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Charakter so richtig lebendig machen?

Begonnen von Darielle, 02. April 2011, 17:50:28

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Issun

Zitat von: Sanjani am 15. Mai 2013, 21:57:56
Ich habe auch schon über Charas geschrieben, von denen ich kaum etwas wusste, und trotzdem haben sie sich für mich ganz nah und bekannt angefühlt.

So geht es mir, wenn ich Kurzgeschichten schreibe, vermutlich, weil ich in sie in komprimierterer Form Persönliches einbringe als in meine Romanhandlung. Die Charaktere der Kurzgeschichte leben gewissermaßen meine Gemütslage und brauchen daher oft keinen ausgefeilten Hintergrund. Wie gut diese Geschichten ankommen, kann ich mangels kritischer Leserschaft nicht einschätzen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, einen Roman mit mir unbekannten Charakteren zu schreiben, bzw. das eine Mal, dass ich es versucht habe, bin ich nach gut 200 Seiten gescheitert, und das war ziemlich hart für mich.

Bei Kurzgeschichten reichen mir auch ungefähre Anhaltspunkte, was das Aussehen angeht - nicht so bei längeren Geschichten. Für mich erzählt der Körper einer Figur auch deren Geschichte. Eine Narbe von einer alten Schusswunde hier, eine Verbrennung da, Schatten unter den Augen oder ein magerer Körper sagen schon manches über eine Figur aus. Mit solchen Merkmalen assoziiert der Leser etwas. So können mittels Beschreibung Klischees bedient oder auch aufgebrochen werden.
Aber das ist wohl am Ende doch Geschmackssache, und man sollte den Lesern auch nicht jedes Detail am Aussehen eines Charakters aufdrängen.

HauntingWitch

#31
ZitatDas macht ihn für mich nicht wirklich unperfekt; das ist nur eine Angewohnheit, die eben jeder irgendwie hat - der eine hat offensichtlichere, beim anderen fallen sie weniger auf.

Und Schuhe sagen für mich viel über eine Person aus. Tatsächlich ordne ich Menschen anhand ihrer Schuhe oftmals unterbewusst in Kategorien ein   Eines der ersten Dinge, die ich zur "Einordnung" fremder Individuen heranziehe.

1) Natürlich ist "perfekt" auch eine Definitionsfrage. Ich finde ihn ja gerade deswegen super.  ;) Dahinter ist auch der Gedanke, dass Angewohnheiten erst "perfekt" machen könnten, insofern, dass das vermeintlich Unperfekte eben genau das Interessante und somit Perfekte ist. Ich hoffe, das ist einigermassen verständlich. Das sind aber jetzt ganz frische Überlegungen.

2) Interessant. Mir sind auch schon gewisse Tendenzen bei Typen von Schuhträgern aufgefallen, aber dass manche Menschen da so grosses Gewicht drauf legen, ist gut zu wissen. So kann man auch auf solche vermeintlichen Kleinigkeiten mehr achten.

Man kann auch einen Charakter von solchen Gesichtspunkten aus zusammensetzen, wie wenn man einen Faden spinnt, der einfach immer weiter läuft. Eine Vorliebe führt zur nächsten Eigenschaft usw. Da muss man nur aufpassen, dass man keine Klischee-Figur draus macht und nicht zu sehr kategorisiert, denke ich.


ZitatDie Durschnitts-Typen eignen sich hauptsächlich als "Nebendarsteller" - sie bieten Projektionsfläche, Stabilität, Vertrautes, setzen den Standard und machen so die Vielschichtigen erst zu etwas Besonderem. Sie helfen uns bei der Orientierung in der fiktiven Welt. Aber sie sind eben nicht außergewöhnlich genug, um unser Interesse, bzw. unsere Faszination, auf Dauer zu wecken oder aufrechtzuerhalten.

