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Fünf Eckpunkte in einem Text

Begonnen von Judith, 03. August 2007, 21:53:13

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Dorte

Ich habe den Eindruck, dass sich in diesem Thread ganz gewaltig Literaturwissenschaft, Autorenstrategien und Lesereindrücke vermischen und ich echt nicht mehr durchblicke, über was wir eigentlich reden. ;) Von daher klinke ich mich erstmal aus.

felis

Zitat von: Lomax am 10. August 2007, 10:02:10
 Ansonsten ist der HdR sogar leichter zugänglich, als manch modernes Werk. Denn es gibt tatsächlich Bücher mit mehreren gleichberechtigten Hauptfiguren - aber beim HdR gibt es eine klare hierarchische Struktur der Figuren. Zunächst einmal ist das Buch an sich eine Geschichte über die Reise des Rings zu seiner Zerstörung. Und Frodo ist die einzige Figur, deren Geschichte so ziemlich genau mit diesem zentralen Plot parallel läuft - er begleitet den Ring vom Anfang der Geschichte bis zum Ende; er hat vor dieser Reise nicht viel gemacht; und danach auch nicht mehr viel. Frodo ist also tatsächlich die eindeutig herausgehobene Hauptfigur.
Entschiedener Widespruch an dieser Stelle. Sam hat den Ring genauso lang begleitet - und noch wichtiger, Sam ist derjernige, der am Ende  (als Frodo, wie Du ganz richtig bemerkt hast, geschlagen ist) die Heldenrolle annimmt (einer von Sams zentralen Plotpunkten ;-)) und dafür sorgt, dass die Queste zu einem erfolgreichen Ende kommt.
Deswegen ist Sam für mich der zentrale Held der Geschichte und nicht Frodo.
Sams das lösen von der Gruppe kann man genauso gut als Sams plotpunt bezeichnen, er lädsst nämlicch frodo nicht alleine gehen - auch hier ist er der aktive und Frodo der, der Sams Entscheidung hinnimmt.
Sams auslösendes Moment zu finden, fand ich auch einfach. Es ist der Moment, wo Gandalf ihn beim Lauschen erwischt und mit auf die Reise schickt.


Lomax

Hallo felis,

vielen Dank. Ich dachte schon, jedes Gespräch über das Thema würde aus irgendwelchen Gründen in Grundsatzdiskussionen versinken. Aber hier ist doch eine schöne, konkrete Gegenthese, die man auch am Text verifizieren oder falsifizieren kann. Oder im Grunde genommen zwei Thesen:

1. Sam hat dieselben Wendepunkte wie Frodo
Nun, wenn "Sams Geschichte" sich auch nach einem solchen Schema gliedern lässt, wäre das Lauschen sein "Einstieg" in die Story. Da sehe ich auch erst mal keine Alternative. Also betrachte ich zunächst, was Sams Ist-Zustand bei Eintritt in die Story ist - seine Ziele, seine Beweggründe, seine Motivation. Soweit ich das im Kopf habe, war das Frodo: Er will wissen, in was Frodo da hineingeraten ist.
  Als Sam das Auenland verlässt, folgt er (wie die anderen Freunde) Frodo, weil sie alle Frodo nicht allein lassen wollen. In Bruchtal beschließt Sam, Frodo zu folgen. Bei der Trennung der Gruppe - folgt Sam Frodo. Der Pass ist noch der Punkt, der einem Wendepunkt auch für Sam am nächsten kommt: Sam nimmt den Ring an sich und beschließt, die Queste allein fortzuführen. Aber dann erfährt er, dass Frodo noch lebt - und folgt ihm. Ich würde das daher eher wieder als "starke Szene" einordnen denn als "Wendepunkt" der Figur - Sam zeigt, dass er auch anders könnte. Aber seine oberste Priorität, sein Ziel in der Geschichte, ist vorher wie nachher immer Frodo, niemals der Ring, "die Mission" oder sonst etwas.
  Und weil sich somit zwar die äußeren Umstände für Sam ändern - sein Aufenthaltsort, seine Gesellschaft, nicht aber seine innere Befindlichkeit und seine "Ausrichtung", denke ich nicht, dass an diesen Stellen für Sam genauso "Wendepunkte" vorliegen wie für Frodo.

