacht, aber seit Scrivener stehe ich drauf. ;)

@ Churke
Ja, so, genau so! :wolke: So wünsche ich mir meinen Roman.
In einem Roman wird man allerdings wirtschaftliche, soziale und politische Hintergründe immer etwas vereinfacht darstellen wollen/müssen, allein, weil sich die tatsächliche Komplexität aller Zusammenhänge wohl gar nicht wirklich verstehen lässt. Oder in meinem Fall kommt noch dazu: In der Komplexität der realen Welt könnte ich mir natürlich keine fiktive Welt ausdenken.
Dazu kommt noch das "Problem", dass all diese Dinge nur den Hintergrund für die eigentliche Handlung bilden. In meinem Fall muss ich z. B. wissen, wie es kommt, dass das Volk mit der Regierung unzufrieden ist, warum sich eine demokratische Bewegung formiert, woher diese Gedanken stammen, aber das interessiert eigentlich nicht. Wichtiger sind die persönlichen Entwicklungen einzelner Leute, ihre Rolle im Geschehen, ihre Entscheidungen, die es beeinflussen (oder jedenfalls denken sie das), ihre Träume, Liebe, Hass, Rachsucht, Familie, Sex und Mord ... und daraus setzt sich dann die "eigentliche" Handlung zusammen.
Das mit den katastrophalen Fehleinschätzungen als plotrelevant unterschreibe ich mal so. Hoffe, es auch umsetzen zu können.
Danke für die Denkanstöße.

Churke

Ich vereinfache nicht die Welt, sondern ihre Darstellung. Man greift sich zentrale Punkte heraus, den Rest kann/soll sich der Leser denken. Das lässt die Welt komplexer wirken und man hat als Autor eine gewisse Flexibilität, hier noch Änderungen oder Ergänzungen einzufügen.

Zitat von: Coppelia am 24. Juli 2014, 16:54:18
In meinem Fall muss ich z. B. wissen, wie es kommt, dass das Volk mit der Regierung unzufrieden ist, warum sich eine demokratische Bewegung formiert, woher diese Gedanken stammen, aber das interessiert eigentlich nicht. Wichtiger sind die persönlichen Entwicklungen einzelner Leute, ihre Rolle im Geschehen, ihre Entscheidungen, die es beeinflussen (oder jedenfalls denken sie das), ihre Träume, Liebe, Hass, Rachsucht, Familie, Sex und Mord ...

Ich halte es für unrealistisch, dass der Denver Clan beim Smalltalk bleibt, wenn in der Ukraine Verkehrsflugzeuge abgeschossen werden. Man ist ja schließlich auch im Ölgeschäft...
Aber im Ernst: Politische Bewegungen entstehen in der Gesellschaft. Gerade wenn große Umbrüche ihre Schatten voraus werfen, muss dies m.E. Spuren bei den Figuren hinterlassen. Du sagst, es interessiere nicht, woher die demokratischen Gedanken stammten - ich meine: Derjenige, der sich für diese Gedanken begeistert, wird es interessieren. Und denjenigen, der diese Gedanken bekämpft, muss es interessieren.
Also, die Figuren müssen sich m.E. damit auseinandersetzen. Das hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit und Charakterdarstellung zu tun. Wenn es die Protagonisten interessiert, dann muss es auch den Leser interessieren - oder man hat ein ganz grundsätzliches Problem. 

FeeamPC

Am schönsten ist es immer, wenn sich Politik und Persönliches verbinden:
Senator A hat seit Jugendzeiten einen Hass auf Senator B, kann ihm aber nichts ans Zeug flicken. Da erfährt er, dass Senator B mit einem Freigelassenen C verkehrt, der gefährliche demoktatischen Reden schwingt, und den auch noch unterstützt. (Senator B macht das nicht aus Überzeugung, sondern weil er aufgrund irgend eines Vorfalls in der Vergangenheit C zu ewigem Dank verpflichtet ist (oder weil er mit einer Schwester von C liiert ist).
Senator A hat endlich seine Handhabe, Senator B landet ungewollt im demokratischen Lager und kämpft sich dort, machtgierig, wie er ist, an die Führungsspitze, und Freigelassener C ist total entsetzt darüber, was Senator B aus seinen eigendlich sozialen, friedvollen Theorien macht.
usw.