Dem kann ich nur noch zustimmen.  :)

@Coppelia: Nun, wie gesagt, wer sagt denn, dass sie gut aussehen müssen. Ich mag Gutaussehende einfach. Aber andere können genauso faszinierend sein, wenn nicht gar noch mehr, gerade weil sie eben nicht gut aussehen und damit aus der Idealvorstellung fallen.

Sanjani

Hallo,

Zitat von: Debbie am 15. Mai 2013, 18:08:36
Ja, das stimmt - aber nur wenn sie das Potential haben (wenn auch verborgen), durch Schwierigkeiten über sich hinaus zu wachsen und den Rahmen des "Normalen" zu sprengen; wodurch sie dann ebenfalls zu einem "besonderen", vielschichtigen Charakter werden. Bis zu einem gewissen Grad, haben viele Menschen diese Fähigkeit - aber anhand der vielen Alkoholiker, Drogenabhängigen, Beziehungsunfähigen und Selbstmördern, sieht man auch gut, dass nicht jeder das Potential hat, mit seinen Aufgaben und den Widerständen des Lebens zu wachsen.

Sorry, aber das hier kann ich nicht unkommentiert so stehen lassen. Ich weiß nicht, ob das heutzutage allen Leuten klar ist, aber jeder 4-5 Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer Depression. Und Depressionen können wirklich jeden treffen und zwar inklusiv suizidales Syndrom (= Selbstmordgedanken, -fantasien und -absichten). Das ist ein Teil der Erkrankung. Dazu muss man kein besonders schwacher oder wenig widerstandsfähiger Charakter sein. Darüber hinaus ist die Fähigkeit mit harten Anforderungen im Leben zurechtzukommen sowie "Beziehungsunfähigkeit" nicht nur angeboren, sondern wird über weite Strecken erlernt, z. B. durch gute Bezugspersonen. Das heißt nicht, dass nicht auch genetische Komponenten eine Rolle spielen, aber es gibt kein Beziehungsunfähigkeitsgen und kein Selbstmordgen und es gibt keine genetischen Komponenten, die präzise vorhersagen könnten, dass jemand alkohol- oder drogenabhängig wird oder sich im Laufe seines Lebens das Leben nimmt.
Und nur weil Alkohol im Handel frei erhältlich ist, bedeutet das in keinster Weise, dass es harmlos wäre oder besonders schwierig davon abhängig zu werden.

Kurz gesagt: Die Leute, die du da erwähnst, sind krank. Und ich finde es nicht angemessen so über kranke Menschen zu sprechen bzw. zu schreiben.

Liebe Grüße und nichts für ungut,

Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Coppelia

Über Charakterentwicklung könnte ich ewig schreiben. Aber es bleibt wohl immer das "Problem" Leser: So großartig, vielschichtig und lebendig ein Charakter auch sein mag, es wird immer Leser geben, die ihn platt und blöd finden. ;)

Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Was das Aussehen betrifft: Man kann Figuren natürlich aussehen lassen, wie man will (ich denke: Sie sehen halt so aus, wie sie aussehen), aber wenn man den Roman verkaufen will, könnte man Schwierigkeiten bekommen, wenn wichtige Figuren übergewichtig oder glatzköpfig sind. Eben weil die meisten Leser das nicht gern sehen. Krimis, denke ich, sind da eine Ausnahme. Detektive dürfen ruhig dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen, zumindest männliche.
Nun ja, solange man junge Hauptfiguren hat, sollte man keine ernsthaften Probleme bekommen - junge Leute gelten ja automatisch als schöner. ::) Aber mein 43jähriger, übergewichtiger, glatzköpfiger Superredner Lukial wird es wohl schwer haben, sich in die Herzen der Leser zu palavern. Nur - was wäre Lukial, wenn ich ihm einen Waschbrettbauch und schnieke dunkle Haare gebe und ihm dann vielleicht noch seine Wehleidigkeit und seine Egomanie wegnehmen? ;D Auf jeden Fall nicht mehr Lukial.

