Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 14:26:25

Titel: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 14:26:25
Da eine der Hauptpersonen in meinem aktuellen Projekt in einen Kult involviert ist und ich die Erfahrung realistisch beschreiben wollte, hab ich in den letzten Monaten zu dem Thema ziemlich viel recherchiert und mich mit den Erfahrungen Betroffener auseinandergesetzt - und ich dachte mir, ich teile das Ergebnis mit euch, falls das Thema für noch jemanden interessant ist. Falls jemandem noch etwas auffällt, was ergänzt gehört, oder weitere Buchvorschläge hat, bitte immer gerne. Ich lerne gern dazu und ich finde das Thema bzw. die psychologischen Hintergründe total spannend. :)

Anm: Der folgende Text ist nicht meine persönliche Meinung, sondern ausschließlich eine Zusammenfassung der Recherche, die sich aus den Arbeiten anerkannter Experten und Betroffenen, u.a. Mark Vincente, Steven Hassan, Rick Alan Ross und Robert Jay Lifton, zusammensetzt. Da die Literatur leider fast ausschließlich auf Englisch verfügbar ist, hab ich mich hier um einen brauchbaren und hoffentlich hilfreichen, deutschsprachigen Text bemüht.
Quellenangabe ist am Schluss, falls jemand sich selbst in die Literatur einlesen möchte (Die Bücher sind wirklich empfehlenswert). Die Grafiken sind selbst erstellt.



Jede Ideologie - jede emotional aufgeladene Überzeugung über die Menschheit und deren Verhältnis zu der natürlichen und übernatürlichen Welt - kann von ihren Anhängern in eine totalitäre Richtung bewegt werden. Allerdings passiert das am ehesten mit Ideologien, deren Inhalt die Menschen durch ihre ehrgeizigen, oder messianischen Botschaften mitreißt, ungeachtet dessen, ob deren Ursprung religiös, politisch oder wissenschaftlich ist.

ZitatWo Totalitarismus existiert, wird eine Religion, eine politische Bewegung oder sogar eine wissenschaftliche Organisation zu wenig mehr als einem exklusiven Kult. - Robert Jay Lifton

Aber was ist ein Kult?


Der Begriff "Kult" wird oft verallgemeinert und fast schon inflationär gebraucht, sodass es schwierig werden kann, eindeutig zu differenzieren und zu verstehen, was ein Kult eigentlich ist - und was er nicht ist.

Ich benutze den Begriff "Kult" bzw. "destruktiver Kult" hier ausschließlich im Kontext bestimmter, destruktiver Gruppendynamiken, wie sie z.B. in Gruppen wie den Moonies, Jim Jones, Aum Shinrikyo, Heaven´s Gate, NXIVM uvm. zum Einsatz kamen, um ihre Mitglieder zu täuschen, zu manipulieren und auszunutzen.

Um sich als so ein sog. destruktiver Kult zu qualifizieren, müssen einige Kriterien erfüllt werden:


Dabei kann man unterscheiden zwischen Ideologischem Totalitarismus und Kulten, die verschieden, im Grunde aber sehr ähnlich sind:

Dabei gilt: Totalitäre Movements sind kultisch und Kulte sind totalitär.

Was ist der Ursprung von ideologischen Totalitarismus? Woher stammen derart emotional aufgeladene, extremistische Muster? Hinter dem ideologischen Totalitarismus verbirgt sich die immerwährende Suche des Menschen nach allgegenwärtiger Führung - der übernatürlichen Kraft, politischen Partei, gemeinsamen Idealen, dem großen Anführer oder der unfehlbaren Wissenschaft - welche der Menschheit die ultimative Solidarität bringen, und die Angst vor dem Tod und dem Nichts besiegen werden.

Diese Suche ist in den Mythologien, Religionen und Geschichten aller Länder vorhanden, sowie im Leben jedes Einzelnen. Der Grad, in dem sich ein Einzelner zu Totalitarismus hingezogen fühlt, hängt großteils von Faktoren der persönlichen Vergangenheit ab: Früher Vertrauensverlust, extremes umweltbedingtes Chaos, totale Dominanz eines Elternteils oder des Verantwortlichen, unerträgliche Schuldgefühle und schwerwiegende Identitätskrisen. Erlebt man so etwas in der frühen Kindheit, kann dies dazu führen, dass man dadurch eine völlige Intoleranz für das Erfahren von Verwirrung, Aufgewühltheit oder Enttäuschung entwickelt, und sich nach einem "stabilen", "sicheren" Umfeld sehnt, in der eine strikte Milieu Kontrolle herrscht. Auf der anderen Seite sind solche Erlebnisse zu einem gewissen Grad Teil jeder Kindheit, und das Potenzial für Totalitarismus ist bis zu einem gewissen Grad in jedem von uns vorhanden.



1) Warum sind Kulte so erfolgreich?

Kulte waren immer schon eine Gefahr, und seit dem Zeitalter des Internets und Social Media haben sich die Möglichkeiten, wie Kulte Menschen rekrutieren können, verfielfacht. Es gibt mehr destruktive Kulte als jemals zuvor und auch ihre Methoden profitieren von der Forschung rund um Gedankenkontrolle, Manipulation. Warum? Und warum nimmt man die Gefahr Gedanken beeinflussender Kulte oft nicht besonders ernst, oder unterschätzt ihren Einfluss?


Da Beeinflussung von außen ein Teil unseres alltäglichen Lebens ist, teile ich hier die Grafik des Einflusskontinuums, um zwischen gesunder "normaler" und destruktiver Beeinflussung zu unterscheiden (frei übersetzt und nach Vorlage von Steven Hassans Seite freedomofmind.com)
- Da es nicht erlaubt ist, Grafiken einzubinden, siehe Anhang 1. (Grafik ist selbst gemacht)



2) Die 4 Haupttypen von Kulten




3) Die Struktur von Kulten

Kulte sind in Form einer Pyramide organisiert:


Da es nicht erlaubt ist, Bilder einzubinden, siehe Anhang 2 (Grafik ist Selbstgemacht)



4) Rekrutierung

Ich möchte hier die Aussagen von zwei Kultspezialisten zitieren:
Zitat"Menschen schließen sich keinem Kult an, sondern einer guten Sache - bis diese plötzlich kippt." -Mark Vincente
Zitat"Menschen schließen sich keinem Kult an - sie werden rekrutiert." - Steven Hassan

Die Übereinstimmung der ersten Aussage ist der springende Punkt. Niemand schließt sich freiwillig einem "Kult" an, sondern einer Gruppe, die seiner Ansicht nach einer guten Sache dient. Selbst aktiv involvierte Kultmitglieder blicken oft verächtlich auf Mitglieder anderer Kulte und bezeichnen diese als "Mitglieder eines Kults" und "Gebrainwashed", während sie gleichzeitig völlig blind für ihre eigene Situation sind.

Wie geht diese Rekrutierung in der Praxis vonstatten? Es gibt einige, gängige Taktiken:



Dabei gibt es, entgegen dem Klischee des unglücklichen Außenseiters, keinen speziellen "Typ", der besonders anfällig für die Rekrutierung ist. Es kann tatsächlich jeden treffen und normalerweise hegt das Opfer keinerlei Verdacht, dass es rekrutiert wird. Die Annäherung an das Opfer wird oft sehr individuell an dessen Charakter und Interessen angepasst und geschieht zumeist zu einer Zeit, in der das Opfer eine schwierige, stressige Zeit durchmacht. (Selbstfindung in der Pubertät, Umzug, Verlust einer geliebten Person, Beziehungsprobleme, finanzielle, oder familiäre Probleme, etc.)

Kulte appellieren dabei oft besonders an den Wunsch nach Glück, Zufriedenheit oder Erlösung, an Idealismus und den Wunsch, die Welt zu verbessern. Sie geben vor, den "richtigen Weg" bzw. "die Wahrheit" zu kennen und geben dem Einzelnen das Gefühl von Zugehörigkeit und für eine Vision zu arbeiten, die größer ist als er selbst. Er bekommt das Gefühl vermittelt, ein Auserwählter im historischen Prozess zu sein - oft geht es entweder darum, als einer von wenigen eine nahende Apokalypse zu überleben, oder zu einer kleinen, auserwählten Elite zu gehören, welche die Menschen auf "den richtigen Weg" führen könnten.



5) Cults B.I.T.E

Zitat"If you change a person´s behaviour, his thoughts and feelings will change to minimize the dissonance."- Leon Festinger, cognitive dissonance theory, 1950

Das B.I.T.E Modell von Steven Hassan bietet eine sehr kompakten und übersichtliche Zusammenfassung der Wirkungsweise und Methode von Kulten, und wie man sie anhand dieser erkennen kann:

B) Behaviour Control (Kontrolle des Verhaltens)

Bei der Kontrolle des Verhaltens geht es darum, zu kontrollieren, wo und wie eine Person lebt, in welchem Umfeld sie sich bewegt, mit welchen Menschen sie in Kontakt tritt und sozialisiert (und mit welchen nicht - z.B. "alte" Freunde, Familie, etc.), welche Kleidung sie anzieht, welche Nahrung sie zu sich nimmt und welche Aktivitäten ihren Tagesablauf füllen (Arbeit, Freizeit, Aktivismus, Rituale, Schlafrythmus, etc.).

In destruktiven Kulten gibt es immer etwas zu tun, um die Mitglieder beschäftigt zu halten: Rekrutieren, Geld sammeln, Aktivismus, kultbezogene Arbeiten, Besuchen von Seminaren, Workshops und Trainings, Selbstindoktrination durch einschlägige Literatur, Videos, uvm.

Gruppendenken und -aktivitäten werden gefördert, während Individualismus absolut nicht gutheißen wird und nicht gruppenkonformes Verhalten mit öffentlicher Bloßstellung und Kritik, oder körperlichen Strafen oder erniedrigenden Arbeiten geahndet wird.

Dabei werden immer wieder Grenzen überschritten und eingerissen, die eine Person versucht, zu setzen. Jeglicher Widerstand gilt als ihr "Problem", als der Grund, warum sie die "Wahrheit" nicht erkennen können, oder warum sie damit ihr eigenes "Wachstum" verhindern. Somit werden Mitglieder zu Komplizen in dem Prozess gemacht, der ihre eigenen Grenzen und ihr gesundes Selbstgefühl zerstört.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der sog. "Social Proof": Verhalten, das man annimmt, weil es "alle anderen machen" und das heraussticht, wenn man es nicht imitiert - Gesten, Ausdrucksweise, Rituale, uvm. Menschen neigen dazu, ihre eigene Wahrnehmung und die Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu hinterfragen und diese anzupassen, wenn das Verhalten oder die Meinung "aller anderen" der eigenen widerspricht.

Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. "Sünden" der Gedankenreform (siehe unten):

    1 - Milieu Kontrolle
    3 - Forderung nach absoluter "Reinheit"
    4 - Kult des Geständnisses - Struggle Sessions?
    7 - Doktrin über Person


I ) Informations Kontrolle

In vielen Kults wird der Zugang zu Information streng kontrolliert und zensiert, sodass Mitglieder in einer "Echo-Chamber" gefangen werden, die sämtliche kritische oder alternative Informationen entweder völlig unzugänglich macht, oder diese als "ungesund" und "unbedingt zu vermeiden" labeled: z.B. als satanisch, (rechts-, links- oder anders extreme) Propaganda, oder als anders "böses Gedankengut enthaltendes" Werk.

Informationskontrolle betrifft auch zwischenmenschliche Beziehungen, da den Mitgliedern verboten wird, sich in irgendeiner Weise kritisch über den Anführer, die Gruppe, oder die Doktrin zu äußern. Sie werden dazu aufgefordert, sich gegenseitig zu bespitzeln und "verräterisches" oder "unreines" Verhalten aufzuzeigen bzw. zu melden.

Außerdem gilt es als absolut essenziell, um jeden Preis den Kontakt zu Ex-Mitgliedern oder Kritikern zu meiden: jenen Personen, welche womöglich eine realistische Außenperspektive und berechtigte Kritik aufzeigen - und damit womöglich Zweifel in den Mitgliedern wecken könnten.

Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. "Sünden" der Gedankenreform (siehe unten):

    2 - Mystische Manipulation
    5 - Heilige Wissenschaft


T) Thought Control ( Kontrolle der Gedanken)

Die Kontrolle der Gedanken zielt darauf ab, die Mitglieder so umfassend zu indoktrinieren, dass sie die Kultdoktrin als "einzige Wahrheit" internalisieren, den Sprachcode des Kultes lernen und Gedankenstoppende Techniken praktizieren, um ihren "Verstand zu fokussieren" und Zweifel und kritische Gedanken abzublocken (z.B. Meditation, Summen, Singen, Beten, rezitieren, uvm).

Die Kultdoktrin entscheidet nicht nur darüber, welche Information zugänglich gemacht wird, sondern auch, wie über diese Information gedacht werden kann. Normalerweise ist die Doktrin absolut und teilt alles strikt in Schwarz und Weiß, und "wir gegen die".

Alles Gute und Rechtschaffende ist im Anführer, der Gruppe und der Doktrin verkörpert - alles außerhalb der Gruppe ist "unwissend", "ignorant", "schlecht", "böse", etc.

Die Kultdoktrin nimmt für sich in Anspruch, eine Antwort auf alle Fragen, Probleme und Situationen zu haben und behauptet oft gar, wissenschaftlich belegt zu sein, was aber nie wirklich der Fall ist.

Da die Kultdoktrin und der Anführer bzw. die Gruppe als perfekt gilt, wird jeder Zweifel und jedes Problem zu einem Fehler des Einzelnen, der "nicht rein genug", nicht "erleuchtet", "aufgeschlossen" oder "reflektiert" genug ist, oder der "von Satan verführt" wurde. Diese Schuld, die somit im Einzelnen installiert wird, ist ein mächtiges Kontrollwerkzeug des Kultes, der von dem stets imperfekten Einzelnen verlangt, noch härter an sich zu arbeiten.

Ein essenzieller Punkt ist die aufgeladene Sprache und der Sprachcode des Kults. Die Bedeutung mancher Begriffe wird umgedeutet, sodass sie für "Eingeweihte" Kultmitglieder eine andere Bedeutung haben, als für "Außenstehende". Manche Worte werden emotional aufgeladen und dienen u.a. als sog. "Gedankenterminierende Klischees", die z.B. ermöglichen, eine mit einem solchen Begriff gelabelte Person oder Meinung prinzipiell abzuschmettern, sie als "Feind" wahrzunehmen und ihre Ansichten deswegen als illegitim zu sehen. (z.B. während Mao Zedongs Kulturrevolution in China galten als solche Begriffe "Konterrevolutionär", "Imperialist", "Rechtsextremer", "Burgeoise Mentalität", etc.)

Die Doktrin des Kults ist dabei nicht nur eine Theorie, oder eine Meinung, die hinterfragt oder gar kritisiert werden kann - sie die einzige Realität.

Das macht jedoch auch ihren Schwachpunkt aus, wie Robert Jay Lifton in seinem Buch "Losing Reality" schön schreibt:
Zitat"There is a Sisyphean element in all this: the cultist puryfiers cannot roll their ideological rock on the top of the hill of reality control. They can impose their reality on many for a considerable period of time, but they ultimately discover that the human mind is not completely manipulable, that sooner or later they will encounter what I speak of as the hostility of suffocation and the law of diminishing conversations."

Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. "Sünden" der Gedankenreform (siehe unten)

    3- Demand for Purity
    5 - Heilige Wissenschaft
    6 - Loaded Language
    7 - Doctrin over Person
    8 - Dispensing of Existence


E) Emotionale Kontrolle

Bei der emotionalen Kontrolle geht es darum, zu kontrollieren, wie Kultmitglieder auf bestimmte Informationen und Situationen emotional reagieren, und das Emotionsspektrum der Mitglieder generell auf "Schwarz und Weiß" bzw. "Alles oder Nichts" zu reduzieren: Entweder sie fühlen sich wunderbar - als auserwähltes Mitglied der Elite, geliebt und angesehen und Teil einer bedeutsamen Bewegung. Oder sie fühlen sich schuldig, sündig, befleckt, gebrochen und nicht "genug" und sind deswegen verpflichtet dazu, zu gestehen, zu bereien, sich härter anzustrengend und ein besseres, ergebeneres Mitglied zu werden.

Loyalität und Ergebenheit gelten als "beste" und "wünschenswerte" Emotionen, während eigene Gefühle und Bedürfnisse als "egoistisch", "asozial" oder "beschränkt" gelten.