Churke

Fee, in dem Fall fände ich's interessanter, A und B zu Jugendfreunden zu machen, die sich aufgrund solcher Differenzen zerstreiten und zu Erzfeinden werden. Das lässt auch jede Menge Spielraum zur Charakerentwicklung, wenn sich der nette Junge von nebenan zum fiesen Antagonisten entwickelt.

Koboldkind

Ich hab meinen Lego-Palast falsch aufgebaut und dabei mal hier den Thread ausgegraben. *steht selbstgeißelnd auf den Steinchen beim graben*

Geht ein bisschen in eine ähnliche Richtung meine Sachlage derzeit, nur, dass ... ich schon 110k geschrieben habe, mit dem Ergebnis, dass das nicht ganz reicht.
Ursprünglich hatte ich eine Prota und eingestreut ein paar PoVs von Verbündeten, die in diesem Geflecht aus verschiedenen Fällen zusammenarbeiten, um das große Ganze am Ende zu bekämpfen. Da meine Prota aber eigentlich an ihrem Fall festhalten will, das bald nicht mehr zu machen ist und plötzlich zu viele Fälle bei den Privatdetektiven auf dem Tisch liegen, wäre alles ein bisschen zu viel geworden.

Also: Neue Protas müssen her. Zwei der Verbündeten habe ich schon, die auch recht zu Anfang mit ihrer Story einsteigen können und einen Teil des Fall-Geflechts früher im Blick haben als meine erste Prota, ich freue mich auch darauf, mit deren Verdächtigungen zu spielen und wie das ganze dann alsbald sich zusammenfügt ...
Nun, in der Theorie, aber ich arbeite wirklich nicht gerne am Plot, wenn ich schon drin bin. Aber gut, es bringt nichts, und wenn ich das jetzt nicht tue, werd ich es nie mehr anrühren, und die Story hat Potential!

Ich muss meinen Szenenplan also nochmal ganz neu umsetzen. Mal sehen, ob ich FlipChart-Papier dafür brauche, denn ich fürchte, dass ich zu viele Spalten brauche. Meine drei Protas, Zeit und Ort und ... eh, Konflikt? Freundin meinte, vielleicht könnte auch helfen, wenn ich in dem Szenenplan abstrakter schreibe, was ich nachvollziehen kann, denn meine bisherigen konkreten Beschreibungen überleben oft genug nie, und dann bin ich auch noch darüber traurig >.>
Ich hatte zwar schon Storys mit mehreren PoVs, aber da war mir das von Anfang an klar und hat sich auch organischer gefügt. Hier suche ich grade nach Sicherheit, daher so meine Fragen, ist euch das schon mal passiert? Was habt ihr alles in euren Szenenplan an Kategorien gepackt?
Wer jetzt nicht wahnsinnig wird, muss verrückt sein.

Waffelkuchen

@Koboldkind: Genau das Problem hatte ich bisher noch nicht, beim Überarbeiten eines Projekts entdecke ich aber gerade, dass sich zu viele Charaktere an verschiedenen Stellen wahllos die Perspektive "gekrallt" haben und ich jetzt entscheiden muss, welche Blickwinkel wirklich notwendig sind.
Zitat von: Koboldkind am 23. März 2020, 18:05:24Was habt ihr alles in euren Szenenplan an Kategorien gepackt?
Geklaut aus "Characters, Emotion & Viewpoint" von Nancy Kress: Was ist am Ende der Szene anders als zuvor und bringt das den Plot weiter? Das kann sich auf viel beziehen, nicht nur auf die reine Handlung: Ein Problem hat sich verkompliziert, für die Figuren hat sich eine neue Wahlmöglichkeit aufgetan, der Leser lernt eine neue Figur kennen, ein Interessenkonflikt wird aufgezeigt ... Gerade wenn die Geschichte droht aus dem Ruder zu laufen, finde ich das ganz hilfreich als Anhaltspunkt, ob die Szene überhaupt notwendig ist oder ich die Entwicklung vielleicht aus einer anderen Perspektive besser darstellen kann.