(Galotta hatte eine Glatze, ja. ;D)

Churke

Ein Figur wird nicht durch die Länge oder Ausführungslichkeit des Charakterbogens plastisch, sondern durch die Akzente, die man setzt.

Neulich z.B. schickte ein örtlich berüchtigter Bauträger (Bauleistung: 30 Millionen pro Jahr) seine "Prokuristin" zur Bauabnahme. Aus dem C-Klasse-Cabrio stieg ein abgehalftertes Pornosternchen. Das war total surreal. Von den Leggins über das Nasenpiercing, die verpsiegelte Sonnenbrille und die blondierten Haare bis zum blassen, gelblichen Teint, den man sonst bei Junkies beobachtet.
Die Dame nahm in den folgenden drei Stunden ihren Kaugummi nicht mal zum Rauchen heraus und kommentierte jeden Baumangel mit einem Schulterzucken. "Ist doch mir egal."

Die Erscheinung (die mit ihren absolut unverschämten Briefen korrespondiert) sagt alles und ob die jetzt wirklich vom Porno kommt, ist völlig irrelevant. Da kann sich jeder seine eigenen Gedanken zu machen.  ::)


HauntingWitch

Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Das stimmt sicher teilweise. Ich denke auch, es macht Menschen - oder auch Buchfiguren - besonders aus, wenn man sie trotz oder gerade wegen ihren Fehlern mag. Aber als Autor habe ich Mühe, meine Figuren entsprechend zu gestalten. Ich erlaube mir das sozusagen nicht und weiss noch nicht einmal so genau, warum. Hm. Ich glaube, das ist die grosse Schwäche, die ich habe. Denn lesen tue ich auch diese spezielleren Charaktere sehr gerne.

Ich finde es soo spannend, eure Meinungen zu lesen, das gibt mir laufend neue Anstösse.

Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was das Aussehen betrifft: Man kann Figuren natürlich aussehen lassen, wie man will (ich denke: Sie sehen halt so aus, wie sie aussehen), aber wenn man den Roman verkaufen will, könnte man Schwierigkeiten bekommen, wenn wichtige Figuren übergewichtig oder glatzköpfig sind.

Lies mal etwas von John Ajvide Lindqvist (egal, was) und achte auf die Hauptfigur(en). Sie sind alle entweder alt, dick, verschupft oder sonst irgendetwas. Das meinte ich weiter oben.  :psssst:

Zu deinem Lukial: Das ist ja auch eine Frage der Umsetzung, wie man den Charakter einführt und dem Leser näher bringt. Man kann auch einen optisch "hässlichen" (ist ja auch wieder Ansichtssache ;)) sympathisch machen. Wer weiss, vielleicht lieben die Leser ihn dann alle und finden dich als Autorin gerade deswegen toll.


Debbie

#36
Zitat von: Coppelia am 16. Mai 2013, 10:49:02
Was ich zu den "Fehlern" noch sagen wollte: Ich persönlich (aber auch da scheine ich nicht zur Mehrheit zu gehören) finde, dass es die Fehler sind, die einen Charakter erst liebenswert machen. Es gibt ja nicht umsonst den Spruch: "Wir schätzen Menschen wegen ihrer Qualitäten, aber wir lieben sie wegen ihrer Fehler." Für mich ist das bei Romanfiguren auch so. Wenn ich mir vorstelle, meinen Figuren ihre Fehler wegzunehmen (sowohl äußere "Makel" als auch charakterliche Fehler - echte oder welche, bei denen es Ansichtssache ist) wären sie für mich nicht mehr interessant und auch nicht mehr liebenswert.

Das stimmt absolut - und gerade vielschichtige Charaktere haben oftmals viele und "scherwiegende" Makel. Normale "Macken" machen einen Menschen nicht wirklich vielschichtig (meine subjektive Meinung), das tut für mich nur ein gewisses Maß an "Abnormität", gepaart mit anderen, kontroversen Seiten. Am besten, wie bereits gesagt wurde, durch Kontraste. Und je mehr und deutlicher vorhanden, desto vielschichtiger (und interessanter) wird die Figur für mich.