2. Sam ist ein zumindest gleichberechtigter Protagonist neben Frodo
Diese deine 2. These ist von der hier diskutierten "5-Punkte-Struktur" völlig unabhängig. Immerhin gibt es kein Gesetz, dass jede Geschichte und ihr Protagonist diesem Schema folgen muss. Also könnte Sam immer noch ein gleichberechtiger Protagonist sein, selbst wenn man keine entsprechenden Wendepunkte für ihn finden kann. Das wäre dann allerdings eher eine Diskussion, die man unter einer eigenen Überschrift führen müsste.

Wenn man allerdings auch für Sam Plotpoints finden könnte, in denen entscheidende Umschwünge seines Charakters, neue Entscheidungen und neue Ziele von ihm mit ebenso entscheidenden Wendungen im Plot übereinstimmen, dann wäre das zumindest ein starker Hinweis darauf, dass Sam ein gleichwertiger Protagonist ist.
Also lohnt es sich vielleicht durchaus, noch mal nachzuschauen, ob Sam nicht doch an anderen Stellen eigene Wendepunkte hat; oder ob, wenn schon nicht in Bezug auf seine Motivation für den Hauptplot, Charakteränderungen und Neuausrichtungen seiner Person vorliegen, die in Schlüsselszenen manifest werden.

felis

@Lomax,
Sam hat sicher nicht alle Plotpoints gemeinsam mit Frodo, nur einige.(S. "Startpunkt")

Und ich finde, er erlebt schon einen entscheidenden Umschwung seines Charakters der sich anbahnt, als er den Ring an sich nimmt. (Was ich deswegen als midpoint identifizieren würde.)
Er tritt nämlich immer mehr aus dem Schatten von Frodo heraus und während Frodo sich ja im grundegenommen aufgibt, und am Schluss "in den Westen geht", rettet Sam das Auenland, gründet  eine Familie und wird dann auch noch Bürgermeister. ;-)

Ich bin allerdings zugegebenermaßen in dieser plotpoint - Theorie alles andere als sattelfest.
Ist die plotpoint theorie eigentlich hinfällig, wenn man mehr als einen Haupt-Prota hat. Oder sollte man sie dann auf alle Protas anwenden?
LG
felis

Hr. Kürbis

Wenn "alle" Protags dem selben Plot folgen, dann gibt es wahrscheinlich nur ein Schema, das geringfügig von dem des "Haupthelden" abweicht... also so wie in der klassischen Rollenspiel-Party-Situation oder eben wie bei HdR mit Frodo und Sam. Der Weg ist der gleiche, die Abweichungen vielleicht nur minimal.

Gibt es allerdings Subplots, dann wird wohl für jeden dieser Subplots einem eigenen Schema zugeordnet, immerhin soll dieser ja auch spannend sein und funktionieren, auch wenn er dem Mainplot untergeordnet ist...