Bei all dem spielen Angst und Schuld die Schlüsselrolle - wobei beides den Kultmitgliedern oft gar nicht bewusst ist:

    Durch Angst und oft durch die Eintrichterung von Phobien (z.B. der Apokalypse, einer Naturkatastrophe, Alieninvasion, staatlichen Institutionen, Ex-Mitgliedern und Kritikern, der vom Satan beherrschen Welt außerhalb des Kults oder davor, die Gemeinschaft zu verlieren und genauso geächtet zu werden wie die anderen "bösen" Ex-Mitglieder) werden die Mitglieder an die Gruppe gebunden, sie ihnen "Sicherheit" verspricht und den "richtigen Weg" zeigt.
    Schuld kann in vielen Formen vermittelt werden: Historische Schuld (z.B. Nazi-Deutschland, Kolonialismus in Amerika, etc.), Identitätsschuld (aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Gesellschaftlicher Status, etc., Schuld aufgrund vergangener Taten (z.B. Schummeln, Drogenkonsum, problematisches Verhalten, etc.) und Sozialer Schuld (Welthunger, Sklaverei, Klimakrise, etc.)


Dabei kommt eine der wirkungsvollsten Methoden eines Kults zum Einsatz: Dem Geständnis, das öffentlich geschehen muss. Oft gibt es dafür regelmäßige Geständnis-Sessions, in der die Beteiligten nacheinander vergangene Sünden, "falsche Taten" und "schlechte Gedanken" gestehen müssen. Dabei wird nicht nur erarbeitet, wie sie es künftig "besser machen" können, sondern es gibt der Gruppe auch ein wirksames Druckmittel in di Hand, mit der die Mitglieder im schlimmsten Fall erpresst werden können, sollten sie beispielsweise den Kult verlassen.

Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. "Sünden" der Gedankenreform (siehe unten):

    4 - Kult des Geständnisses


Gemeinsam formen die vier Punkte des B.I.T.E Modells ein totalitäres Netz, mit dem sogar die intelligentesten, kreativsten, ehrgeizigsten und charakterstärksten Personen manipuliert werden können. Tatsächlich sind es oft gerade jene, welche am stärksten in den Kult hineingezogen werden, da dieser oft gerade den Wunsch anspricht, sich selbst und die Gesellschaft, oder gar die Welt verbessern zu wollen.



Robert Jay Liftons 8 "Sünden" der Gedankenreform

Bei seinem Studium Überlebender der "Umerziehungslager" und "revolutionären Universitäten" während der chinesischen Kulturrevolution erarbeitete Robert Jay Lifton 8 Kriterien, nach denen man jede Umgebung und jede Gruppe darauf prüfen kann, ob und in welchem Maß ideologischer Totlitarismus und Gedankenreform stattfindet.

Dabei ist zu unterscheiden zwischen "Gedankenreform" und "Gehirnwäsche":


Gedankenreform besteht, ungeachtet ihrer Umgebung, aus zwei grundlegenden Elementen:


1) Milieu-Kontrolle

Die grundlegenste Eigenschaft eines totalitären Systems, auf die alles andere aufbaut, ist die Kontrolle der Umgebung und menschlicher Kommunikation.

Dies geschieht u.a. durch:


Zu Mao Zedongs Zeiten wurde dies einerseits durch "Umerziehungsgefängnisse" (Re-education camps) und Universitäten ("revolutionary colleges") erreicht.

In unserer modernen Zeit spielt Social Media und die permanente Verfügbarkeit und mögliche Überwachung durch Smartphones, Laptops & Co. in der Milieu Kontrolle eine bedeutende Rolle, da diese damit nicht nur in einem ausgewählten, begrenztem Umfeld, sondern permanent ermöglicht wird. Einmal in diesem Milieu und seinen "Echo Chambers" gefangen und davon transformiert, werden Fakten nur noch gefiltert durch die Brille der vorgegebenen "Wahrheit" wahrgenommen. Bedingt durch den entstandenen Bias und die Angst vor den Konsequenzen davor, eine davon abweichende Meinung auszudrücken, werden Informationen "von außen" werden immer weniger als "legitim" angesehen. Dadurch entsteht die konstruierte, veränderbare Realität des totalitären Systems, die sich im Kontrast zu der unmittelbaren, tatsächlichen Realität seiner Umwelt befindet.


2) Mystische Manipulation

Der nächste Schritt nach der Kontrolle des Milieus, ist die Manipulation der Person selbst. Gleichzeitig wird dabei eine "mystische Aura" um die Organisation, Gemeinschaft, etc. aufgebaut, die als "das einzig Wahre" dargestellt wird bzw. diejenige, die "Zugang zur Wahrheit" oder "Erlösung" hat. Initiiert von den Verwaltern des totalitären Systems, geschieht durch das Element der "geplanten Spontanität" - durch die scheinbar spontan, bestimmte Verhaltensmuster und Emotionen im Umfeld provoziert bzw. getriggert werden. Durch emotionale und psychische Manipulation wird der Einzelne demoralisiert und verunsichert, indem er z.B. als unwissend, unmoralisch, oder als "Feindbild" der jeweiligen Ideologie dargestellt und seine Meinung seine Wahrnehmung dadurch entwertet wird.

In den "Umerziehungslagern" galt als wirksame Methode eine sog. "Struggle Session", in der Gefangene gemeinsam ihre "Sünden" und "falschen Gedanken" gestehen mussten, wofür sie von ihrem Mitgefangenen kritisiert und zur Rechenschaft gezogen wurden. Daraufhin "half" man ihnen, die "richtigen" Gedanken zu erarbeiten, während es gleichzeitig auch für sie Pflicht wurde, anderen Gefangenen auf die gleiche Art zu "helfen".

Gibt man sich dieser Manipulation vertrauensvoll hin, kann ein Gefühl der Erfüllung und der höheren Bestimmung entstehen. Man ist Teil des Prozesses, Teil der Geschichte oder der Revolution. Verliert man dieses Vertrauen jedoch, oder widersetzt man sich dieser Manipulation von vornherein, steht man immensem Druck entgegen, welcher dazu führen kann, dass man schlussendlich daran zerbricht oder zumindest lernt "mit dem Strom zu schwimmen", um zumindest den Eindruck von Konformität zu vermitteln.


3) Forderung nach absoluter "Reinheit"

Damit ist die Forderung nach absolut moralischer "Reinheit" und Ergebenheit zur Sache gemeint. Es wird eingeteilt in "Rein" =gut und "Unrein" =böse (sündig, wenn man so will).

Das "Gute" und "Reine" beinhaltet Ideen, Gefühle und Taten, die mit der totalitären Ideologie und deren Geboten konform gehen, während alles andere als "Böse" und "Unrein" gilt, und dementsprechend scharf verurteilt wird, das aufgezeigt und eliminiert werden muss. Es entsteht ein Kampf gegen das "Böse", in dem der Zweck die Mittel heiligt und jede Tat - egal, wie unmoralisch - gerechtfertigt ist, solange sie im Namen der Revolution bzw. des "Guten" geschieht.

Dadurch wird ein Klima moralischer Schuld bzw. Scham erzeugt, indem jeder dazu angehalten wird, permanent seinen eigenen Glauben zur Sache zu demonstrieren. Nach außen hin kann das u.a. relativ unkompliziert durch das sog "Virtue Signalling" (Symbolische, öffentliche Demonstrationen, dass man die "richtige Gesinnung" vertritt) erreicht werden, mit dem man sich selbst auf der "richtigen Seite" präsentiert, ohne sich dabei tiefer in die Sache involvieren zu müssen.

Der immense soziale Druck, der durch dieses Klima entsteht, führt dazu, dass Menschen aus dem Wunsch heraus, nicht aus der Gesellschaft bzw. der Bewegung ausgestoßen und als Feind deklariert werden, einknicken und ihre eigenen Moralvorstellungen, Zweifel und Ansichten der Ideologie unterordnen.

Das psychologische Phänomen der "Projektion" (in dem eigene, unbewusste Gefühle, Zweifel, Schuld, etc. auf die Mitmenschen projiziert werden) wird dabei gefördert und je mehr internalisierte Schuld ein Mensch empfindet, desto hasserfüllter und fanatischer projiziert er diese auf seine Mitmenschen.


4) Kult des Geständnisses

Hand in Hand mit der Forderung nach Reinheit geht die Obsession mit dem "Geständnis". Dabei wird ab einem bestimmten Punkt sogar gefordert, dass Sünden gestanden werden, die niemals begangen - oder auch nur gedacht worden sind. Dadurch entsteht ein Klima künstlich erzeugter Schuld, welche die Erinnerung der Opfer zu untergraben beginnt und in ihnen den Eindruck erweckt, sie hätten diese Sünden tatsächlich begangen.

Anstatt Erleichterung und Absolution zu bringen, wird das Geständnis als Druckmittel benutzt, das einen permanent mit den vergangenen "Sünden" konfrontiert und dazu zwingt, sich zu "bessern", sich nach Vorbild des totalitären Regimes zu formen.

Sog. "Sharing Sessions" oder "Struggle Sessions", in denen gemeinschaftlich "Sünden", "schlechte Gedanken", "internalisierte Glaubenssätze" etc. geteilt werden, können dabei eine eigene Dynamik entwickeln, in welcher die Geständigen ein berauschendes Gefühl der Einheit verbindet.

Ironischerweise führen derartige "Geständnis Sessions" teilweise dazu, dass sie zu einem performativen Akt verkommen, welcher der Selbstdarstellung dient und dazu, andere zu verurteilen. "Je mehr, ich mich selbst verurteile, desto mehr habe ich das Recht, dich zu verurteilen."


5) Heilige Wissenschaft

Das totalitäre Milieu bewahrt eine heilige Aura um sein grundlegendes Dogma und macht aus diesem die ultimative, moralische Vision für die Ordnung der menschlichen Existenz. Zugleich nimmt das Milieu für sich in Anspruch, dass diese Vision der absoluten Logik entspricht und absolute, wissenschaftliche Präzision besitzt.

Damit wird jede Person, die sich dagegen ausspricht, nicht nur "unmoralisch", sondern auch "unwissenschaftlich".

Die Doktrin des totalitären Milieus schwingt sich damit zu einer Art "Gott" auf, einer Mischung aus Pseudo-Religion und Pseudo-Wissenschaft. die den Anspruch auf die "absolute Wahrheit" erhebt, die für alle Menschen zur jeder Zeit gültig ist. Dadurch kann sie dem Einzelnen, der darauf vertraut und sich ihr "hingibt" ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit verleihen.

Langfristig erweist es sich jedoch als schwierig, dieses bedingungslose Vertrauen bzw. den Anspruch an "ultimative Wahrheit" aufrecht zu erhalten, da die "heilige Wissenschaft" früher oder später mit der unveränderbaren Realität im Widerspruch steht und Erfahrung und Dogma zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.


6) Aufgeladene Sprache

Die Sprache des totalitären Umfelds wird von "Gedankenterminierenden" Klischees geprägt. Vielseitige und weitreichende Probleme und Themengebiete werden in kurze, einprägsame Schlagworte gepackt, die leicht gemerkt und schnell ausgesprochen werden können.

Sie dienen dazu, nuancierte Themen in schwarz und weiß zu unterteilen, in Begriffe des absolut Guten und absolut Bösen, die durch diese aufgeladene Bedeutung jede weitere Diskussion im Keim ersticken.

Während der chinesischen Gedankenreform standen z.B. Begriffe wie "Fortschritt", "Befreiung", "Progressivität", "proletatische Blickwinkel" und "Dialektik der Geschichte" für das ultimativ Gute.

Begriffe wie "Kapitalist", "Imperialist", "Ausbeutende Klassen", "Burgeoise (Mentalität/Moral/Gier/Liberalismus)", "Konterrevolutionär" standen für das ultimativ Böse.

Solche Schlagworte dienten dazu, zu kategorisieren und zu verurteilen und bis zu einem gewissen Grad, existiert diese Art von Sprache in jeder Kultur oder Organisation und alle Glaubensrichtungen stützen sich darauf. Es ist unter anderem ein Zeichen von Zusammengehörigkeit und Exklusitivät.

Oder, wie Edward Sapir sagt: "'Er spricht wie wir' ist gleichbedeutend, wie zu sagen 'Er ist einer von uns."

In einem totalitären Milieu ist eine derart aufgeladene Sprache jedoch um ein vielfaches extremer und dient dazu, die Gedanken, Kreativität und Ausdrucksweise der Menschen einzuengen und regelrecht "in Ketten zu legen".


7) Doktrin über Person

Der auf Klischees reduzierte Sprachcode reflektiert einen anderen, charakteristischen Bereich ideologischen Totalitarismus: Das Unterordnen persönlicher Erfahrung der Doktrin und "Wahrheit" des totalitären Milieus.

Persönliche Erfahrungen werden nur mehr durch die Brille der vorgegebenen Doktrin bzw. des vorgegebenen Narrativs gefiltert und interpretiert. Dadurch kann u.a. das Bild der "guten Kameraden" trotz schlechter Erfahrungen aufrecht erhalten werden, während gute Erfahrungen mit "dem Feind" so interpretiert werden können, dass das vorgegebene Weltbild aufrecht erhalten bleibt.

Dadurch wird die Doktrin, eine abstrakte Idee, über den Menschen und dessen Erfahrungen gestellt. Sie dehumanisiert ihn und stellt ihn als "falsch" dar, wenn seine realen Erfahrungen nicht mit der theoretischen Idee der Doktrin konform gehen.

Dadurch entsteht im Individuum ein immenser Konflikt zwischen der erlebten Realität und dem Widerspruch zur Doktrin - was dazu führen kann, dass die Person sich als "böse", "unrein", "falsch" wahrnimmt, oder einen Weg findet, das Erlebte so zu rechtfertigen, um es in das vorgegeben Narrativ zu pressen.


8 ) Zugestehen der Existenz

Das totalitäre Milieu zieht eine scharfe Linie zwischen jenen (innerhalb des Kults bzw. des Regimes), die das Recht haben zu existieren, und jenen (außerhalb des Kults bzw. des Regimes, den Andersdenkenden, den Kritikern, etc.), die kein Recht darauf haben.

Während der Kulturrevolution in China wurde dabei strikt unterteilt in jede, die zum "Volk" bzw. "The people" gehörten (all jene, die zur kommunistischen Partei und zur Arbeiterklasse gehörten) und den "Feinden", den "non-people" (Konterrevolutionäre, Reiche Bürger, etc.).

Dabei ist es gang und gäbe, die als "Feind" deklarierten Bevölkerungsgruppen zu dehumanisieren, um ihnen ihre Existenzberechtigung abzusprechen und Gewalt und Mord zu rechtfertigen.
Zitat"Not to have a correct political point of view is like having no soul" - Mao Zedong

Durch den Prozess der Gedankenreform wurde es den "Non-People" jedoch erlaubt, in den Kreis der "People" aufgenommen zu werden - wenn sie ihre "Sünden" und "falschen Gedanken" gestanden, ihre Einstellung änderten, ihre ehemaligen Freunde und Angehörigen denunzierten.

Umso klarer eine Umgebung diese 8 Punkte widerspiegelt, desto mehr ähnelt sie einem Milieu des ideologischen Totalitarismus und umso mehr Techniken sie daraus anwendet, um Menschen zu beeinflussen und zu verändern, desto mehr entspricht sie einer Umgebung der Gedankenreform.



Die Konsequenzen: Was passiert mit dem Selbst?

Die authentische Identität wird durch 3 Schritte mit einer künstlich erschaffenen "Kult"Identität ersetzt. Das Modell stammt von Kurt Lewin, der es in den 1940ern entwickelte.


Entscheidungsfreiheit ist das Erste, was einem in der kultischen Umgebung genommen wird. Die Person agiert nicht mehr als Individuum, sondern als Teil der Gruppe. Ihre neue Kultpersona diktiert ihre Glaubenssätze, ihre Sprache und ihr Verhalten.

Steven Hassan beschreibt eindrucksvoll, wie sich diese beiden Identitäten (das authentische Selbst und das Kult-Selbst) in einer Person manifestieren und miteinander im Konflikt stehen, da das authentische Selbst niemals zu 100% ausgelöscht werden kann - selbst bei Menschen, die in einen Kult hineingeboren werden.

