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Vom Mut, das Unschöne auszusprechen

Begonnen von HauntingWitch, 23. Dezember 2016, 12:42:51

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Zit

#30
Vielleicht hilft darüber nachzudenken, warum man die Sachen abschwächt?

Ein Kommilitone hat einmal gesagt: "Wir wollen doch alle nur geliebt werden." Ich erinnere mich nicht mehr an die Stuation, aber er hatte es recht unaufgeregt gesagt und nebenbei sodass es mir erst recht im Kopf blieb. Wenn ich dann so Sachen lese oder selbst denke, bei denen man sich Gedanken macht, was andere darüber und von einem denken können, schießt mir immer die Aussage durch den Kopf. Menschliches Sozialverhalten/ Rollenverteilung ist imho komplex und nicht immer so leicht zu durchschauen. Je nach Situation, Laune, Publikum, Umgebung etc. reagieren wir anders und geben andere Dinge von uns Preis, oft auch keine. Die Sache ist nur die: Im Werk hat das nichts zu suchen. Der Drang nach Anerkunng und Liebe ist ein Bedürfnis des Autors und dieses Bedürfnis im Roman freien Lauf zu lassen verwässert die "Bedürfnisse" des Romans/ der Geschichte. Der Autor arbeitet gegen die Geschichte und sich selbst sozusagen, wenn er sich von seiner Angst, was andere über ihn denken, leiten lässt.

Andererseits schwächt man vielleicht auch Dinge ab, um Unsicherheit zu überspielen? Man muss kein Schnitzel sein stimmt vielleicht, aber die beste Recherche hat irgendwo ein Ende, das bei Erfahrung noch ziemlich weit weg ist. Und manche Szenen gehen so tief rein, auch in uns selbst, dass Recherche nicht immer ausreicht.
Das heißt nicht, dass wir alle zu Mördern werden sollten. ;D Aber vielleicht gibt es Dinge, die man übersieht/ nicht bedenkt, wenn man den Mord abschwächt, weil man sich selbst nicht traut, tief in den Täter einzusteigen und nachzufühlen?
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

canis lupus niger

#31
Zitat von: Witch am 11. Januar 2017, 09:18:44
Wie baue ich Hemmungen oder Angst, über etwas Bestimmtes/ein Thema zu schreiben, ab. ;)

Hm, für mich kann ich da sagen, dass ich es mit @Trippelschritt halte: Die Story und die Figur bestimmen die Sprache. Ebenso wie ein potentieller Leser mache ich mich davon frei, dass die Figur mit MEINER Sprache sprechen und denken darf. Irgendwie versuche ich für mich diese fiktive Figur möglichst lebendig werden zu lassen, mit allen Charakterdetails. Und ich habe eine ziemlich aktive Fantasie. Manchmal dauert es ein bisschen, bis eine Figur "fertig" ist; das können Wochen werden. Aber dann denkt und spricht sie auch wie sie selber. 

Um die Probleme zu vermeiden, die @Zitkalasa nennt, versuche ich nur über Dinge zu schreiben, die ich tatsächlich schon kennen gelernt habe. Man muss kein Schnitzel sein, das stimmt. Schnitzel haben vermutlich kein allzu intensives Gefühlsleben, und auch der Leser kann noch nie ein Schnitzel gewesen sein. Deshalb ist es sicherlich nicht so schwierig, sich etwas aus den Fingern zu saugen, was den theoretischen Empfindungen und Gedanken eines Schnitzels nachvollziehbar entsprechen könnte.

Aber wenn ich darüber schreiben will, dass jemand tiefen Hass empfindet oder Todesangst, dann muss ich sowas schon mal selber empfunden haben, oder etwas annähernd vergleichbares. Oder jemand, der es selber erlebt hat, muss mir sehr eingehend erzählt haben.

Und manchmal habe ich auch sehr dunkle Empfindungen und Gedanklen, die ich nie- niemals aussprechen würde, weil ich weiß dass sie falsch sind, weil ich weiß, dass sie verwerflich sind. Aber wenn ich eine Figur in meiner Geschichte habe, die so verwerflich ist, dann schreibe ich ihr diese Gedanken in den Kopf, die ich selber vielleicht in einer üblen Stunde schon mal gedacht habe. Keine Beichte, aber so etwas ähnliches wie ein Ausmisten. Glücklicherweise weiß der Leser nicht, welche Schlechtigkeiten schon mal durch meinen eigenen Kopf gegangen sind. Das würde ich auch nicht wollen, weil auch ich lieber gemocht (geliebt) als verachtet werden will. Aber eigentlich finde ich es besser, wenn meine Geschichten gemocht werden. Mich als Autor, als Mensch wird ein Leser kaum genug kennen lernen, um mich in sein Herz zu schließen.