So jedenfalls würde ich es machen. ;D

Lomax

Zitat von: felis am 10. August 2007, 23:14:14Er tritt nämlich immer mehr aus dem Schatten von Frodo heraus und während Frodo sich ja im grundegenommen aufgibt, und am Schluss "in den Westen geht", rettet Sam das Auenland, gründet  eine Familie und wird dann auch noch Bürgermeister. ;-)
Wobei sich dann schon die Frage stellt, was noch zum "Plot" des Buches gehört, bzw. wann die Geschichte eigentlich zu Ende ist. Da sich das beim HdR in "Etappen" vollzieht, ist das keine leichte Entscheidung. Wenn der Ring zerstört ist, endet eigentlich die "Ringqueste". Sams spätere Entwicklung würde ich eigentlich nur noch als "Nachklang" betrachten, weil ja das zentrale Element für einen Plot fehlt - der "Konflikt".
Der ist allerdings bei anderen Episoden nach dem Ring, wie bei der "Befreiung des Auenlandes" noch verhanden, so dass die Übergänge fließend sind. Wie auch immer: Familiengründung, Bürgermeisteramt ... das mag Sams verändertes Wesen nach der Handlung beschreiben. Aber die Wendepunkt, die dorthin führten, sollten doch noch innerhalb der Handlung liegen und sich markant festmachen lassen.
Zitat von: felis am 10. August 2007, 23:14:14
Ist die plotpoint theorie eigentlich hinfällig, wenn man mehr als einen Haupt-Prota hat. Oder sollte man sie dann auf alle Protas anwenden?
Eigentlich dient dieses Schema der Strukturierung einer Handlung. In der modernen Form geht sie allerdings davon aus, dass die Handlung stets aktiv von einer "Hauptperson" gesteuert wird, sich an dieser Person festmacht und dementsprechend ein Umschwung in der Handlung auch immer an eine Richtungsänderung in der Figurenentwicklung gebunden ist. In einer einfachen Geschichte gibt es damit keine Probleme.
  In einer komplexen Geschichte mit mehreren Hauptfiguren und mehreren Handlungssträngen gibt es natürlich auch keine "reine Lehre" mehr, aber natürlich ist es umso wichtiger, den Text dann zu strukturieren, damit es kein heilloses Durcheinander gibt. Also kann man sich als Autor überlegen, ob man sich in der Gestaltung der einzelnen Handlungsstränge und der Figurenentwicklung an dem Schema orientieren will; oder ob man einen übergeordneten "roten Faden" in den Text webt, der dieser Orientierung folgt. Aber, wie gesagt, das ist jeweil nur eine Möglichkeit, eine Hilfe.
  Bei der Analyse fertiger, komplexer Texte muss man den Text natürlich vorher in seine einzelnen Verläufe - und zwar in Bezug auf die Charakterentwicklung wie in Bezug auf die äußere Handlung hin - aufdröseln, um dann diese Einzelstränge gesondert zu betrachten. Wenn man dann feststellt, dass bestimmte, wichtige Punkte der Handlung mit wichtigen Stationen der Figurenentwicklung zusammenlaufen, ist das sehr interessant, denn es zeigt, wie man in einer komplexen Geschichte die Fäden "verweben" kann.

Insofern habe ich in meinem Beispiel auch nur gesagt, dass man den Herrn der Ringe unter der Perspektive "Frodos Geschichte" recht gut sowohl handlungs- wie figurenmäßig nach diesem Schema gliedern kann. Das schließt natürlich nicht aus, dass andere Aspekte des Textes nicht auch, getrennt und für sich betrachtet, genauso organisiert sein können - oder nach einem anderen Schema.

Lomax

Zitat von: Hr. Kürbis am 11. August 2007, 08:07:23Gibt es allerdings Subplots, dann wird wohl für jeden dieser Subplots einem eigenen Schema zugeordnet, immerhin soll dieser ja auch spannend sein und funktionieren, auch wenn er dem Mainplot untergeordnet ist...
Jeden untergeordneten Handlungsstrang (und ich sage jetzt nicht "Subplot", weil das wiederum als Fachbegriff mit ganz eigener Bedeutung eher einen "unterschwelligen" als einen "untergeordneten" Plot bezeichnet) selbst wiederum nach dem Schema aufzubauen, wäre schon mal eine mögliche Ausweitung des Ansatzes. Die interessanten Fragen, die sich in dem Zusammenhang stellen, sind dann folgende: Kriegt jeder dieser Handlungsstränge dann auch eine eigene Hauptfigur, so dass Handlungs- und Figurenentwicklung wiederum parallel verlaufen können? Muss man jeden einzelnen Strang nach genau diesem Schema gestalten? Und wie bringe ich all diese Dinge zusammen, so dass sie eine Geschichte ergeben und nicht nur eine Fülle von Figuren und Handlung präsentieren, die allesamt für sich perfekt strukturiert belanglos nebeneinander herdümpeln?

Die Anwendung dieser Struktur auf bestehende Werke wie dem HdR kann helfen, zu sehen, wie diese Fragen in anderen Büchern beantwortet werden. Und deshalb denke ich, dass das Arbeiten mit und das Nachdenken über solche Beispiele einem letztlich vielmehr hilft, sich das Schema zu vergegenwärtigen und dann auch als Hilfe für eigene Texte zu gebrauchen, als wenn man es nur theoretisch nennt oder sich Gedanken darüber macht, ob es "gut" ist oder "zwangsläufig" zu finden sein muss. Und deshalb habe ich oben auch so darauf gedrängt, dass bei der Vorstellung dieser "Theorie" auch einfach mal ein paar formal saubere, praktische Anwendungen geliefert werden - oder zumindest eine Auseinandersetzung mit dieser Theorie am Textbeispiel.