Dies äußert sich auf verwirrende Art für Außenstehende, da der Betroffene oft in einem Moment Kult-Jargon spricht, mit einem feindseligen, elitären Ton, während er einen Augenblick darauf - womöglich mitten im Satz - plötzlich in sein vertrautes, "altes Selbst" zurückschnappt.

Das Kult-Selbst wirkt angespannt, kalt und mechanisch, wiederholt immer wieder die Glaubenssätze und Lektionen des Kults auf eine unangebrachte, übergriffige Art und Weise. Die Körperhaltung wirkt steif, die Augen oft starr und glasig und scheinen durch einen hindurchzusehen. Dieses Selbst ist so "eingefroren", dass es selbst Misshandlungen durch den Kultanführer nicht verarbeiten oder gar angemessen darauf reagieren kann.

Das Authentische Selbst dagegen wirkt natürlicher, ist offener für Spontanität, vielleicht gar humorvoll, und hat Zugriff auf eine weitaus größere Palette an Emotionen, die auch bereitwilliger geteilt werden. Nur über diesen Teil der Person besteht eine Chance, Zugang zu finden und Veränderung anzustoßen.

(Aber den Part darüber, wie man Mitgliedern helfen kann, packe ich ggf. mal in einen zweiten Post - aus dem hier ist eh schon ein Roman geworden )



Zum Schluss: Wichtige Kulttaktiken und Begriffe

Gaslighting:
Ein gängiger Begriff und eine gängige Taktik toxischer Personen, um ihre Opfer zu manipulieren. Die Täter bauen dabei ein eigenes Narrativ auf, mit dem sie das Opfer konfrontieren, damit dieses nach und nach beginnt, sich selbst zu hinterfragen und an sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Die Täter lügen dabei, spielen die Gefühle und Gedanken ihres Opfers herunter, stellen es v.a. vor Freunden und Familie bloß, lenken - wenn man ihr Verhalten aufzeigt - vom Thema ab und verdrehen Geschehnisse in der Vergangenheit zu ihren Gunsten. Sie manipulieren oft bewusst mit freundlichen Worten und Zusicherungen, weisen jede Schuld von sich und schieben sie dabei meist gleichzeitig ihrem Opfer zu.

D.A.R.V.O (Deny - Attack - Reverse the role of - Victim and - Offender): D.A.R.V.O ist eine Form von Gaslighting und eine klassische (oft unbewusste) Taktik toxischer Personen, die sie benutzen, wenn man ihr problematisches Verhalten, ihre Schandtaten oder ihre Provokationen aufzeigt. Sie besteht aus:
1) Leugnen, dass die Misshandlung/Provokation/Lüge/etc. jemals stattgefunden hat
2) Angriff: Auf die Glaubwürdigkeit desjenigen, der darauf aufmerksam gemacht hat und/oder auf das Opfer selbst
3) Die Rolle von Täter und Opfer umkehren: Argumentieren, dass der Täter das eigentliche Opfer ist, womit er gleichzeitig Victim Blaming betreibt und dabei selbst das Opfer spielt.
Bsp:
A: "Hey! Du wolltest meinen Sohn durch euren dubiosen Workshop in euren Kult reinziehen!"
B: "Was? So ein Unsinn. Du bist ja paranoid! WIR sind nur eine kleine Gruppe Freiwilliger, die sich in ihrer Freizeit für arme Leute einsetzt! DU würdest sie wohl einfach nur wegsperren wollen, wenn du das als etwas schlechtes siehst, was?!"

Social Proof:
Soziale Bestätigung spielt eine große Rolle beim Bedürfnis des Menschen nach Konformität, Zugehörigkeit und Bestätigung. Gerade in einer neuen Umbegung orientiert man sich oft am Verhalten anderer, um zu wissen, was erwartet wird. In einer vertrauten Umgebung bestätigt dieses konforme Verhalten - in Redewendungen, Gesten, Ritualen, etc. - die Zusammengehörigkeit der Gruppe. Gerade in totalitären Umgebungen kann dieser Faktor als Druckmittel benutzt werden, um konformes Verhalten zu erzwingen und jene bloßzustellen und zu bestrafen, die sich dem nicht beugen - oder nicht genügend Ergebenheit dabei demonstrieren.

Struggle session:
In den "Umerziehungslagern" Mao Zedongs galt als wirksame Methode eine sog. "Struggle Session", in der Gefangene gemeinsam ihre "Sünden" und "falschen Gedanken" gestehen mussten, wofür sie von ihrem Mitgefangenen kritisiert und zur Rechenschaft gezogen wurden. Daraufhin "half" man ihnen, die "richtigen" Gedanken zu erarbeiten, während es gleichzeitig auch für sie Pflicht wurde, anderen Gefangenen auf die gleiche Art zu "helfen". Im digitalen Zeitalter eröffnen sich durch Social Media & Co. weitaus weitreichendere - und langlebigere Möglichkeiten.

Lovebombing: Gerade in der Anfangsphase ist es bei Rekruten und neuen Mitgliedern gang und gäbe, sie mit "Liebe" zu bombardieren, um ihnen das Gefühl zu geben, besonders und erwünscht zu sein. Ihnen wird versichert, wie liebenswert, besonders, schön, klug, talentiert, etc. sind und bei den Neulingen entsteht ein High - das sie später zurückerlangen wollen, wenn das Verhalten und die ehemals "liebevolle" Umgebung plötzlich kippt.

Loaded Language:
Wörter werden wahlweise erfunden, und die Bedeutung gängiger Begriffe werden verändert, sodass sie in der Doktrin des Kultes etwas anderes bedeuten, als für die restliche Gesellschaft "außerhalb" des Kultes. Manche Begriffe werden emotional aufgeladen und zu gedankenterminierenden schwarz/weiß Klischees, die jede weitere Konversation im Keim ersticken. Das kann verwirrend sein und vor allem als Werkzeug zur Täuschung eingesetzt werden, wenn Kultmitglieder mit potenziellen Rekruten sprechen und ihnen mit schönen Worten das Blaue vom Himmel versprechen - während diese Worte innerhalb des Kultes jedoch etwas ganz anderes bedeuten.
Zitat"(They) share your vocabulary but they don´t share your dictionary" - James Lindsay

Phobie Indoktrination:
Das ist ein mächtiges Werkzeug, das dazu benutzt wird, um in den Mitgliedern starke Ängste hervorzurufen: Vor der Außenwelt, vor kultfremden Personen und Institutionen, davor, was Schreckliches mit den Mitgliedern passieren würde, sollten sie den Kult verlassen. Das bindet die Mitglieder an den Kult, raubt ihnen die freie Entscheidungsmacht und hält sie davon ab, mit "Außenstehenden" in Kontakt zu treten, die in der schwarz/weißen Welt des Kultes als "unwissend" oder "böse" gelten.



Quellen
Bücher
Steven Hassan - Combating Cult Mind Control: The #1 Best-Selling Guide to Protection, Rescue, and Recovery from Destructive Cults (https://www.amazon.de/Combating-Cult-Mind-Control-Best-Selling/dp/B07GZQQY2X/)
Steven Hassan - Freedom of Mind: Helping Loved Ones Leave Controlling People, Cults, and Beliefs (https://www.amazon.de/Freedom-Mind-Helping-Controlling-Beliefs-ebook/dp/B09S6SR735/)
Robert Jay Lifton - Losing Reality: On Cults, Cultism, and the Mindset of Political and Religious Zealotry (https://www.amazon.de/Losing-Reality-Political-Religious-Zealotry-ebook/dp/B07N8H4W7W/)
Robert Jay Lifton - Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of 'brainwashing' in China (https://www.amazon.de/Thought-Reform-Psychology-Totalism-brainwashing-ebook/dp/B006M9RZQA/)

Youtube Interviews
Cults: From Tom Cruise to Adolf Hitler | EP 170 Rick Alan Ross (https://youtu.be/FMCldZKdo5w?si=Q1XErtArYSnEmE3A)
What is a cult? | Mark Vincente (https://youtu.be/OSYKESPovBQ?si=dtF566Ho8KeDhF3B)
Why we helped grow, then destroy the NXIVM Sex Cult (https://youtu.be/LDgAQtabqIU?si=bVX1o5j193tDQkty)
Prickly People! (https://youtu.be/FAdknDU3s0o?si=Bun00WKpnG97Av1q)
NXIVM Sex Cult: Top Recruiter Speaks Out ft. Sarah Edmondson (https://youtu.be/SD0hmdAjoD0?si=VUVATuU8OkQVouVS)

Websites
Mark Vincente - What is a Cult? (https://www.markvicente.com/thoughts/2023/5/15/what-is-a-cult)
Freedomofmind.com - BITE Modell (https://freedomofmind.com/bite-model/)
Freedomofmind.com- Cult mind control (https://freedomofmind.com/cult-mind-control/)
Freedomofmind.com - Influence Continuum (https://freedomofmind.com/cult-mind-control/influence-continuum/)
Verywellmind.com - Protecting yourself from DARVO (https://www.verywellmind.com/protecting-yourself-from-darvo-abusive-behavior-7562730)
Verywellmind.com - Gaslighting (https://www.verywellmind.com/is-someone-gaslighting-you-4147470)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Biene am 19. Oktober 2023, 14:31:23
Halleluja, da hast du dir aber viel Mühe gegeben.  :pompom: Vielen Dank fürs Teilen, das muss ich mir in einer ruhigen Minute genauer anschauen.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Soly am 19. Oktober 2023, 15:21:07
Ich habe gerade mal überflogen und nicht alles im Detail gelesen, und ich bewundere ganz ehrlich die Arbeit, die du da reingesteckt hast, das alles so zu sammeln und zu sortieren und aufzubereiten.
Und deswegen tut es mir fast leid, das so hart zu sagen, aber ich bin ein wenig skeptisch. Ich reiße mal in Kurzfassung ab, warum:

Die Ausführungen zu Gedankenreform und Gehirnwäsche wirken auf mich sehr theoretisch und zwar in sich geschlossen und plausibel, aber irgendwie überhaupt nicht vereinbar mit dem ganzen Rest des psychologischen Wissensstandes dazu, wie Einstellunge und Verhalten sich beeinflussen lassen. Am Ende ist es ja Einstellungsänderung, wozu es mega viel Forschung, Modelle, und Ansätze gibt, auf die Steven Hassan hätte Bezug nehmen können (und müssen meiner Meinung nach), aber das alles hier scheint völlig losgelöst davon zu sein ohne jeden Bezug zur restlichen Wissenschaft. Das Gleiche gilt für das BITE-Modell, in dem viele Anleihen zu existierenden Theorien stecken, ohne dass sie zitiert oder kenntlich gemacht werden.
Und zuletzt frage ich mich als Psycholog:in - bei all diesen Techniken, die Kulte auf ihre Mitglieder anwenden, die scheinbar außerhalb der Verhaltenswissenschaften existieren, und wenn das Problem, wie Steven Hassan sagt, immer größer wird und es immer mehr Kulte gibt, die wachsen, warum sieht man dann nicht immer häufiger die Auswirkungen auf die Mitglieder? Wenn Kulte eine Persönlichkeit so grundlegend verändern können, warum sieht die klinische Psychologie nicht einen massiven Anstieg an diesen diagnostizierbaren Persönlichkeitsveränderungen? Warum gibt es keine Meldungen von Angehörigen? Warum höre ich immer nur dann von Kulten, wenn Kultexpert:innen vor ihnen warnen?
Natürlich kann ich davon ausgehen, dass ich davon nichts mitkriege, weil die Kulte so mächtig sind, Verschleierungstaktiken haben, die Berichterstattung kontrollieren, in Parallelgesellschaften leben. Natürlich kann die Tatsache, dass man im Alltag nichts davon hört, gerade bestätigen, dass diese Kulte so funktionieren, wie Steven Hassan es beschreibt.
Aber das ist genau das Problem: Die Theorie ist tautologisch, in sich abgeschlossen, und liefert selbst die Begründungen für ihre Existenz. Es gibt keine anderen wissenschaftlichen Theorien, in die sie sich einbetten lässt. Es gibt keine Möglichkeit, anhand von realweltlichen Beobachtungen die Theorie zu widerlegen. Egal, wie die Welt da draußen aussieht, die Theorie hat Recht. Und das macht sie nach wissenschaftlichen Maßstäben leider wertlos.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Araluen am 19. Oktober 2023, 15:58:10
Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe @Soly.
Ziehst du in Zweifel, dass Kulte existieren und ihre Mitglieder durch Gehirnwäsche manipulieren?
Ziehst du in Zweifel, dass die genannten Methoden nachweislich existieren?
Kritisierst du, dass Hassan "schlampig" im journalistischen Sinne gearbeitet hat und eben mehr auf bereits belegte Modelle und Ansätze hätte eingehen und diesen hätte nennen sollen?
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 16:02:51
@Soly  Ich möchte hier keine Diskussion lostreten und auch keine eigene Meinung zu dem Thema abgeben, deswegen entschuldige bitte, wenn meine Antwort nur kurz ausfällt.  :)
Ich hätte den Beitrag natürlich noch mit Statistiken und Beispielen erweitern können, aber das hätte, fürchte ich, den Rahmen gesprengt und der Beitrag ist so schon lange genug. Die Personen, auf deren Wissen ich mich in dem Beitrag beziehe, sind Experten, von denen manche selbst jahrelang in derartigen Strukturen gefangen waren und/oder mit Betroffenen und Überlebenden gearbeitet haben. Da sie bei ihrer Arbeit aus diesen Erfahrungen schöpfen, die vielen von uns absolut fremd sind, und ihr Leben der Erforschung und Aufklärung und der Hilfe von Betroffenen gewidmet haben und aktiv mit diesen arbeiten, schätze ich persönlich ihre Erfahrung als sehr wertvoll ein - für mich selbst und für meine Geschichten. Deswegen habe ich diesen Beitrag geteilt.
Aber ich denke, diese Einschätzung ist subjektiv und kann von jedem für sich selbst getroffen werden.  :)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Manouche am 20. Oktober 2023, 10:23:01
Grossartig diese Arbeit! Vielen Dank fürs Teilen @Rhagrim

Ich befasse mich in meinem Roman zwar nicht mit Kult, aber sehr wohl mit totalitären Regierungen und Manipulation. Also das hilft mir auf jeden Fall.
Ich habe nicht alles gelesen, aber das was für mich relevant ist, hat mich in vielem bestätigt und weiter inspiriert. (Obwohl bei einem solchen Thema ist "inspirieren" ein fragwürdiges Wort.)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sparks am 21. Oktober 2023, 22:12:51
Hallo Soly und Rhagrim

Zitat von: Soly am 19. Oktober 2023, 15:21:07Und zuletzt frage ich mich als Psycholog:in - bei all diesen Techniken, die Kulte auf ihre Mitglieder anwenden, die scheinbar außerhalb der Verhaltenswissenschaften existieren, und wenn das Problem, wie Steven Hassan sagt, immer größer wird und es immer mehr Kulte gibt, die wachsen, warum sieht man dann nicht immer häufiger die Auswirkungen auf die Mitglieder? Wenn Kulte eine Persönlichkeit so grundlegend verändern können, warum sieht die klinische Psychologie nicht einen massiven Anstieg an diesen diagnostizierbaren Persönlichkeitsveränderungen? Warum gibt es keine Meldungen von Angehörigen? Warum höre ich immer nur dann von Kulten, wenn Kultexpert:innen vor ihnen warnen?

Mir liegt eine Diplomarbeit der Fachhochschule Villingen – Schwenningen - Hochschule für Polizei - vor, von 2001, erstellt von Robert Nowotny mit dem Titel "Satanismus -
die unterschätzte Gefahr für die Innere Sicherheit?" wo dieses angesprochen wird. Der dort angeführte Satanismus war für die Polizeiarbeit zumindest 2001 irrelevant.
Das mag jetzt etwas hinken, weil 2001 ist lange her, und ausgerechnet Satanismus als exemplarisches Beispiel für einen Kult zu nehmen ist auch hinkend. Die meisten Sekten, die einem über den Weg laufen sind nach ihrem eigenem Selbstverständnis auch keine Satanisten.

Leider finde ich auf die schnelle keinen Link auf dieses Dokument, obwohl ich den Verdacht habe, dass es sich noch im Netz befindet.