 

cryphos

#32
Zitat von: Witch am 11. Januar 2017, 09:18:44
[...] Es wäre deshalb schön, wenn wir zum ursprünglichen Thema zurückkehren könnten, nämlich der Frage: Wie baue ich Hemmungen oder Angst, über etwas Bestimmtes/ein Thema zu schreiben, ab. ;)
Indem du dich ihm (EDIT: dem Thema) annäherst.
Hier eine Schreibübung:
Mach dir klar wer du bist und woran du glaubst und für was du einstehst. Schreibe ein paar Kurzgeschichten in diesem Umfeld. Dabei wirst du dich sehr wohl fühlen. Das ist keine Komfortzone.
Dann überlege dir einen Charakter der davon leicht abweichende Ideale hat. Jetzt schreibst du ein paar Geschichten aus dessen POV. Du merkst so sehr schnell wo deine Grenzen sind, wo du diese mit dem Char überschreitest. Evtl. fühlst dich dabei etwas unwohl. Geht es dir dabei gar nicht gut bist du zu weit. Für den Moment reicht ein leichtes Unbehagen. Damit hast du die Grenzen deiner Komfortzone abgesteckt und die ersten Schritte in den Bereich getan, in dem du Neues lernst.
Doch damit nicht genug. Wenn du Mut und die Kraft hast ein Experiment zu wagen suche dir einen Char aus der für dich richtig ekelhaft ist und schreibe eine richtig dreckige Geschichte. Wenn du dich dabei unwohl fühlst oder nur mit Widerwillen schreibst, dann bist du genau da wo ich dich jetzt haben möchte, in deiner Panikzone. Du hast alle Grenzen hinter dir gelassen; bist schutzlos auf unbekannten Terrain.
Genug des Üblen! Ziehe dich in deine Komfortzone zurück und lecke deine Wunden. Mache ein paar Schreibübungen und teste deinen Grenzen wieder aus. Du wirst feststellen, dass du nun etwas mehr Spielraum hast. Wiederhole das Experiment beliebig oft und nähere dich so verschiedenen Themen an.

Praxisbeispiel: 99/00 wäre es mir unmöglich gewesen entweder eine homoerotische Szene zu schreiben noch eine Person auftreten zu lassen, die offen Homosexualität denunziert. Heute kann ich ohne Probleme einerm Char die Worte "Du elende Tucke, Schwuchtel, Lattenpfostenbläser" in den Mund legen. Nicht weil ich hinter diesen Worten stehe, sondern weil ich weiß wer ich bin, wo ich verortet bin und in welchem Kontext ich dies verwenden kann; z.B. dann wenn ich ein Homophobes Arschloch besoffen morgens um drei in eine Schwulenbar taumeln lasse, wo er dann angemacht wird. Dann wird so ein Typ nicht nett sagen "Könnten Sie davon bitte Abstand nehmen, ich fühle mich nicht dieser sexuellen Neigung zugehörig." Nein er wird lospoltern, Abstand gewinnen wollen und verletzend sein.

Trippelschritt

Genau so habe ich es vor einigen Jahren auch gemacht. Meine erste Hürde war noch relativ leicht. Ich konnte nicht über Sex und Erotik schreiben. Dann ahbe mir etwas ausgedacht und einfach geschrieben. Es war ja nur für mich. Ich fand es gar nicht mal so schlecht, ließ es liegen, verbesserte es und stellte es in ein entsprechendes Forum. Und der ersten Geschichte folgten noch eine ganze Menge. Das war leichter als ich gedacht habe.

Die erste echte Herausforderung kam, als ich versucht habe, etwas aus dem BDSM-Bereich zu schreiben, denn diese Spiele sind so gar nicht meins. Und ich wollte die Geschichte so gut schreiben, dass die Fans dieser Spielart sie für gut hielten. Es klappte erst im zweiten Versuch, weil ich im ersten noch zu viel Hemmungen hatte.

Aber am schwersten fiel mir eine Geschichte, in der ich plausibel zeigen wollte, wie ein normaler junger Hetero bi wurde. Aber am Ende ist es mir doch gelungen. Aber ich habe lange daran gesessen.

Jetzt, so bilde ich mir ein, kann ich in dem Genre so ziemlich alles schreiben, bis auf meine eigenen Tabus, die niemals in meinen Geschichten vorkommen werden. Und sollte die Problematik auftreten, werde ich mich mit Andeutungen zufrieden geben müssen. Aber auch für mich gibt es ein paar letzte Grenzen, über die ich nie hinwegschreiben werde.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Kati

Zitat von: WitchOkay, bevor es ausartet mit Rassismus, Sexismus usw. Ich bin zwar kein Mod, aber als Threadstellerin fühle ich mich doch ein bisschen verantwortlich. Ich denke, wir sind uns hier alle einig, dass diese Dinge nicht in Ordnung sind und man sie nicht verherrlichen oder verharmlosen sollte. Es wäre deshalb schön, wenn wir zum ursprünglichen Thema zurückkehren könnten, nämlich der Frage: Wie baue ich Hemmungen oder Angst, über etwas Bestimmtes/ein Thema zu schreiben, ab. ;)