Hr. Kürbis

Ups, ja, stimmt... Ein Subplot wäre ja ein Plot im Plot sozusagen, also sagen wir es deutsch: Ich meinte einen Nebenplot! :vibes:

caity

Hallo,

nur kurz, ich würde gerne viel mehr zu dem Thema sagen, aber ich habe leider keine Zeit :(

@ Lavendel: Ich find's schade, dass du dich so einfach ausgeklinkt hast. Ich bin mir sicher, dass hätte sich auch anderweitig lösen lassen :(

@ Lomax: Den Hermeneutischen Zirkel haben wir tatsächlich nur sehr, sehr knapp besprochen - im 11. Schuljahr in Religion. Deshalb bin ich auch nie darauf gekommen, den hier oder anderweitig anzuwenden, er war bei mir streng mit Bibelarbeit verbunden und mit nichts anderem. Tja ... so viel zum Thema: Gemeinsames Bildungssystem -.-"

@ Kürbis: Also bei mir stimmt es glaube ich bei den Nebenplots nicht mit diesem Thema überein. Dort, wo der 1. Wendepunkt sein sollte, ist bei mir bei meinem Hauptnebenplot ein Höhepunkt. Wobei das natürlch nicht das Maß aller Dinge ist ;)

Bye
caity
Wenn ein Autor behauptet, sein Leserkreis habe sich verdoppelt, liegt der Verdacht nahe, daß der Mann geheiratet hat. - William Beaverbrook (1879-1964)

Lavendel

Hi caity!

Ich habe mir gedacht: Hey, das hier ist ein Thread, in dem die Anwendung eines bestimmten Schemas diskutiert werden soll. Ich habe meine allgemeine Meinung dazu gesagt.

Ich muss im Studium ständig in irgendwelchen Romanen rumfrickeln. Nicht das mir das grundsätzlich keinen Spaß macht, aber im Moment habe ich keine Lust, alle möglichen Bücher - und schon gar nicht den Herrn der Ringe - in fünf Punkte zu gliedern. Zumal mir nicht ganz klar ist, zu welchem Ergebnis das letzendlich führen soll. Alle, die dazu Lust haben, sollen das ruhig tun. Bestimmt ist das auch für einige Leute sinnvoll, anderen macht es vielleicht grade Spaß, aber ich bin momentan auch zu ausgelastet für so intensive Textarbeit. (Soll heißen, es ist mir einfach zu anstrengend jetzt den dicken Schinken rauszukramen und nach Textbelegen zu suchen  ;). Ich bin ein faules Stück.)

Das, über das wir uns auseinandergesetzt haben hatte nun wirklich nur noch ziemlich periphär mit dem ursprünglichen Thema des Threads zu tun. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Basis für eine vernünftige Verständigung fehlte. Wir haben uns im Kreis gedreht, und das weiterzuführen wäre sicher nicht besonders sinnvoll gewesen.

Lomax

Zitat von: caity am 11. August 2007, 18:31:16Den Hermeneutischen Zirkel haben wir tatsächlich nur sehr, sehr knapp besprochen - im 11. Schuljahr in Religion. Deshalb bin ich auch nie darauf gekommen, den hier oder anderweitig anzuwenden, er war bei mir streng mit Bibelarbeit verbunden und mit nichts anderem. Tja ... so viel zum Thema: Gemeinsames Bildungssystem -.-"
Man kann ihn eigentlich überall anwenden, um das Verstehen von (bevorzugt abstrakteren) Inhalten zu reflektieren. Aber Religion ist trotzdem ein ungewöhnliches Fach dafür ;)
  Ich weiß auch nicht, ob der Begriff an sich wirklich expliziter Gegenstand irgendeines Lehrplans ist und genannt werden müsste. Nur die Prinzipien, die er beschreibt, sollten auf jeden Fall auch im Deutschunterricht vermittelt werden. Aber was Schulen und vor allem Deutschunterricht betrifft, wundert mich ansonsten ohnehin nichts mehr.
  Aber zu dem Kapitel sollte sich im Zweifel lieber Manja als Expertin äußern, da ich selbst entsprechende Anekdoten leider nicht aus eigener Erfahrung beisteuern kann, sondern sie selbst nur von diversen Dritten gehört habe ;D