Allerdings wenn ich mir die aktuelle Situation mit Querdenkern und extremistischen politischen Positionen ansehe, erkenne ich schon eine grundsätzliche Ähnlichkeit, aber auch gewisse Unterschiede. z.B. das die aktuellen Querdenker und politischen Extremisten zwar okult operieren mögen, ihre Agenda, soweit sie öffentlich äußerbar ist, aber auch nach aussen kommunizieren. Das sieht bei den Teilen ihrer Agenda, die sanktioniert sind, ich denke da an z.b. offenen Antisemitismus und Rassismus, natürlich anders aus.

Es ist meines Wissens auch nicht so selten, dass die psychischen Auswirkungen von Kulten in der Psychotherapie thematisiert werden, wenn man den Begriff "Kult" weit genug fast. Und damit schließe ich dann die etablierten Kirchen und andere Gruppen wie z.B. Anthroposophen, Scientology oder aus dem Ruder gelaufene "Teambildungsrituale" und Mobbing in Schule und Beruf mit ein. Die von Rhagrim angesprochenen Punkte finden sich dort oft in irgendeiner Form wieder, wenn auch selten alle gleichzeitig. Nein, ich bin kein Psychologe, aber ich habe Lebenserfahrung und war auch schon selber in einer Psychotherapie. Doch dazu später. 


Zitat von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 16:02:51Die Personen, auf deren Wissen ich mich in dem Beitrag beziehe, sind Experten, von denen manche selbst jahrelang in derartigen Strukturen gefangen waren und/oder mit Betroffenen und Überlebenden gearbeitet haben.

Und das ist der Knackpunkt. Diese Leute sind in einer Rolle als Praktiker und nicht unbedingt als Wissenschaftler, d.H. sie schildern ihre Erfahrungen und ihre daraus gewonnenen Schlussfolgerungen, aber das sollte man eher als Arbeitshypothese und nicht als gefestigte wissenschaftliche Theorie betrachten, zumal gerade in der Psychologie sowieso viel im Umbruch ist. Viele scheinbar gesicherte Erkenntnisse aus den 60er, 70er, 80er Jahren sind stark hinterfragt worden, und viele der Studien stellten sich als problematisch heraus. Vor allem was die Auswahl der Testprobanden und die Größe der Testgruppen betrifft. Es ist auch heute noch sehr schwer, für z.B. eine Diplomarbeit oder Doktorarbeit eine Untersuchung zu machen, weil es schwer ist, die Stichprobengröße ausreichend hoch zu bekommen (1000 ist heute eher untere Grenze) und wenn die Studienersteller aus Probanden aus ihrem Umfeld zurückgreifen müssen, enthält auch dieses Umfeld schon einen Bias z.B. "studentisches Umfeld überproportional".

Eine Arbeitshypothese zur Grundlage von aktuellen Handlungen zu machen ist auch nicht verwerflich, wenn man nichts besseres hat. Man darf allerdings eine Arbeitshypothese auch nicht als etwas anderes als Arbeitshypothese bezeichnen. Und eine Arbeitshypothese hat auch möglicherweise nur sehr indirekt etwas mit den tatsächlichen Ursachen oder einer gesicherten Theorie darüber zu tun.

Das sieht in meiner Praxis als Elektroniker aber auch nicht viel anders aus. Du hast eine Reihe von fehlfunktionierenden Geräten mit ähnlichen, aber durchaus differierenden Fehlerbeschreibungen. Fehlerbeschreibungen sind aber schon sehr subjektiv, besser ich sehe mir das mal selber an....und dann stehe ich vor der Aufgabe das Gerät so schnell wie möglich mit so wenig Kosten wie möglich wieder Instandzusetzen, wobei Arbeitszeit einer der teuersten Faktoren ist. Also mache ich eine Arbeitshypothese und tausche "blindlings" bei ähnlichen Fehlern eine bestimmte Komponente. Wenn ich damit eine ausreichend große Anzahl repariert bekomme, ist der Chef zufrieden. Ob das Tauschen der Komponente die wirkliche Ursache beseitigt hat, weiss ich nicht. Alleine das Wackeln und Ziehen an Leitungen kann z.B. einen Wackelkontakt beseitigen, und je nach spezieller Situation kann das sogar dauerhaft sein. Erst wenn diese Vorgehensweise zu einem nicht hinnehmbaren Qualitätsverlust oder zu hohem Aufwand führt, wird weiter in der Tiefe geforscht. Die gefundene Ursache muss dann überhaupt nicht direkt mit der Fehlerbeschreibung in Zusammenhang stehen. Ein flackerndes Display kann z.B. seine Ursache in einem Wackelkontakt in einer Leitung oder einem Stecker haben, oder in einer kalten Lötstelle oder einem missglückten Bonding in einem IC, oder es sind nur tragischerweise zwei Toleranzschwellen so zusammengeraten, das die Spannung eines Netzteiles in der Toleranz schwankt, und eine folgende Baugruppe, ebenfalls in ihrem Toleranzrahmen, das als Spannungsausfall interpretiert, und sich abschaltet, aber sofort wieder ein, wenn die Spannung wieder passt.
Ich sehe immer, das Mediziner, und dazu zählen halt auch z.B. Psychater und Psychotherapeuten, ähnlich arbeiten. Ebenfalls auch Psychologen, wenn sie nicht in der Forschung tätig sind, sondern eher praktisch z.B. in der Werbung.

Beispiel: Das "Neurolinguistische Programmieren" arbeitet mit wirksamen Methoden, ist aber nicht wissenschaftlich untermauert. Insbesonders bestehen wenig Erkenntnisse über Nebenwirkungen und Seiteneffekte. D.h. ein Staubsaugerfertreter mag damit mehr als andere Staubsaugervertreter verkaufen, aber ob er nicht auf einer anderen Ebene Schaden (Vertrauensverlust) anrichtet, kann er nicht erkennen, und es interessiert ihn auch nicht. Ebenso weiss er nicht weiter, wenn seine Methodik mal nicht funktioniert.
Das ist wie bei den Alchemisten, die nach bestimmten Regeln, die mit Wissenschaft in unserem heutigen Sinne nichts zu tun hatten, Mixturen aus der Erfahrung heraus herstellten. Das hatte durchaus Wirkung, aber wegen mangelnder Kenntnisse konnten sie viele Fehlermöglichkeiten nicht ausschliessen. Aber ihr Verdienst und (teilweise) Erfolg war damit begründet, das sie versuchten, so systematisch vorzugehen, wie es ihnen möglich war.

Grüße Bernd
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 21. Oktober 2023, 23:35:56
Zitat von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 16:02:51Die Personen, auf deren Wissen ich mich in dem Beitrag beziehe, sind Experten, von denen manche selbst jahrelang in derartigen Strukturen gefangen waren und/oder mit Betroffenen und Überlebenden gearbeitet haben. Da sie bei ihrer Arbeit aus diesen Erfahrungen schöpfen, die vielen von uns absolut fremd sind, und ihr Leben der Erforschung und Aufklärung und der Hilfe von Betroffenen gewidmet haben und aktiv mit diesen arbeiten, schätze ich persönlich ihre Erfahrung als sehr wertvoll ein - für mich selbst und für meine Geschichten.

Als Inspirationsquelle sind ihre Arbeiten bestimmt wertvoll, aber ich glaube, Soly beurteilt eher die Wissenschaftlichkeit der Theorien und da gibst du ihr selbst ja Recht. Dass die beiden mit Betroffenen und Überlebenden gearbeitet haben oder selbst Teil von Kulten waren ist an sich kein Beweis dafür, dass die Theorien wissenschaftlichen Kriterien standhalten können. Freud hatte auch viel mit Patient*innen zu tun, seine Theorien sind trotzdem ziemlicher Humbug, weil in seiner Patient*innenarbeit jegliche wissenschaftliche Methodik fehlt. Anekdotische Evidenz kann genutzt werden, um Hypothesen zu generieren, aber das wissenschaftliche Überprüfen dieser Hypothesen ist ein wesentlicher Teil des Prozesses, der nötig ist, um solchen Theorien das nötige wissenschaftliche Fundament zu geben.

Zitat von: Araluen am 19. Oktober 2023, 15:58:10Ziehst du in Zweifel, dass Kulte existieren und ihre Mitglieder durch Gehirnwäsche manipulieren?

Gehirnwäsche an sich ist kein von der Wissenschaft gut gestütztes Konstrukt. In der Wissenschaft wird der Begriff meines Wissens nach auch nicht verwendet. Es ist umstritten, ob Gehirnwäsche überhaupt möglich ist.

Zitat von: Soly am 19. Oktober 2023, 15:21:07Am Ende ist es ja Einstellungsänderung, wozu es mega viel Forschung, Modelle, und Ansätze gibt, auf die Steven Hassan hätte Bezug nehmen können (und müssen meiner Meinung nach), aber das alles hier scheint völlig losgelöst davon zu sein ohne jeden Bezug zur restlichen Wissenschaft.

Das will ich nochmal unterschreiben. Zu Einstellungsänderungen gibt es wahnsinnig viel Forschung. Darauf überhaupt keinen Bezug zu nehmen erscheint mir verdächtig.

Zitat von: Sparks am 21. Oktober 2023, 22:12:51Es ist auch heute noch sehr schwer, für z.B. eine Diplomarbeit oder Doktorarbeit eine Untersuchung zu machen, weil es schwer ist, die Stichprobengröße ausreichend hoch zu bekommen (1000 ist heute eher untere Grenze) und wenn die Studienersteller aus Probanden aus ihrem Umfeld zurückgreifen müssen, enthält auch dieses Umfeld schon einen Bias z.B. "studentisches Umfeld überproportional".

Das mit dem studentischen Bias stimmt schon, aber bei genauen Zahlen wäre ich auch nochmal vorsichtig. Das kommt auch sehr auf das Design der Studie und die statistischen Analysen an. Prinzipiell ist die Sache auch: Je mehr Versuchspersonen ich habe, desto einfacher werden meine Ergebnisse rein rechnerisch signifikant. Sehr große Studien mit 100.000 Proband*innen bekommen sehr leicht signifikante Ergebnisse. Deshalb muss man hier nicht nur auf die Signifikanz, sondern auch auf die Größe des Effekts schauen, der beobachtet wurde. Mittlere oder große Effekte findet man auch mit weniger Versuchspersonen. Für kleinere Effekte brauche ich mehr Versuchspersonen, aber dann muss ich mich fragen: Warum ist dieser Effekt so klein? Wenn er klein ist, ist er dann für die Praxis überhaupt relevant?

Was aber noch wichtiger ist: Eine Studie allein sagt nicht so viel aus. Effekte psychologischer Studien sind oft nicht reproduzierbar. Wenn ich also einen Effekt in einer Studie finde, kann ich noch lange nicht davon ausgehen, dass er irgendwie belegt ist. Erst, wenn er über unabhängige Studien hinweg immer wieder aufgezeigt wird, kann man anfangen davon auszugehen, dass man wirklich etwas auf der Spur ist.

Zitat von: Sparks am 21. Oktober 2023, 22:12:51Eine Arbeitshypothese zur Grundlage von aktuellen Handlungen zu machen ist auch nicht verwerflich, wenn man nichts besseres hat. Man darf allerdings eine Arbeitshypothese auch nicht als etwas anderes als Arbeitshypothese bezeichnen. Und eine Arbeitshypothese hat auch möglicherweise nur sehr indirekt etwas mit den tatsächlichen Ursachen oder einer gesicherten Theorie darüber zu tun.

Ganz genau! Das möchte ich noch einmal dick unterstreichen.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10
Ich höre sehr viele Podcasts zum Thema Kulte, weil ich es einfach wahnsinnig interessant finde, was mich natürlich mitnichten zur Expertin macht. Aber was sich dabei in den letzten Jahren sehr stark für mich herauskristallisiert, ist, dass die Mechaniken und Dynamiken von Kulten auf viel mehr und teilweise auch völlig harmlose Strukturen zutreffen, als man bisher gedacht hat. Vermutlich sind Kulte, der Einstieg und ihre Wirkungsweise auch insgesamt ebenso unterschiedlich, wie Menschen es sind. Ich könnte mir daher vorstellen, dass eine feststehende Liste an dogmatischen Punkten zur Kategorisierung und vor allem zur Abstufung nicht unbedingt hilfreich oder sinnvoll ist.

Es gibt einige Kulte, die sich aus gut gemeinten Ansätzen für Communities entwickelt haben. Kultleader, die das nicht geplant hatten, was sie natürlich nicht entschuldigt, aber zeigt, dass es unwahrscheinlich viele Schattierungen und Entstehungsgeschichten gibt.

Was die Gehirnwäsche angeht, gibt es heute sehr viele Hinweise darauf, dass sie nicht so funktioniert, wie man sich das vorstellt, bzw. überhaupt existiert. Wie @Mondfräulein sagte. Wenn ich mich recht erinnere, wird der Begriff "Gehirnwäsche" von Wissenschafltern auch gar nicht benutzt.

Besonders interessant im Kontext der Behauptung, dass Kulte immer mehr und gefährlicher werden, ist hier auch die "Satanic Panic", die es vor einigen Jahrzehnten in Amerika gab und die sich letztlich als völlig unbegründet herausgestellt hat. Ich denke, wenn man die anerkannten Religionen als Kulte zählt, dann haben wir heute vermutlich nicht mehr Kult-Anhänger als vor 100 Jahren, und die massiven, schädlichen Einflüsse der großen Kirchen auf Einzelpersonen, Gesellschaft etc. müssen die heutigen Kulte erstmal hinbekommen. Jedenfalls wären dazu Zahlen wichtig und interessant. Werden sie gefährlicher? Ich finde es extrem gewagt, so eine Aussage zu machen, ohne sie anhand fester Daten zu belegen.

Zur Sprache möchte ich noch anfügen, dass sie sehr viel auch dazu dient, ein Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen. Etwas, das auch viele, allgemein als positiv eingeschätzte Gruppen tun. (Pfadfinder etc.)

Die Grenzen sind fließend.

Abschließend noch @Rhagrim: Du schreibst, dass deine Aufstellung objektiv ist, weil sie auf den Forschungen anerkannter Forscher beruht. Dazu möchte ich anmerken: Ein Bias entsteht ja schon durch deine Auswahl der Experten, denn es gibt ja bestimmt mehr als diese. Und bei wem sind sie anerkannt? Unser lieber Erich van Daeniken wird auch von vielen als anerkannter Experte betrachtet, ist aber ein polemischer (und häufig rassistischer) Opportunist, der sich seine "Beweise" ohne Scham herbeilügt. Damit will ich sagen: Kein Text ist jemals wirklich objektiv und Kontext und hinterfragen sind immer wichtig.

Wer sich für Kulte interessiert, es gibt einige wirklich gute Podcasts, allerdings auf Englisch:

Was I in a Cult
Sounds like a Cult
Guru (Wondery)
Twin Flames
Und You're wrong about hat ein paar sehr gute Episoden zur Satanic Panic.

If books could kill zeigt außerdem sehr schön auf, wie man mit gut geschriebenen "Fach"-Büchern so ziemlich jede gewünschte Wirkung erzielen kann, ganz ohne dass man empirische Daten bräuchte. :P
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Araluen am 23. Oktober 2023, 18:13:25
Hat jemand die Bücher von Steven Hassan oder Robert Jay Lifton gelesen oder Artikel gelesen, die einen oder beide als Scharlatane enttarnen? Ich frage, weil hier standhaft behauptet wird, vor allem Hassan hätte ohne Beleg bzw. Bezugnahme auf aktuelle Forschungen gearbeitet. Ich weiß es schlicht nicht, weil ich die Bücher nicht gelesen habe. Daher kann ich leider nicht sagen, ob das BITE-Modell und andere Dinge aus der Luft gegriffen sind, bzw nur auf Eigenerfahrung beruhen oder sich an aktuellen Forschungen orientieren.
Rhagrims Zusammenfassung hier, ist ja genau das: eine Zusammenfassung ihrer Notizen, die sie sich bei ihrer Recherche gemacht hat und keine Doktorarbeit zum Thema Kulte, wo natürlich eine korrekte Zitation notwendig wäre und der Bezug zu entsprechenden anderen Forschungsergebnissen.

Zitat von: Rhagrim am 19. Oktober 2023, 14:26:25Der folgende Text ist nicht meine persönliche Meinung, sondern ausschließlich eine Zusammenfassung der Recherche, die sich aus den Arbeiten anerkannter Experten, wie Robert Jay Lifton und Steven Hassan, zusammensetzt.
Zitat von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10Du schreibst, dass deine Aufstellung objektiv ist, weil sie auf den Forschungen anerkannter Forscher beruht.
Da steht nichts von Objektivität. Sie betont lediglich, dass dies nicht auf ihrem Mist gewachsen ist, sondern auf dem anderer, den sie durchforstet und netterweise nicht nur für sich, sondern auch für andere aufbereitet hat. Ob man selbst diese Quellen zu Rate ziehen würde, ist wieder etwas anderes.