:jau: Ich denke, wenn es einfach darum geht, Hemmungen abzubauen hilft nur Übung und Überwindung. Was ich mir auch vorstellen kann ist, dass es hilft sich Filme anzugucken oder Romane zu lesen, die ungefähr in die Richtung gehen, in die man schreiben möchte. Nicht nur bekommt man dann ein Gefühl für die Konventionen und Herangehensweisen an solche Themen, man wird auch automatisch gezwungen seine Hemmungen ein Stück weit zu verlieren. Das einzige, das mir geholfen hat, bessere Thrillerplots auszuarbeiten war tatsächlich, viele Thriller zu lesen und dabei habe ich auch gemerkt, dass mir der Umgang mit Tod, Gewalt und Verbrechen immer leichter fiel. Nicht nur beim selbst drüber Schreiben, sondern auch ganz allgemein. An ganz harte Thriller wage ich mich immer noch nicht ran, aber die möchte ich auch nicht selbst schreiben, deshalb ist es für mich okay, dass ich das wahrscheinlich auch nicht könnte. Aber ich denke, es ist nie verkehrt sich anzugucken, wie andere Autoren die Probleme, die man mit dem Schreiben von solchen Themen hat, gelöst haben und welche Konventionen im Genre oder generell im Umgang mit dem Thema beliebt sind.

Darüber hinaus stimmt es natürlich, dass man nicht alles recherchieren kann, aber Recherche ist ein sehr viel größerer Punkt, als viele glauben. Ich kenne viele Thrillerautoren, die Dokumentationen oder Biographien über Serienkiller lesen oder anschauen, bevor sie Bücher schreiben, in denen welche vorkommen. Besonders in kreativen Handwerken ist Empathie und Vorstellungsvermögen nicht selten wichtiger als Erfahrung und, wenn man sich für einen Roman viel mit der Psychologie hinter solchen Verbrechen beschäftigt, senkt das die Hemmschwellen, die man bei dem Thema vielleicht hat, automatisch. Ich glaube, worauf es hinausläuft, zumindest für mich, ist eine intensive Beschäftigung mit dem Thema, auch über Komfortzonen hinaus. Wenn ich über Fremdenfeindlichkeit schreiben will, muss ich mich damit beschäftigen, wie Fremdenfeindlichkeit eigentlich aussieht, welche Folgen sie hat und so weiter. Und man muss sich dann halt auch wirklich in die Psyche von so einem Menschen hineindenken können und wollen, wobei es wohl wirklich sinnvoll ist, Interviews, Artikel und dergleichen mit und von solchen Leuten zu lesen oder anzuschauen, auch, wenn es schwerfällt. Das ist nicht immer leicht und nicht für jeden etwas, aber wenn man wirklich so einen Roman schreiben will, ist das denke ich der allerbeste Weg. Erfahrung ist nicht unwichtig, aber man kann nicht alles selbst erfahren. Einfach losschreiben und hoffen, dass die Hemmungen schon verschwinden, hilft meistens nicht. Für mich war der Schlüssel bisher immer Vorstellungsvermögen und natürlich der Wille, mich in bestimmte Themen einzuarbeiten und reinzudenken, bevor ich über sie schreibe.

HauntingWitch

@Zitkalasa: Ich glaube, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. ;D

@canis lupus niger: Ja, ich denke auch, dass die Sachen, die man aus eigener Erfahrung (oder ähnlicher Erfahrung) heraus beschreibt, am besten kommen. Aber ich stimme auch Charlotte zu, Recherche und Einfühlungsvermögen sind nicht zu unterschätzen. Man kann ja auch von einer ähnlichen Erfahrung plus Recherche zehren und sich somit ein Bild machen. Wie sehr dieses Bild dann stimmt, ist die andere Frage, aber wie viele Leser wissen es schon besser, um das bemängeln zu können?

@Charlotte und cryphos: Ja, ich denke, ihr habt recht. Überwindung ist vermutlich das Schlüsselwort. Ich gehe dann mal noch ein wenig üben.

@Charlotte: Entsprechende Bücher lesen und Filme ansehen tue ich ja schon, das ist ja mein Punkt. Ich bewundere die Autoren/Macher dann immer, wie die das hinkriegen. Das möchte ich auch erreichen.  :)

Anj

Wenn du klare Vorbilder hast, kann es auch hilfreich sein, eine "Meisterkopie" zu schreiben. Also eine Passage zu schreiben, die aus der Feder des anderen Autors stammen könnte. Das darf zu Übungszwecken auch ruhig eine echte Kopie sein, bei der dieselbe Szene nur abgewandelt wird. Beispielsweise mit eigenen Worten in einem neuen Setting "nachgeschrieben" oder charakteristische Merkmale die bloß ausgetauscht sind.
Mir hat das mal sehr geholfen, mich in den Ton eines Genres einzufinden, den ich gerne erreichen wollte.
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.