Noch ein paar Gedanken, die mir zu deinem Problem kamen, vielleicht ist ein Denkanstoß für dich dabei: Ist jeder der Fälle wirklich notwendig? Und wenn ja, muss davon alles ausagiert werden oder reicht es hier und da, dem Leser nur das Ergebnis zu präsentieren? Wo liegt der meiste "emotionale Sprengstoff" drin? Sind die Fälle unter den Perspektivträgern so aufgeteilt, dass das Ergebnis am Interessantesten ist?
Ich heb mein Glas und salutier dir, Universum / Dir ist ganz egal, ob und wer ich bin
Du bist ungerecht und deshalb voller Hoffnung / Ich setze alles, warte auf den Wind
Fremde - Max Herre, Sophie Hunger

Koboldkind

Zitat von: Waffelkuchen am 28. März 2020, 08:30:46
Noch ein paar Gedanken, die mir zu deinem Problem kamen, vielleicht ist ein Denkanstoß für dich dabei: Ist jeder der Fälle wirklich notwendig? Und wenn ja, muss davon alles ausagiert werden oder reicht es hier und da, dem Leser nur das Ergebnis zu präsentieren? Wo liegt der meiste "emotionale Sprengstoff" drin? Sind die Fälle unter den Perspektivträgern so aufgeteilt, dass das Ergebnis am Interessantesten ist?
Danke für die Anregungen. Ich denke mir auch, dass ich bei den PoVs nicht die gesamte Ermittlungsarbeit aufdröseln muss, die Teams sind auch ne Nummer größer und viele Infos können zugespielt werden, meine eine Prota muss nicht unbedingt in den Verlag für Recherchearbeit, wenn sie nicht selbst davon etwas hat (bzw. der Konflikt und der Plot).
Ich werde wohl erstmal streuen, was so überhaupt zum PoV und dessen Fall gehört und muss dann rumschieben, ob das da auch wirklich Sinn/Spannung macht und wie die Szene spannender wird. Noch etwas, das ich am Ende des Szenenplans anbringen muss.
Wer jetzt nicht wahnsinnig wird, muss verrückt sein.

zDatze

Also, ich plotte ganz gerne an meinen Projekten herum, und das eine und andere Projekt wird auch komplexer. Meist bleibt es auch nicht bei einem Einzelband, da meine Projekte gerne wie Hefeteig aufgehen. Hier auf jeden Fall einmal, wie ich an das alles herangehe:

Ich arbeite eigentlich immer mit der 7 Plot Point-Methode und erstelle die erst einmal für alle meine wichtigen Charaktere. Also, auch für meine Antagonist*innen, auch wenn sie keine direkte Erzähl-Perspektive haben. Das zeichnet dann schon einmal ganz gut ab, was passieren wird - nicht unbedingt wie und wann und wo.

Das mache ich dann im nächsten Schritt: Ich überlege mir welche Settings ich gerne verwenden möchte. Manchmal habe ich das direkt im Kopf, oft ist das aber auch sozusagen ein "blank space", da weiß ich meist nur, was passieren soll, nicht wie und wo. Natürlich muss jetzt nicht jede Szene eine coole und ungewöhnliche Kulisse haben, aber mir macht der Teil eigentlich auch sehr viel Spaß. Ich baue aber auch gerne an meiner Welt herum, das ist wohl einer meiner Ticks.

Wenn es dann darum geht, wie sich die einzelnen Plotstränge ineinander fügen ... tja, das lässt sich bei mir nur begrenzt planen. Es passiert mir durchaus öfter, dass meine Figuren anders abbiegen, als ich vorgesehen habe. Das macht es dann komplizierter. Das ist einer der Gründe, warum ich mit keinem Szenenplan arbeite. Es ändert sich einfach zu viel beim Schreiben.
Ich habe auch schon probiert in Kapiteln (enthalten dann mehrere Szenen, so 3-5k Wörter) zu planen. Das hat leider auch nicht so gut funktioniert. Daher behalte ich es meistens bei dem Gerüst von der Plot Point-Methode und kombiniere das eben mit den Settings. Dadurch ergibt sich für mich dann auch so etwas wie eine "mentale Landkarte", wo sich gerade welche meiner Figuren befindet und wie sich ihre Wege/Handlungen kreuzen oder ineinander spielen.
Ich schreibe aber auch meistens in einer Welt, die an das 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert angelehnt ist, da ist das mit dem zeitlichen Überschneidungen nicht ganz so eng, wie es vielleicht bei einem Gegenwarts-Setting ist.

Hoffe, das war verständlich und hilft dir vielleicht weiter, @Koboldkind . :)