@Soly: Ich frage nochmal bzw. anders. Verstehe ich dich richtig, dass du Rhagrims Quellen in Zweifel ziehst oder nicht für ideal befindest, eben weil sie offenbar nur auf Eigenerfahrung basieren und keinen Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nehmen oder diese einfach nicht erwähnen? Du hast die Quellen gelesen? Hast du bessere Alternativen zum Thema zur Hand und kommen diese zu einem anderen Ergebnis?

Zitat von: Soly am 19. Oktober 2023, 15:21:07Das Gleiche gilt für das BITE-Modell, in dem viele Anleihen zu existierenden Theorien stecken, ohne dass sie zitiert oder kenntlich gemacht werden.
Das mag aus akademischer Sicht natürlich ärgerlich sein, wenn hier jemand in fremden Papern wildert und sie dann nicht einmal erwähnt, während er sein eigenes Modell baut. Davon abgesehen, dass es natürlich schwierig ist, so zu prüfen, ob die Quelle was taugt, vor allem wenn man nicht vom Fach ist - darin sehe ich tatsächlich einen validen Punkt - bringt uns die Verwendung des BITE-Modells (und wenn es Anleihen bereits existierender Theorien hat, kann es ja nicht komplett daneben sein) einen Nachteil, wenn wir als Autoren versuchen einen Kult in unserer Geschichte darzustellen?
Ich mein, wenn einer von uns wissen will, wie sich Verletzung X auswirkt und ob der Held danach noch eine Verfolgungsjagd schafft, fragt er auch einfach hier im Forum unsere Mediziner. Die antworten nach bestem Wissen und Gewissen, in der Regel auch ohne Angabe von Quellen und Einbindung aktueller Forschungsarbeiten. In der Regel reicht das, um glaubhaft in der Geschichte zu sein - nicht unbedingt korrekt aber glaubhaft.

Zitat von: Soly am 19. Oktober 2023, 15:21:07Und zuletzt frage ich mich als Psycholog:in - bei all diesen Techniken, die Kulte auf ihre Mitglieder anwenden, die scheinbar außerhalb der Verhaltenswissenschaften existieren, und wenn das Problem, wie Steven Hassan sagt, immer größer wird und es immer mehr Kulte gibt, die wachsen, warum sieht man dann nicht immer häufiger die Auswirkungen auf die Mitglieder? Wenn Kulte eine Persönlichkeit so grundlegend verändern können, warum sieht die klinische Psychologie nicht einen massiven Anstieg an diesen diagnostizierbaren Persönlichkeitsveränderungen? Warum gibt es keine Meldungen von Angehörigen? Warum höre ich immer nur dann von Kulten, wenn Kultexpert:innen vor ihnen warnen?
Arbeitest du im klinischen Bereich oder in welchem bist du tätig?
Insgesamt klingt das und dein folgender Absatz so, als würdest du die Existenz von Kulten und Sekten generell sehr in Zweifel ziehen. Wenn ich da falsch liege, entschuldige bitte.

Ich bin kein Psychologe, höre in der Freizeit nur gerne True Crime Podcasts. Da laufen einem Kulte immer wieder über den Weg und da es sich um True Crime handelt, sind es natürlich immer die tragischen Extremfälle wie bei der Colonia Dignidad, Heaven's Gate, FLDS oder das Knotby-Drama. Von daher gehe ich persönlich davon aus, dass Kulte Realität sind und sie ihre Mitglieder manipulieren.
Deine Fragen kann ich leider nicht beantworten, weil ich nicht tief genug in dem Thema drin stecke und noch nie mit Betroffenen gesprochen habe. Ich kann mir folgendes für Angehörige vorstellen, da dies auch immer wieder in den Fällen erwähnt wird, die mit Kulten und Sekten zu tun haben: Angehörige haben das Gefühl komplett allein gelassen zu werden, weil es keine Handhabe gibt. Gehen die Angehörigen zur Polizei und melden, dass sich ihr Familienmitglied verändert hat, absondert und nur noch mit komischen Leuten abhängt, kann die Polizei da nicht viel machen. Vermutlich wird es nichtmal zu Protokoll genommen, weil es dort keinen Tatbestand gibt. Und wenn es doch einen Besuch der Polizei bei diesem Familienmitglied gibt, sagt es wahrscheinlich, dass alles in bester Ordnung ist und sie freiwillig mit den Leuten rumhängt.
Wie gesagt, reine Vermutung.
Und bei den Kultmitgliedern? Solange sie Teil des Kults sind, werden sie kaum nach Therapie suchen und wenn sie draußen sind... Scham? Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir vorstellen.

Nebenbei glaube ich auch nicht, dass man eine Person komplett umprogrammieren kann, wie es im kalten Krieg die Runde machte. Da glaube ich eher (wirklich glauben nicht wissen), dass die USA eine "gute" Erklärung dafür suchte, dass einige Soldaten aus Vietnam zurückkehrten und plötzlich Kommunisten waren, während Russland sich über die Gruselgeschichten freute, die Verunsicherung streuten. Denn wem kann man noch vertrauen, wenn jeder umgedreht werden kann? Und später wurde ganz schnell behauptet, dass diese Gehirnwäsche gar nicht funktionieren kann. Schließlich sollten die Russen keine mächtige Waffe haben. Dass die Forscher mit letzterem sehr wahrscheinlich Recht haben, sei dahingestellt. Wie gesagt, das ist von mir gesponnen. Ich weiß nicht mit welcher Intention, welcher Forscher welche These aufstellte.

Ob Kulte wirklich eine größere Gefahr darstellen und häufiger werden?
Dazu fehlen mir Zahlen. Zumal sich noch die Frage nach dem zu vergleichenden Zeitraum stellt.
Festhalten kann man aber meiner Meinung nach, dass es noch nie so einfach war, Mitglieder zu rekrutieren. Durch Internet und Social Media steht einem die ganze Welt offen. Gleichzeitig ist die Weltlage aktuell ziemlich bedrohlich, sodass man sich gerne von Versprechungen nach Glück und heile Welt oder einfach einer guten Botschaft, für die es sich lohnt einzustehen, locken lässt. COVID begünstigte das Ganze dann noch, weil sich ohnehin jeder isolieren musste. Also wundern würde es mich nicht.

Zitat von: Mondfräulein am 21. Oktober 2023, 23:35:56Als Inspirationsquelle sind ihre Arbeiten bestimmt wertvoll, aber ich glaube, Soly beurteilt eher die Wissenschaftlichkeit der Theorien und da gibst du ihr selbst ja Recht. Dass die beiden mit Betroffenen und Überlebenden gearbeitet haben oder selbst Teil von Kulten waren ist an sich kein Beweis dafür, dass die Theorien wissenschaftlichen Kriterien standhalten können. Freud hatte auch viel mit Patient*innen zu tun, seine Theorien sind trotzdem ziemlicher Humbug, weil in seiner Patient*innenarbeit jegliche wissenschaftliche Methodik fehlt. Anekdotische Evidenz kann genutzt werden, um Hypothesen zu generieren, aber das wissenschaftliche Überprüfen dieser Hypothesen ist ein wesentlicher Teil des Prozesses, der nötig ist, um solchen Theorien das nötige wissenschaftliche Fundament zu geben.
Nun sind wir aber nunmal hier um Geschichten zu schreiben und nicht Doktorarbeiten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Die Bücher, netterweise von Rhagrim in ihrer Essenz zusammengefasst, sollen genau das sein: eine Inspirationsquelle.
Wenn hier natürlich jemand belegen kann, dass das was hier zusammengefasst wurde, totaler Müll ist, so wie bei Freud. Dann wäre es natürlich super, darauf hingewiesen zu werden. Bisher wurde aber nur gesagt: der dokumentiert nicht gut und arbeitet nicht nach wissenschaftlichen Standards.

Zitat von: Mondfräulein am 21. Oktober 2023, 23:35:56Gehirnwäsche an sich ist kein von der Wissenschaft gut gestütztes Konstrukt. In der Wissenschaft wird der Begriff meines Wissens nach auch nicht verwendet. Es ist umstritten, ob Gehirnwäsche überhaupt möglich ist.
Mag sein.  Wenn ich Google trauen darf, nennt man das offiziell Mentizid und meint damit die weiter oben von mir erwähnte komplette Zerstörung der ursprünglichen Persönlichkeit mit anschließender Neuprogrammierung. Wenn ich Google trauen darf, ist es aber noch nicht abschließend bewiesen, dass dies wirklich nicht geht (ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass es geht). Gehirnwäsche im allgemeinen Sprachgebrauch bei Nichtpsychologen meint in der Regel aber auch Manipulation an sich. Entschuldige meine unsaubere Ausdrucksweise an der Stelle.

Zitat von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10Vermutlich sind Kulte, der Einstieg und ihre Wirkungsweise auch insgesamt ebenso unterschiedlich, wie Menschen es sind. Ich könnte mir daher vorstellen, dass eine feststehende Liste an dogmatischen Punkten zur Kategorisierung und vor allem zur Abstufung nicht unbedingt hilfreich oder sinnvoll ist.
Da hast du einen Punkt. Wenn ich aber versuchen will, Angehörigen, Interessierten, Polizei oder Hilfestellen einen Leitfaden an die Hand zu geben, um solche Strukturen zu erkennen, sodass z.b. die Polizei einen Betroffenen vielleicht präventiv aus so einer Umgebung entfernen kann (unabhängig davon, wie das jetzt wieder rechtlich aussehen würde). Dann braucht man irgendwelche Strukturen. Ob die jetzt direkt dogmatisch sind, wage ich zu bezweifeln. Es ist ein Modell.

Zitat von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10Besonders interessant im Kontext der Behauptung, dass Kulte immer mehr und gefährlicher werden, ist hier auch die "Satanic Panic", die es vor einigen Jahrzehnten in Amerika gab und die sich letztlich als völlig unbegründet herausgestellt hat.
Das ist in meinen Augen ein anderer Kontext. Die Satanic Panic ist ein Beispiel dafür, welchen Effekt falsche Methoden in der Psychologischen Diagnostik haben. Einen ähnlichen Fall gab es auch in Deutschland. Im deutschen Fall wurden Kindern Puppen gegeben, die teilweise wirklich wie Sexpuppen aussahen und dann wurden sie im Spiel befragt und sollten Szenen nachspielen. Am Ende wurde die gesamte Familie des Kindesmissbrauchs verdächtig, die Familie auseinander gerissen und das Ganze noch auf einen fast stadtweiten Pädophilenring ausgeweitet. Am Ende stimmte nichts davon. Die Befragungsmethode war einfach Mist. Bei der Satanic Panic war es ja ähnlich. Auch hier waren suggestive Befragungstechniken der Stein, der alles ins Rollen brachte.
Mir ist jetzt aber nicht bekannt, dass Leute sich bei Psychologen als Kultmitglieder outeten und so ein weltweites Kultnetzwerk aufgedeckt worden ist, das gar nicht existiert.

Zitat von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10Unser lieber Erich van Daeniken wird auch von vielen als anerkannter Experte betrachtet, ist aber ein polemischer (und häufig rassistischer) Opportunist, der sich seine "Beweise" ohne Scham herbeilügt.
Ich wäre vorsichtig zwei studierte Psychologen, die sich noch auf ihrem Fachgebiet bewegen (außer ihre Biographien im Netz sind gefälscht) mit einem überführten Betrüger in einen Topf zu werfen.

Zitat von: Alana am 22. Oktober 2023, 00:12:10If books could kill zeigt außerdem sehr schön auf, wie man mit gut geschriebenen "Fach"-Büchern so ziemlich jede gewünschte Wirkung erzielen kann, ganz ohne dass man empirische Daten bräuchte. :P
Das lässt sich auch über Podcasts von sogenannten Experten sagen. Wer im Glashaus sitzt und so :P
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 23. Oktober 2023, 21:50:47
Zitat von: Araluen am 23. Oktober 2023, 18:13:25Nun sind wir aber nunmal hier um Geschichten zu schreiben und nicht Doktorarbeiten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Die Bücher, netterweise von Rhagrim in ihrer Essenz zusammengefasst, sollen genau das sein: eine Inspirationsquelle.
Wenn hier natürlich jemand belegen kann, dass das was hier zusammengefasst wurde, totaler Müll ist, so wie bei Freud. Dann wäre es natürlich super, darauf hingewiesen zu werden. Bisher wurde aber nur gesagt: der dokumentiert nicht gut und arbeitet nicht nach wissenschaftlichen Standards.

Man kann sich immer von unwissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Quellen inspirieren lassen. Ich benutze gerne Astrologie, Enneagramme und Archetypen, wenn ich Figuren erstelle. Nichts davon ist irgendwie wissenschaftlich, aber es inspiriert mich. Wichtig ist dabei aber auch, dass man sich der Grenzen der verwendeten Theorien bewusst ist. Wenn ich jetzt die Theorien der genannten Autor*innen lese und mir dabei Ideen kommen, wie ich die Strukturen meines Kultes aufbauen kann, dann ist das super! Aber ich muss mir eben bewusst sein, dass das keine wissenschaftlichen Quellen sind. So wie ich das sehe, ging es in den bisherigen Posts auch um nichts anderes.

Gefährlich kann das sonst zum Beispiel werden, wenn ich Inhalte ungeprüft als Fakten darstelle. Zum Beispiel: Ich schreibe einen Krimi, in dem es um einen Kult geht. Das ist erstmal kein Problem, auch nicht, wenn mich dabei an den genannten Modellen orientiere. Aber wenn ich dann zum Beispiel eine Figur habe, die als Expert*in auftritt und diese Modelle als wissenschaftlich anerkannte Theorien und als wissenschaftlich gut belegt hinstellt, dann ist das ein Problem. Oder wenn ich es so darstelle, als wäre die Satanic Panic real und echt. Denn was wissenschaftlich gut belegt ist, ist narrative Persuasion, die Einstellungsänderung durch Geschichten. Dazu gibt es auch die Theorie, dass Informationen in Narrativen weniger hinterfragt werden als sachlich präsentierte Informationen.

Es geht hier nicht darum, zu sagen "Alles Quatsch! Niemand sollte diese Bücher je lesen! Weg damit!", sondern darauf hinzuweisen, warum wir erstmal skeptisch sind, weil sich nur dann jede*r ein eigenes Bild machen kann. Diese Informationen gehören da einfach dazu. Und ehrlich gesagt ist dieses Kritisieren und Aufzeigen von methodischen Schwächen ein unbedingter Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens. Jede Studie enthält einen Diskussionsteil, in dem auch methodische Limitationen der eigenen Arbeit aufgezeigt werden. Ebenso werden methodische Schwächen anderer Arbeiten diskutiert und das hat nichts mit Böswilligkeit zu tun, sondern ist normal und notwendig.

Die Wissenschaft und wir als Autor*innen gehen auch mit sehr unterschiedlichen Zielen an so ein Thema heran. Als Autor*in möchte ich die Informationen in den meisten Fällen auf einen fiktiven Einzelfall herunterbrechen. Ich recherchiere, damit dieser Einzelfall realistisch wirkt. Manchmal geht es auch darum, auf ein Thema aufmerksam zu machen, dann sollte ich mich in jedem Fall umfassender informieren. Aber als Wissenschaftler*in beobachte ich Kulte in der Regel, um Rückschlüsse auf grundlegende Prinzipien der menschlichen Psyche und des menschlichen Zusammenlebens zu ziehen. Ich will von einem Kult auf  viele Kulte schließen und das geht eben nicht ohne wissenschaftliche Methodik. Das sind sehr unterschiedliche Ziele und sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Deshalb gibt es dort so viele Ansprüche, denn es passiert sehr leicht, dass man versucht, von einem Einzelfall auf grundlegende Prinzipien zu schließen und dabei völlig daneben greift. Es ist leicht, sich Dinge zusammenzureimen und Rückschlüsse aus Beobachtungen zu ziehen, aber das führt auch dazu, dass Fehlkonzepte in unserer Gesellschaft sehr prävalent sind und sich der Irrglaube zu verschiedensten wissenschaftlichen Themen hartnäckig hält. Nur weil eine Erklärung plausibel klingt und sich plausibel anfühlt, heißt das nicht, dass sie wahr ist.

Ich würde deshalb empfehlen, zu jeder wissenschaftlichen Theorie Quellen zu finden, die sie widerlegen oder ihr widersprechen. Das hilft einfach, dem Confirmation Bias entgegen zu wirken, denn wenn ich an einer Ecke anfange zu recherchieren, dann finde ich leicht nur noch Informationen, die sich in derselben Ecke bewegen und der ersten Quelle zustimmen. Aber das ist nur ein grundlegender Recherchetipp zu wissenschaftlichen Themen.

Steven Hassan ist auch absolut nicht unumstritten, sein Expertenstatus ebenfalls nicht. Dazu habe ich zum Beispiel diesen interessanten Artikel gefunden:
https://cultexperts.medium.com/ethical-concerns-raised-on-steven-hassans-book-on-cults-1f6133f63d9f
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Rhagrim am 24. Oktober 2023, 10:12:58
Da es irgendwie immer auf Hassan zurückzukommen scheint, möchte ich an der Stelle nur kurz anmerken, dass ich bei meiner Recherche nicht nur auf seine Arbeit zurückgegriffen habe, sondern  auch auf Robert Jay Lifton, Rick Allan Ross, Mark Vincente und einige Podcasts, die sich mit Kulten beschäftigen und Aussteiger interviewen.
Das macht den Post nicht "wissenschaftlich" und ich habe auch nie behauptet, dass er das ist. :) Er ist eine Zusammenfassung der Recherche, die ich aus unterschiedlichen Quellen zu dem Thema betrieben habe. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich hätte das vielleicht gleich besser angeben sollen und werde das im Startpost noch aktualisieren.

Ich habe von den Quellen, die ich zu Rate gezogen habe, im Post nur die angegeben, die ich am Ende tatsächlich auch direkt dafür verwendet habe, da ich keine ewig lange Liste angeben wollte, und Hassans Bite Modell hat sich als das für mich "leserfreundlichste" und eingängigste erwiesen, weswegen ich es benutzt habe. 

Zusätzlich habe ich auch Robert Jay Liftons Arbeit zusammengefasst und sie mit dem Bite Modell verglichen, da ich die Übereinstimmung interessant fand, die sich aus der Arbeit zu unterschiedlichen Umgebungen zu einem ähnlichen Thema ergeben hat.

Wie schon gesagt wurde, habe ich auch nicht behauptet, dass der Post bzw. meine Meinung "objektiv" ist, sondern nur, dass die darin enthaltene Information nicht meiner eigenen Meinung entspringt. Persönlich glaube ich, dass niemand von uns je wirklich "objektiv" sein kann, da wir alle von unserem Bias - unserer Weltsicht, unserer Erfahrung, unserem Umfeld und der Information, die wir konsumieren, beeinflusst sind. V.a. bedingt durch Social Media und den auf unsere Interessen angepassten Algorithmus landen wir heutzutage ja umso schneller in einer "Echo Chamber" und es ist oft gar nicht so leicht, dem entgegenzuwirken, indem man sich absichtlich selbst gegensätzliche Informationsquellen sucht.

Zitat von: Mondfräulein am 23. Oktober 2023, 21:50:47Ich würde deshalb empfehlen, zu jeder wissenschaftlichen Theorie Quellen zu finden, die sie widerlegen oder ihr widersprechen. Das hilft einfach, dem Confirmation Bias entgegen zu wirken, denn wenn ich an einer Ecke anfange zu recherchieren, dann finde ich leicht nur noch Informationen, die sich in derselben Ecke bewegen und der ersten Quelle zustimmen. Aber das ist nur ein grundlegender Recherchetipp zu wissenschaftlichen Themen.
Da stimme ich dir absolut zu. Confirmation Bias und Kognitive Dissonanz sind absolut bedeutende Faktoren, die unser Denken und unserer Emotionen oft so selbstverständlich bestimmen, dass es oft schwierig ist, sich ihrer überhaupt bewusst zu werden. Ich finde es toll, wenn man da bereit ist, sich da selbst zu hinterfragen, weil es wirklich nicht leicht ist, dabei zu riskieren, die eigenen Überzeugungen und Glaubensmuster herauszufordern.
Ich für mich selbst habe festgestellt, dass ein guter "Richtwert" für mich der ist, wie sehr ich etwas glauben bzw. hören - oder eben nicht glauben und nicht hören möchte. Je unangenehmer mir etwas ist, umso größer ist die Dissonanz, die es in mir anspringen lässt - und umso wertvoller die Erfahrung, die ich daraus lernen kann, wenn ich bereit bin, mich gerade dann darauf einzulassen.

Niemand kann je alles wissen, aber wir alle können voneinander lernen und uns weiterentwickeln. Und, wie im Startpost schon gesagt, ich freue mich über weitere Buchvorschläge und Informationen, da ich gerne dazulerne. :)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Soly am 24. Oktober 2023, 12:15:43
Zitat von: Araluen am 23. Oktober 2023, 18:13:25@Soly: Ich frage nochmal bzw. anders. Verstehe ich dich richtig, dass du Rhagrims Quellen in Zweifel ziehst oder nicht für ideal befindest, eben weil sie offenbar nur auf Eigenerfahrung basieren und keinen Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nehmen oder diese einfach nicht erwähnen? Du hast die Quellen gelesen? Hast du bessere Alternativen zum Thema zur Hand und kommen diese zu einem anderen Ergebnis?
Hmm, im Großen und Ganzen stehe ich auf einem sehr ähnlichen Standpunkt wie Mondfräulein, aber ich habe auch sehr viele Gedanken dazu und versuche sie mal zu entwirren. Mein hauptsächliches Anliegen mit meinem vorherigen Post war zu sagen, dass viele Inhalte der Quellen in Rhagrims Eingangspost bei mir Zweifel und Skepsis hervorrufen, ohne dass ich das auf den gesamten Inhalt, das gesamte Konzept der Kulte, oder die gesamte Person der Menschen, die hinter den hier gesammelten Aussagen stehen, bezieht.

Ich habe auch Gedanken auf zwei Ebenen dazu, einmal als Psychologin und einmal als Autorin. Ich fange mit der psychologischen Perspektive an.
Ursache meiner Skepsis ist tatsächlich die angesprochene Satanic Panic, die eben hauptsächlich auf suggestiven Therapiemethoden beruht. Dazu noch kurz der Hintergrund, dass es unfassbar leicht ist, falsche Erinnerungen bei Menschen zu erzeugen. Es gibt mehrere Studien aus der Kognitiven Psychologie (mit replizierten Effekten), in denen Personen zum Beispiel ein gephotoshopptes Kinderbild von ihnen im Heißluftballon gezeigt wird, und diese Personen dann anfangen, sehr lebhafte und detaillierte Erinnerungen an diese Heißluftballonfahrt zu schildern, obwohl sie tatsächlich niemals stattgefunden hat. Ein gefälschtes Foto ist alles, was es dazu braucht.
Entsprechend verdächtig ist es, wenn Klient:innen einer Regressionstherapie nach über dreißig Sitzungen mit Hypnose sich "plötzlich" daran erinnern, als Kinder von ihren Eltern im Rahmen satanistischer Rituale misshandelt worden zu sein. Fertig ist die falsche Erinnerung.
Warum scheint niemand im gesamten Umfeld dieser Person auch nur im Entferntesten etwas Bestätigendes dazu zu wissen? Weil die alle zum Kult gehören, satanistische Kulte Mitglieder in allen Rängen der Gesellschaft und jede noch so widerliche Straftat ganz einfach vertuschen können. Fertig ist der Mythos von Kulten, die überall sind und alles unterwandert haben, und denen buchstäblich JEDER in deinem Umfeld angehören kann.
Warum erinnern sich die Klient:innen erst nach dreißig Sitzungen Hypnose daran? Weil satanistische Kulte über geheimnisvolle psychologische Fertigkeiten verfügen, ihre Opfer und Mitglieder einer Gehirnwäsche zu unterziehen, ihre Erinnerungen zu unterdrücken, ihre ganze Persönlichkeit vollständig zu verändern oder zu spalten. Fertig ist der Mythos von Gehirnwäsche und Persönlichkeitsveränderung.
Fertig ist die Satanic Panic. Sie sind überall, sie können buchstäblich mit dir machen, was sie wollen, und du wirst es nicht mal hinterher wissen. Du kannst nie wissen, ob sie da sind, du kannst es nicht nachprüfen. Du musst daran glauben. Dass alles hauptsächlich auf Erinnerungen basiert, Erinnerungen von Natur aus wahnsinnig unzuverlässig und wandelbar sind, und dass es schon im Alltag absolut kein Hexenwerk ist, falsche Erinnerungen ganz aus Versehen zu suggerieren, ganz zu schweigen von Vertrauensverhältnissen wie zwischen Therapeut:in und Klient:in, lassen wir mal galant unter den Tisch fallen.
Und je mehr Menschen daran glauben, je mehr Kultexpert:innen in voller Überzeugung vor diesen überall versteckten und psychologischer Wunder mächtigen Kulten warnen, je präsenter das Thema wird, je öfter approbierte Psychotherapeut:innen in offiziellen Seminaren auf diese angeblich vergrabenen Erinnerungen von Kultopfern hingewiesen werden, desto leichter wird es auch werden, dass Klient:innen im besten Gewissen solche falschen Erinnerungen suggeriert bekommen.

Vor diesem ganzen Hintergrund schrillen bei mir sofort die Alarmglocken, wenn es um Kulte und ihre manipulativen/gewaltsamen Techniken geht. Ich glaube Steven Hassan und Ray Lifton sofort, dass sie überzeugt davon sind, dass diese Kulte so existieren und arbeiten, wie sie es beschreiben; aber bei dem ganzen Thema steht in meinem Kopf ganz groß "Suggestion" im Raum, so dass ich diese Beschreibungen nicht einfach so glauben kann. Ich müsste es nachvollziehen können, überprüfen können oder zumindest eine plausible Überprüfung vorgelegt bekommen, damit ich für mich davon ausgehen kann, dass da etwas dran ist.
Genau da kommt aber eben ins Spiel, was ich angesprochen habe, und was Mondfäulein schon recht ausführlich dargelegt hat, dass es da keine plausiblen Überprüfungen gibt. Da ist eine gewaltige Theorie und ein Modell, das mir auf konsistente Weise erklärt, wie Kulte bei ihren Mitgliedern die Einstellungen zur Welt kontrollieren. Ich finde darin einiges wieder, das Anklänge an die Einstellungsänderung aus der Sozialpsychologie hat, an Persuasion (=das Überreden, bestimmte Dinge auf eine bestimmte Weise zu sehen), an Prinzipien der Kognitiven Verhaltenstherapie, an Grundtheorien der Persönlichkeitspsychologie, und und und - aber ich sehe keinerlei Bezug darauf. Ich sehe nicht, wie die Behauptung, Kulte würden die Persönlichkeit ihrer Mitglieder grundlegend verändern, auf aktuelle Modelle der Persönlichkeitspsychologie gestützt werden, geschweige denn auf echte Längsschnittstudien zur Veränderung von Persönlichkeiten durch Selbst- oder Fremdeinwirkung.
Nach wissenschaftlichen Standards sollte eine gute Theorie so aufgebaut sein, dass ich daraus problemlos herauslesen kann, wie ich eine Studie konzipieren müsste, um die Behauptungen zu überprüfen. Dass ich genau ableiten kann "Ich nehme jetzt 100 Leute und mache das und das - und wenn am Ende x herauskommt, dann ist die Theorie belegt, wenn y herauskommt, ist sie widerlegt". Jetzt mal ganz einfach heruntergebrochen. Aber diese Modelle, um die es hier geht, bieten genau das nicht. Sie sind so aufgebaut, dass ich JEDE Beobachtung in der echten Welt ganz einfach so interpretieren kann, dass sie die Modelle unterstützt.
Ich bekomme keine Möglichkeit, die Behauptungen und Theorien ausgehend von anderer Forschung und Wissenschaft, die gut belegt ist, nachzuvollziehen. Ich bekomme keine Möglichkeit, die Behauptungen empirisch zu überprüfen, oder auch nur einen Ansatz genannt, wie jemand es empirisch überprüfen könnte. Ich kann entweder das gesamte Konstrukt unhinterfragt als gegeben annehmen, oder es lassen.
Und wenn ich nur die Wahl habe zu glauben oder nicht zu glauben, dann wähle ich, es nicht zu glauben.
Ich habe nicht genug Fachwissen, um mich jetzt hinstellen zu können und zu sagen "Das ist alles Quatsch", und deswegen tue ich das auch nicht. Ich kann nicht ausschließen, dass Kulte existieren und genau so arbeiten, und ich kann schon gar keine Aussagen über die Personen treffen, die dahinter stehen. Aber ich habe genug Fachwissen, um dem Thema mit etwas Skepsis gegenüberzutreten, und ich sehe in der Arbeit von Hassan und Lifton nichts, das mir diese Skepsis nimmt. Für mich persönlich ist es nur eine Glaubensfrage steht damit auf der gleichen Wahrheitsstufe wie die Frage, ob es so etwas wie einen Gott gibt. Ich zweifele es für mich persönlich an, aber ich kann es auch nicht ausschließen, und deswegen werde ich niemandem vorwerfen, es zu glauben. Ich bin nur selbst nicht davon überzeugt.

Jetzt zur Autor:innenperspektive.
Natürlich sind die Standards da andere und ich würde dir absolut zustimmen, dass ich bei anderen Fachgebieten auch auf die Recherche und die Expertise anderer Leute vertraue, ohne erst zig Quellen zu checken.
Bei diesem Thema sehe ich allerdings die Gefahr, die auch Mondfräulein schon angesprochen hat: narrative Persuasion. Wenn ich jetzt ein Buch schreibe, mich stark von Hassans und Liftons Arbeiten inspirieren lasse, und in einem Contemporary-Fantasy-Setting ausführlich beschreibe, wie ein fiktiver Kult all diese Techniken der Manipulation, Gehirnwäsche, Persönlichkeitsveränderung, und so fort, anwendet, und wie sehr die Opfer darunter leiden, und wie weit der Kult im Geheimen verbreitet ist... dann erzeugt das in den Köpfen der Leser:innen ein extrem reales Bild. "Das war da so detailliert und lebensnah beschrieben, da muss doch was dran sein!"
Dann erzeuge ich wieder genau die Angst vor den Kulten und ihren mächtigen psychologischen Waffen, die Angst vor eigenen Traumata, die einfach verdrängt und absichtlich in den Erinnerungen verschüttet wurden. Dann wird es wieder umso leichter, sich während einer Therapie an solche Vorfälle zu "erinnern". Natürlich ist das ein Extremfall, weil ich mit einem Buch niemals so viel Reichweite haben werde, aber die Gefahr besteht. Weshalb ich persönlich niemals ein Buch darüber schreiben werde, solange meine Skepsis da ist.

Am Ende war es auch diese Gefahr, wegen der ich mich hier zu Wort gemeldet habe. Ich wollte einen Impuls setzen und aufzeigen, dass man dem ganzen Thema skeptisch gegenüberstehen kann. Dass ihr euch natürlich inspirieren lassen könnt, aber dass da eben Diskussion herrscht, und dass es reale und gefährliche Konsequenzen haben kann. Und dass das Ganze faktisch eben nicht auf derselben Ebene steht wie wenn eine Mediziner:in im Forum über bestimmte Wunden schreibt.
Ich wollte sozusagen meine persönliche Skepsis in die Waagschale werfen, damit dieser Thread die beiden Pole der wissenschaftlich vertretenen Meinungen enthält, und damit ihr für euch eine informierte Entscheidung treffen könnt, ob und in welchem Umfang ihr Kulte und ihre Techniken in eure Romane einbringt.
Wie die Entscheidung am Ende ausfällt, dazu habe ich ausdrücklich keine Meinung, und ich werde auch nie eine dazu entwickeln. Dafür ist wie gesagt mein Fachwissen nicht ausreichend.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Alana am 24. Oktober 2023, 13:24:19
Da ich mich offensichtlich undeutlich ausgedrückt habe, noch zur Erklärung:

ZitatDer folgende Text ist nicht meine persönliche Meinung, sondern ausschließlich eine Zusammenfassung der Recherche, die sich aus den Arbeiten anerkannter Experten und Betroffenen ...

Dieser Abschnitt sagt für mich ganz deutlich, dass der nachfolgende Text den Anspruch hat, objektiv zu sein. Und darauf bezog ich mich mit meiner Erklärung, warum Objektivität auch in der Wissenschaft und besonders in der reinen Zusammenfassung von Literaturrecherche nie möglich ist. Es ist ein Thema, mit dem ich mich sehr intensiv beschäftige, daher hat mich diese Aussage dazu gebracht, das hier einfach mal anzumerken. Ich finde wichtig, dass man sich seines eigenen Bias bei der Recherche von Themen bewusst ist, nichts anderes wollte ich damit sagen. Durch Auswahl von Quellen, Zitaten, Textstellen und besonders durch das eigene Zusammenfassen von Aussagen anderer entsteht bereits Subjektivität, die natürlich auch eine Meinung transportiert, und diese kann man nicht durch einen Disclaimer wegreden. Im Gegenteil. Der Disclaimer versucht ja, die Richtigkeit der eigenen Methodik zu beweisen und verbietet von vornherein Kritik daran. Ich würde daher eher sowas schreiben wie: Das sind meine Rechercheergebnisse, die ich gern mit euch teile. Dadurch wird kein Anspruch der Richtigkeit der eigenen Recherche erhoben und eine ergiebige Sammlung weiterer Daten und eine wertige Diskussion wird befördert. :)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Araluen am 24. Oktober 2023, 15:05:30
Danke für eure ausführlichen Antworten, die zumindest mir sehr geholfen haben, die Diskussion besser einordnen zu können. :)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41
Hallo zusammen,

ich komm jetzt auch noch und setze noch eins drauf: Wer sich dafür interessiert, wie Kinder, die in einen Kult hineingeboren werden, großgezogen und "programmiert" werden und wie in ihnen eine multiple Persönlichkeit erzeugt wird, kann von Alison Miller "Jenseits des Vorstellbaren" lesen - wobei ich den Begriff der Programmierung auch nicht mag.
Ich denke, über dieses Thema wird man niemals Sicherheit bekommen können, denn dazu müsste man eine Längsschnittstudie machen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die in einen Kult bringen, andere diese Techniken anwenden lassen und dann schauen, was passiert. Und das ist natürlich absolut nicht möglich.

Was mich aber immer ein bisschen wundert, ist, dass man ja weiß, dass diese Manipulationstechniken "im Kleinen" funktionieren. Über soziale Manipulationstechniken gibt es z. B. ein Buch von Cialdini - die Kraft des Überzeugens oder so was, mir fällt der Name nicht mehr ein. Über das klassische und operante Konditionieren gibt es jede Menge Bücher. Man weiß, dass Menschen eingeschüchtert werden - das Lösegeld will ich in 2 Stunden haben und keine Polizei, sonst töte ich die Geisel. Es ist unumstritten und offensichtlich, dass Menschen immer wieder in missbräuchlichen Beziehungen bleiben, obwohl sie dort geschlagen und / oder sexuell missbraucht werden, weil sie sich aus verschiedenen Gründen nicht lösen können.
Aber irgendwie scheint die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die so etwas systematisch und strukturiert einsetzen um Menschen zu manipulieren dann doch so verrückt, dass man gleich die Glaubensfrage stellt. Dass traumatische Erinnerungen dissoziiert sein können, ist meines Wissens nach ebenfalls nicht umstritten, aber dass jemand aus einem Kult sich "plötzlich" nach 30 Sitzungen daran erinnert, missbraucht worden zu sein, ist dann in Zweifel zu ziehen? Das verstehe ich nicht. Daneben ist es natürlich so, dass es auch Erinnerungen gibt, die so nicht stattgefunden haben, weil gerade Kinder leicht getäuscht werden können, und das macht es natürlich noch schwieriger.

Was das Thema der Diagnosen angeht: Wenn @Soly im klinischen Bereich arbeitet, dann weißt du ja sicher, wie schwierig das mit den Diagnosen ist. Ich persönlich liebe Diagnostik und mache bei meinen Patient*innen in der Regel sehr viel davon, und trotzdem ist manches eben nicht ganz trennscharf. Meines Wissens nach - wobei mir adhoc jetzt keine Quelle einfällt - werden dissoziative Identitätsstörungen immer noch sehr oft fehldiagnostiziert, beispielsweise als Borderline-Störungen. Ich habe inzwischen eine Handvoll gesehen und erinnere mich an ein paar, bei denen ich im Nachhinein glaube, die Störung übersehen zu haben. Jetzt bin ich ein bisschen weit weg, aber um noch mal darauf zurückzukommen: Ich habe mal gelesen, dass "Programmierung" im Erwachsenenalter nicht mehr so gut funktioniert, weil Erwachsene nicht so leicht dissoziieren wie Kinder. Aber ich finde, man hat doch in der Coronapandemie schon gut gesehen, wie Menschen im eigenen Umfeld sich verändert haben. Auch hier wieder nur im Kleinen, aber eine organisierte Struktur, wo so etwas systematisch angewandt wird, wird dann angezweifelt.
Spannend.

LG

Sanjani
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sparks am 20. November 2023, 19:57:28
Hallo Sanjani.

Sanjani
[/quote]
Zitat von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41Aber ich finde, man hat doch in der Coronapandemie schon gut gesehen, wie Menschen im eigenen Umfeld sich verändert haben.

Das stimmt allerdings. Wie Manipulation mit Worten funktioniert, kann man in solchen Gruppen sehr gut beobachten.

Begriffe werden, teilweise nur  marginal, umgedeutet, und daraus ergibt sich dann ein komplett anderes Weltbild.

Allerdings fallen diese Manipulationen auf einen fruchtbaren Boden, wenn

A) die Manipulierten sehr unzufrieden mit ihrer Situation sind,

B) und/oder die Manipulierten in ihren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt sind, das sie sich bei der kleinsten Restriktion gegängelt fühlen,

C) und/oder die Manipulierten eigentlich selber Manipulationen und Verschwörungen zu ihrem Werkzeugsatz um sich durch das Leben zu schlagen, zählen. Wer andere erfolgreich manipuliert hat, wittert natürlich selber auch immer eine Verschwörung, wenn ihm der Wind ins Gesicht bläst.

Oft schaukelt sich das in kleinem Kreis gegenseitig hoch, jeder manipuliert, und manipuliert sich damit indirekt über den Umweg seiner Manipulierten selber mit.

Speziell bei Klimaleugnern habe ich öfters die Erfahrung gemacht, das die, die den Klimawandel als extreme Bedrohung empfinden würden, diesen vehement leugnen. Flucht aus einer unerträglichen Realität.



Sanjani
[/quote]
Zitat von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41Auch hier wieder nur im Kleinen, aber eine organisierte Struktur, wo so etwas systematisch angewandt wird, wird dann angezweifelt.


Aber Querdenker, Klimawandel- und Coronaleugner oder bestimmte Parteien sind bei allen Gemeinsamkeiten noch kein Kult oder Sekte. Irgendwie fehlt dafür eine dominierende "transzendente" Ader.....

Wenn die hinzukommt, bekommt das ganze, zumindest bei den passenden Persönlichkeiten, noch zusätzlichen Drive.

Kulte und Sekten existieren, sind aber bei Betrachtung ihrer Delinquenz verglichen mit anderen Strukturen eher marginal.

Die größten "Verschwörungen" entstehen, wenn sich Leute mit ähnlichen Interessen zu Vereinen, Verbänden oder Parteien zusammenschließen. Ok, zur echten Verschwörung fehlt dann in vielen Bereichen das Merkmal des Geheimen, Okkulten. Eine Gewerkschaft würde niemand als eine Verschwörung zur Erzielung besserer Arbeitsbedingungen  bezeichnen, auch wenn das in Ländern, wo (funktionierende) Gewerkschaften verboten sind, durch den daraus resultierenden Zwang zum Klandestinen vielleicht gerechtfertigt wäre.

Liebe Grüße
Bernd
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sanjani am 20. November 2023, 20:43:58
Hallo Bernd,
Zitat von: Sparks am 20. November 2023, 19:57:28Aber Querdenker, Klimawandel- und Coronaleugner oder bestimmte Parteien sind bei allen Gemeinsamkeiten noch kein Kult oder Sekte. Irgendwie fehlt dafür eine dominierende "transzendente" Ader.....

Nein, aber mir ging es ja darum, zu zeigen, dass man die von Rhagrim aufgeführten Strategien auch in weitaus weniger problematischen Strukturen wiederfindet. Und deshalb wundere ich mich eben, dass eine systematische Nutzung in organisierten (rituellen) Gewaltstrukturen geleugnet wird.

ZitatKulte und Sekten existieren, sind aber bei Betrachtung ihrer Delinquenz verglichen mit anderen Strukturen eher marginal.

Kinderpornografie existiert aber auch, und sie wird in teilweise großen Netzwerken vertrieben. Und ich glaube, da ist uns allen klar, dass die Kinder da nicht freiwillig mitmachen. Da wird auch manipuliert ohne Ende mit und ohne körperlicher Gewalt. Und Kinder kann man sehr leicht manipulieren, nicht nur aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit und körperlichen Unterlegenheit, sondern auch aufgrund ihrer teilweise je nach Altersstufe noch nicht vorhandenen kognitiven Fähigkeiten.

LG

Sanjani
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sparks am 20. November 2023, 21:42:51
Hallo Sanjani

Zitat von: Sanjani am 20. November 2023, 20:43:58Und deshalb wundere ich mich eben, dass eine systematische Nutzung in organisierten (rituellen) Gewaltstrukturen geleugnet wird.

Wenn du schreibst "rituellen", dann assoziiere ich damit einen Kult oder eine Sekte.

Ok, auch die etablierten Kirchen oder Fußballfanclubs kennen Riten, aber eigentlich sind sie nicht intentionell als Gewaltstruktur, speziell sexualisierter Gewalt, gedacht, auch wenn das zu häufig vorkommt.

Zitat von: Sanjani am 20. November 2023, 20:43:58Kinderpornografie existiert aber auch, und sie wird in teilweise großen Netzwerken vertrieben.

Es gibt keine erst zu nehmende größere Religion, die Gewalt und Vergewaltigung offiziell gutheißt.

Speziell die Kinderpornographie existiert wohl als großer Markt mit vielen Teilnehmern, aber dieser Markt wird von vielen kleinen unabhängigen Anbietern bedient, das ist in dem Sinne keine "Geheimorganisation", auch wenn die Illegalität zu einem klandestinen Vorgehen zwingt.

Alle Geschäftsleute auf der Welt wollen gute Geschäfte machen, und arbeiten Dir als Verbraucher entgegen, weil das die Preise macht, die Du lieber niedriger hättest. Trotzdem bilden diese vielen Geschäftsleute keine Verschwörung. Sie kennen sich ja größtenteils nicht, und sprechen sich nicht alle in einem Kartell ab.*)

Große Geheimorganisationen oder Verschwörungen können nicht lange existieren, weil "groß" impliziert, dass es viele Mitglieder gibt, und viele Mitglieder bedeutet, das zu viele, absichtlich oder unabsichtlich, davon rumquatschen. Und dann ist es nun mal nicht mehr "geheim".

Viele Grüße
Bernd
*) PS: Speziell für Verschwörungstheoretiker wäre eine Verschwörung, deren Mitglieder nicht wissen, dass sie Teil einer Verschwörung sind, vermutlich die Spitze aller Verschwörungen. ;O)
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Alana am 21. November 2023, 13:29:44
@Sanjani: Ich stimme dir absolut zu. Für mich stellt sich die Glaubensfrage überhaupt nicht. Es gibt diese Strukturen, die Manipulation, die Dissoziation etc. und ich denke, wie du ja auch sagst, es gibt sie in allen möglichen Varianten und Formen und auch im Kleinen, wo man sie nicht sofort erkennt. Deswegen mag ich zum Beispiel den Podcast "Sounds like a cult", weil dort genau das besprochen wird. Wo sind die Grenzen? Wann wird es gefährlich? Können relativ harmlos wirkende Communities schon Anzeichen von Kulten aufweisen und wenn ja, wie finde ich heraus, ob das gefährlich ist oder nur quirky? (Nur ist die Vorstellung der Gehirnwäsche, wie sie im Allgemeinen genutzt wird, eben nicht korrekt, weshalb der Begriff auch ungern von Fachleuten verwendet wird.)

Deswegen empfinde ich die im Beitrag genannte Checkliste auch eher schädlich, wenn man sie als Checkliste anpreist. Denn leider neigen gerade offizielle Stellen wie Behörden dazu, solche Dinge dann dogmatisch abzuhaken und was nicht genau da reinpasst, wird nicht als gefährlich erkannt. Natürlich gibt es auch hier positive Ausnahmen, aber ich denke, diese Gefahr besteht durchaus.

ZitatEs gibt keine erst zu nehmende größere Religion, die Gewalt und Vergewaltigung offiziell gutheißt.

Hier muss ich ganz scharf widersprechen. Vergewaltigung in der Ehe war bis in die 1990er in Deutschland legal und wurde selbstverständlich von den großen Kirchen erst gutgeheißen und empfohlen, wenn es der Fortpflanzung diente, die Frau aber nicht willig war, und später mindestens geduldet. Auch in anderen großen Religionen wird Vergewaltigung in der Ehe immer noch nicht bestraft und durch die patriarchalen Strukturen definitiv befördert.

Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 21. November 2023, 14:22:23
Zitat von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41Aber irgendwie scheint die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die so etwas systematisch und strukturiert einsetzen um Menschen zu manipulieren dann doch so verrückt, dass man gleich die Glaubensfrage stellt.

Dass es Kulte generell gibt hat hier niemand in Frage gestellt, sondern nur die "Forschungsergebnisse" der genannten "Experten". Das heißt nicht, dass hier irgendjemand argumentiert, dass Manipulation durch Kulte nicht geschehen kann. Aber es ist auch nachweislich so, dass die Angst vor satanischen Kulten stark übertrieben ist, weil kein Nachweis gefunden wurde, dass sie wirklich so prävalent sind, wie es laut "Expert*innen" angeblich der Fall ist.

Zitat von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41Dass traumatische Erinnerungen dissoziiert sein können, ist meines Wissens nach ebenfalls nicht umstritten, aber dass jemand aus einem Kult sich "plötzlich" nach 30 Sitzungen daran erinnert, missbraucht worden zu sein, ist dann in Zweifel zu ziehen? Das verstehe ich nicht.

Es kam aber eben auch häufig dazu, dass durch Therapie falsche Erinnerungen suggeriert wurden. Das eine schließt das andere nicht aus. Es geht hier nicht darum, einer einzelnen Person ihre Erfahrungen abzusprechen, sondern kritisch zu hinterfragen, ob eine bestimmte Interventionsform vielleicht in Gefahr läuft, falsche Missbrauchserinnerungen zu suggerieren. Und dazu gibt es hier wie schon ausgeführt Warnhinweise.

Zitat von: Sanjani am 05. November 2023, 21:22:41Auch hier wieder nur im Kleinen, aber eine organisierte Struktur, wo so etwas systematisch angewandt wird, wird dann angezweifelt.

Du berufst dich hier auf anekdotische Evidenz. Ich finde es aber auch gar nicht schlimm, so eine Hypothese erst einmal kritisch zu hinterfragen. Warum sollte ich das denn nicht erstmal anzweifeln? Und wie gesagt: Niemand hier hinterfragt die Existenz von Sekten und Kulten generell. Es geht eher um Prävalenz, Einordnung und die Sinnhaftigkeit bestimmter Theorien und Modelle zum Thema.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Fluide am 21. November 2023, 15:29:44
Das Thema "Verschwörungstheorie vom satanisch-rituellen Missbrauch" ist ja im letzten Jahr ziemlich hochgekocht, zumindest ist es da auch bei mir angekommen und ich fand die Rolle der Therapeuten darin doch einigermaßen verstörend.

Ich fand diese Webseite bzw. diese Dokumentation dazu gut und teile die darum hier.
https://dissoziationen.de/2022/08/08/historie-der-webseite/

Fakt ist, dass es ein sensibles Thema ist, dass einen sensiblen Umgang erfordert.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 21. November 2023, 17:34:51
Ich glaube, der wurde noch nicht verlinkt, aber ich kann den Beitrag von Böhmermann zum Thema auch empfehlen: https://www.youtube.com/watch?v=xowyVw7dSR4
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sanjani am 21. November 2023, 19:43:06
ZitatDass es Kulte generell gibt hat hier niemand in Frage gestellt, sondern nur die "Forschungsergebnisse" der genannten "Experten". Das heißt nicht, dass hier irgendjemand argumentiert, dass Manipulation durch Kulte nicht geschehen kann. Aber es ist auch nachweislich so, dass die Angst vor satanischen Kulten stark übertrieben ist, weil kein Nachweis gefunden wurde, dass sie wirklich so prävalent sind, wie es laut "Expert*innen" angeblich der Fall ist.

Ok, dann hab ich das offenbar falsch verstanden. Ich weiß aber von Leuten, die anzweifeln, dass es organisierte und rituelle Gewaltstrukturen gibt.
Dass die Prävalenz nicht gut zu erforschen ist, liegt doch aber in der Natur der Sache, würde ich sagen. Als Behandlerin ist mir die aber auch eher egal, weil ich ja im Prozess mit dem / der Betroffenen bin. Und natürlich ist es da meine oberste Priorität, eben nicht suggestiv zu sein, das nur so am Rande.

Und was Checklisten angeht: Hier im TiZi geht es doch v. a. um eine Sammlung von Ideen, wie man was machen könnte, und dafür ist sie doch gut geeignet. Ausgestalten muss dann eh jeder selber.

LG und viel Spaß beim Schreiben

Sanjani
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 21. November 2023, 19:51:43
Zitat von: Sanjani am 21. November 2023, 19:43:06Ich weiß aber von Leuten, die anzweifeln, dass es organisierte und rituelle Gewaltstrukturen gibt.

Es gibt zum Beispiel bei ritueller Gewalt durch Satanisten keine handfesten Hinweise darauf, dass so etwas existiert. Dennoch wird das häufig propagiert.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sanjani am 21. November 2023, 22:37:48
Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 19:51:43
Zitat von: Sanjani am 21. November 2023, 19:43:06Ich weiß aber von Leuten, die anzweifeln, dass es organisierte und rituelle Gewaltstrukturen gibt.

Es gibt zum Beispiel bei ritueller Gewalt durch Satanisten keine handfesten Hinweise darauf, dass so etwas existiert. Dennoch wird das häufig propagiert.

Es gibt ausreichend Berichte von Betroffenen, die es am eigenen Leib erlebt haben. Beispielsweise nachzulesen in dem von mir genannten Buch von Alison Miller. Und zu behaupten, das wäre alles falsche Erinnerung, damit wäre ich echt vorsichtig.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04
Zitat von: Sanjani am 21. November 2023, 22:37:48Es gibt ausreichend Berichte von Betroffenen, die es am eigenen Leib erlebt haben. Beispielsweise nachzulesen in dem von mir genannten Buch von Alison Miller. Und zu behaupten, das wäre alles falsche Erinnerung, damit wäre ich echt vorsichtig.

Ich habe mich in der Recherche jetzt nicht zu tief reingekniet, aber von dem was ich lese, hat Alison Miller ihre Lizenz freiwillig aufgegeben, nachdem Kritik an ihren Thesen und Methoden laut wurde. Sie ist also absolut nicht unumstritten. Hier ist ein Artikel auf Englisch dazu: https://gizmodo.com/canadian-therapist-gives-up-license-after-satanists-exp-1839605239

Wenn es diese weitreichende, systematische und mächtige Verschwörung wirklich geben würde, dann müsste es mehr Hinweise darauf geben. Aber selbst Behörden, die einst noch vor rituellem Missbrauch gewarnt haben, betrachten das längst nicht mehr als reale Bedrohung. Ebenso ist es zwar möglich, dass Personen sich nicht mehr an den Missbrauch erinnern, aber es erscheint abwegig, dass sich alle von ihnen erst im Rahmen einer Therapie wieder daran erinnern. Ebenso halte ich es für fragwürdig, dass es eine häufige Taktik zu sein scheint, Personen, die diese Verschwörung nicht glauben, entweder zu beschuldigen, Opfern nicht zu glauben, oder gar Teil der Verschwörung zu sein. Würde es diese Verschwörung wirklich geben, sollten die Beweise ja für sich sprechen.

Wie gesagt, Satanic Panic. Das Phänomen ist bekannt.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Araluen am 22. November 2023, 10:51:34
Es ging initial in diesem Thread aber nie um die Existenz einer weltweiten satanischen Verschwörung und ihrer verschwörungstheoretischen Gefahr für unsere Gesellschaft, sondern darum, wie destruktive Kulte und auch artverwandte Gruppierungen aufgebaut sind und funktionieren als Ideengrundlage für alle, die eine solche Gruppierung glaubhaft in ihrer Geschichte einbauen wollen.
Es ist eine gute Ergänzung auf die Satanic Panic und welches Problem Suggestionsfragen darstellen können hinzuweisen, letztlich führt dies aber wieder am Grundthema vorbei.
Denn wie man falsche Erinnerungen bei Menschen erzeugt, sodass diese glauben Teil einer weltweiten satanischen Verschwörung zu sein, ist nicht Thema dieses Threads, wenn ich beim Titel und Eingangspost bleibe.

ZitatVor diesem ganzen Hintergrund schrillen bei mir sofort die Alarmglocken, wenn es um Kulte und ihre manipulativen/gewaltsamen Techniken geht. Ich glaube Steven Hassan und Ray Lifton sofort, dass sie überzeugt davon sind, dass diese Kulte so existieren und arbeiten, wie sie es beschreiben; aber bei dem ganzen Thema steht in meinem Kopf ganz groß "Suggestion" im Raum, so dass ich diese Beschreibungen nicht einfach so glauben kann. [...] Ich kann nicht ausschließen, dass Kulte existieren und genau so arbeiten, und ich kann schon gar keine Aussagen über die Personen treffen, die dahinter stehen. Aber ich habe genug Fachwissen, um dem Thema mit etwas Skepsis gegenüberzutreten, und ich sehe in der Arbeit von Hassan und Lifton nichts, das mir diese Skepsis nimmt. Für mich persönlich ist es nur eine Glaubensfrage steht damit auf der gleichen Wahrheitsstufe wie die Frage, ob es so etwas wie einen Gott gibt.
Vielleicht interpretiere ich das falsch, aber für mich klingt das durchaus nach Anzweiflung an der Existenz von Kulten an sich. Sollte es anders sein, nehme ich das gerne zurück und behaupte das Gegenteil.
Aber Kulte und Sekten existieren, höchstwahrscheinlich nicht als weltweite Verschwörung, sondern als kleine Inseln, die gesamtgesellschaftlich vermutlich keinen Einfluss haben. Aber auf ihre Mitglieder haben sie Einfluss, einen sehr schädlichen, der die meisten ihre sozialen Kontakte, ihr Geld und in besonders tragischen Fällen ihr Leben kostet.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Sanjani am 22. November 2023, 16:00:24
Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04Wenn es diese weitreichende, systematische und mächtige Verschwörung wirklich geben würde, dann müsste es mehr Hinweise darauf geben.

Ich kann mich an keinen Post hier erinnern, der so etwas behauptet hätte.
Ich selber habe nur gesagt, was im Kleinen super funktioniert, funktioniert meiner Ansicht nach auch im Großen und dass es mich wundert, dass die Existenz von Kulten angezweifelt wird, was ich so verstanden hatte.

ZitatEbenso ist es zwar möglich, dass Personen sich nicht mehr an den Missbrauch erinnern, aber es erscheint abwegig, dass sich alle von ihnen erst im Rahmen einer Therapie wieder daran erinnern.

Genauso abwegigg erscheint es aber, zu behaupten, alles, was diese Menschen sagen, sei nur eingebildet, suggeriert und eine falsche Erinnerung, meinst du nicht?
Die Wahrheit liegt mit Sicherheit wie so oft irgendwo dazwischen.


ZitatWie gesagt, Satanic Panic. Das Phänomen ist bekannt.

Oder kollektive Dissoziation. Auch dieses Phänomen ist bekannt. :)

LG

Sanjani
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Alana am 22. November 2023, 16:11:21
@Araluen Stimme zu. Und eine Organisation wie Scientology kann man auf jeden Fall als weltweite Gefahr einstufen. Sie haben ja auch viele Deckmäntelchen wie "Die Schülerhilfe", mit denen sie versuchen, Mitglieder heranzuziehen. Als Verschwörung würde ich das aber nicht bezeichnen, weil das für mich sofort diesen "ist eigentlich nicht existent" Touch hat. Und Scientology ist definitiv existent, sehr mächtig und extrem gefährlich.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: SebMeissner am 24. November 2023, 18:28:04
Danke für die spannende Diskussion. Ich möchte zwei Sachen ergänzen.

Die Hinweise darauf, die hier angeführten Theorien und Experten wissenschaftlich zu hinterfragen, finde ich sehr gut. Ich habe aber Bauchschmerzen dabei, andere psychologische Theorien und Definitionen danebenzustellen, als wären diese besser. Ein erheblicher Teil unserer Grundlagen oder Störungsbilder basiert auf (konkurrierenden) Arbeitshypothesen oder dem aktuellen Konsens, der in der nächsten ICD aber bestimmt schon wieder treffender hinterlegt wird. Bei strikter Orientierung an der Falsifizierbarkeit von Theorien müssten wir in diesem Fachgebiet vieles zurückweisen, was akzeptierte Praxis ist. Psychologie ist oft eine Annäherung an Phänomene und eine skeptische Überprüfung unseres Verständnisses und unserer Messkriterien ist einfach immer angezeigt. Praktisches Beispiel: Die Methodik, mit der die von Araluen angeführte suggestive Diagnostik im deutschen Fallbeispiel aufgedeckt wurde, ist ebenfalls umstritten.

Bezüglich der Grenzen der menschlichen Beeinflussbarkeit durch "Gehirnwäsche": Es ist für jeden von uns klar, dass Kinder mit unterschiedlichen Sprachen und Anschauungen aufwachsen. Es gibt Kindersoldaten und Kinderarbeit. Selbstverständlich ist es möglich, Kinder mit strukturierten Indoktrinationen (und vielleicht Gewalt) in unterschiedlichste Weltanschauungen zu versetzen. In wie fern diese Anschauungen Bestand haben, wenn diese Kinder anderen Einflüssen ausgesetzt sind, ist individuell verschieden, aber in Kombination mit Isolation, Gruppendynamiken und Zwang geht eine Menge. Das gleiche gilt für vulnerable Jugendliche und Erwachsene, Stichwort Menschenhandel.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04Wenn es diese weitreichende, systematische und mächtige Verschwörung wirklich geben würde, dann müsste es mehr Hinweise darauf geben.
Das denke ich auch.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 19:51:43Es gibt zum Beispiel bei ritueller Gewalt durch Satanisten keine handfesten Hinweise darauf, dass so etwas existiert.
Du meinst jetzt wieder die organisierte, weltweite Variante, oder? Denn die Form der Gewalt existiert definitiv. Ich habe auch selbst schon mit einzelnen Tätern gearbeitet, meist vor einem Hintergrund von Wahnvorstellungen und Substanzmissbrauch.

Zitat von: Mondfräulein am 21. November 2023, 23:12:04Ebenso ist es zwar möglich, dass Personen sich nicht mehr an den Missbrauch erinnern, aber es erscheint abwegig, dass sich alle von ihnen erst im Rahmen einer Therapie wieder daran erinnern.
Therapien überreizen häufig die mentalen Strategien, die Menschen von sich aus gegen negative Gefühle oder Erinnerungen entwickelt haben, und dann kommt es regelmäßig zu intensiven Gefühlen, gerade auch negativen. Solche Gefühle können Erinnerungen aufwühlen, die ähnlich konnotiert sind, z.B. Gewalterfahrungen. Hinzu kommen Menschen, denen solche Erinnerungen suggeriert worden sind, Therapeuten, die suggestiv arbeiten, und ideologische Interpretationen (wie z.B. religiöse Therapeuten, die BDSM-Schilderungen als Satanismus auslegen).
Missbrauchsopfer erinnern sich aber nicht nur in der Therapie, sondern z.B. in späteren sexuellen Situationen oder wenn sie eigene Kinder haben.
Titel: Re: Schreiben von manipulativen Beziehungen/Umgebungen und destruktiven Kulten
Beitrag von: Mondfräulein am 08. Dezember 2023, 13:39:47
Zitat von: SebMeissner am 24. November 2023, 18:28:04Ein erheblicher Teil unserer Grundlagen oder Störungsbilder basiert auf (konkurrierenden) Arbeitshypothesen oder dem aktuellen Konsens, der in der nächsten ICD aber bestimmt schon wieder treffender hinterlegt wird. Bei strikter Orientierung an der Falsifizierbarkeit von Theorien müssten wir in diesem Fachgebiet vieles zurückweisen, was akzeptierte Praxis ist.

Das stimmt absolut. Aber in den Theorien selbst findet man häufig schon Anhaltspunkte, ob sie wissenschaftlich Hand und Fuß haben. Wichtig ist, dass eine Theorie überhaupt falsifizierbar ist. Freuds Ödipuskomplex ist es zum Beispiel nicht. Wenn ein Junge kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat, dann deutet das auf einen Ödipuskomplex hin. Wenn ein Junge ein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat, dann kompensiert er seinen Ödipuskomplex und das deutet ebenso auf einen Ödipuskomplex hin. Die Theorie ist nicht widerlegbar, weil es für jede mögliche Ausprägung eine Erklärung gibt. Ich kann nicht belegen, dass kein Ödipuskomplex vorliegt.

Gerade in der klinischen Psychologie hat sich in den letzten Jahren auch viel getan. Die ICD 11 hat im Vergleich zur ICD 10  einige grundlegende Neuerungen eingeführt. Die ICD 12 wird wahrscheinlich wieder einiges umwerfen. Aber wie du schon sagst, Psychologie ist eine Annäherung.  Wir wissen nie etwas ganz genau, sondern versuchen, möglichst dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu entsprechen. Vielleicht klassifizieren wir psychische Störungen in 50 Jahren vollkommen anders als jetzt.

Das Problem dabei ist, dass diese Unbeständigkeit der Wissenschaft häufig nicht sehr vertrauenserweckend wirkt. Epistemische Überzeugungen durchlaufen nach einigen Modellen Entwicklungen vom Laien zum Experten. In der Wissenschaft wissen wir nie etwas wirklich sicher, wir nähern uns an, überwerfen alte Theorien, treffen Annahmen. Diese Verständnis von Wissen als immerwährender Prozess des Erfahrens und Entdeckens ist etwas, mit dem Wissenschaftler*innen vertraut sind, das aber nicht der Vorstellung der meisten Laien davon entspricht, wie Wissen und Wissenschaft funktionieren. Deshalb wirkt echte Wissenschaft oft weniger vertrauenserweckend als falsche Annahmen, die aber sehr überzeugend daherkommen, weil sie die klaren Aussagen treffen, die man in der Wissenschaft oft vermeidet. "Alle Menschen lassen sich in 16 Persönlichkeitstypen einteilen, mit diesem Test kann ich dir sagen, was für ein Typ du bist" klingt vertrauenserweckender als "dieser Test ist gut belegt und ich kann dir sagen, wie hoch dein Neurotizismus-Wert über oder unter dem Durchschnitt liegt, aber Selbstauskünfte sind sowieso keine objektive Messmethode, es gibt noch einige andere Persönlichkeitsmodelle und ich kann dir sagen, was das Ergebnis eventuell bedeuten könnte, aber nichts davon muss auf dich zutreffen".

Zitat von: SebMeissner am 24. November 2023, 18:28:04Du meinst jetzt wieder die organisierte, weltweite Variante, oder? Denn die Form der Gewalt existiert definitiv. Ich habe auch selbst schon mit einzelnen Tätern gearbeitet, meist vor einem Hintergrund von Wahnvorstellungen und Substanzmissbrauch.

Genau. Missbrauch existiert definitiv in den unterschiedlichsten Formen. Was ich wie viele andere auch anzweifle, ist die Existenz eines weltweit organisierten Netzwerkes satanischer Kulte, die systematisch Kinder missbrauchen und ihre Erinnerungen dann gezielt löschen, um sie dann durch bestimmte Codewörter im Erwachsenenalter wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Ich kann nur empfehlen, sich noch einmal mit Satanic Panic zu befassen. Es gibt wenig Hinweise darauf, dass diese Bedrohung real ist, aber sehr viele Hinweise darauf, dass sie es nicht ist. Viel davon fußt leider auf Therapeut*innen, die mit unsauberen Methoden gearbeitet haben. Viele einschlägige Berichte aus den 80ern zum Beispiel erwiesen sich später nachweislich als falsch.