@Sanjani: Da ich selbst zu diesen "kranken" Leuten gehört habe, und viele Drogenabhängige und einige Alkoholiker kenne (die im Übrigen alle irgendwie wissen, dass sie tun, was sie tun, weil es in ihrem Leben ein oder mehrere "unfinished businesses" gibt), sehe ich in dem was ich gesagt habe, weder eine Beleidigung noch sonst was Negatives, und nehme mir auch das Recht raus, darüber zu urteilen. Es ist keine "Leistung" Depressionen zu kriegen, oder Alkoholiker zu werden - oder sich umzubringen - sondern es ist eine Leistung, sich garnicht erst so weit fallen zu lassen. Vielleicht auch eine noch größere, da wieder raus zu kommen (das weiß ich aus eigener Erfahrung). Solche Charaktere können hervorragende Protas oder Figuren sein, solange sie das Potential haben, sich weiterzuentwickeln und über sich hinaus zu wachsen, also ihr Leben wieder in die Spur kriegen. Das Aufsteigen ist eine Leistung, der Fall ganz sicher nicht!
Und zu diesem "angeboren" vs. "erlernt": Ich kenne Leute, die hatten alles - liebevolle und geduldige Eltern, fürsorgliche Freunde, Geld - und sind dennoch total verkorkst. Und dann kenne ich Leute, die hatten eine absolut besch.... Kindheit und/oder Jugend, die es ohne entsprechende Vorbilder geschafft haben, ein moralisches Gewissen und eine Art "Ehrenkodex", sowie die Fähigkeit zu lieben zu entwickeln. Erziehung/der Lernprozess haben m. M. n. (und die begründet sich nicht auf irgendwelche psychologischen Bücher, gegen die ich generell komplett allergisch bin, sondern auf echte "Fallbeispiele") nur einen begrenzten Einfluss auf den Charakter eines Menschen - und darauf, wie er mit den Widrigkeiten des Lebens umgeht.

HauntingWitch

Zitat von: Debbie am 16. Mai 2013, 15:09:48
Das stimmt absolut - und gerade vielschichtige Charaktere haben oftmals viele und "scherwiegende" Makel. Normale "Macken" machen einen Menschen nicht wirklich vielschichtig (meine subjektive Meinung), das tut für mich nur ein gewisses Maß an "Abnormität", gepaart mit anderen, kontroversen Seiten.

Interessant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.

Sanjani

Hallo Debbie,

Zitat von: Debbie am 16. Mai 2013, 15:09:48
sondern es ist eine Leistung, sich garnicht erst so weit fallen zu lassen. Vielleicht auch eine noch größere, da wieder raus zu kommen (das weiß ich aus eigener Erfahrung).

Ich hab ja nix Gegenteiliges behauptet. Aber ich glaube fest daran, dass jeder (na ja vllt 90-95%) es schaffen kann aus so einer Sache wieder rauszukommen, wenn die Bedingungen dafür stimmen. Und deshalb finde ich es unangemessen zu sagen: Na ja, der hat sich umgebracht, weil er eine gescheiterte Persönlichkeit ist und eben kein Potential zur Weiterentwicklung hatte. So kam es jedenfalls bei mir an. Und du darfst mir glauben, dass ich auch allerhand Fallbeispiele kenne.

Aber so hat eben jeder seine Meinung und die anderen hier können sich darüber Gedanken machen, welchem von beidem sie mehr zustimmen.

Viele Grüße

Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

Valaé

Lebendige Charaktere ... eines meiner absoluten Lieblingsthemen.
Ich gehöre zu den Autoren, denen lebendige Charaktere über alles gehen und in der Prioritätsliste noch vor einem interessanten Plot kommen. Zwar bedingen sich diese beiden Sachen meist gegenseitig, jedoch brauche ich selbst auch einfach für mich interessante Charaktere oder ich kann mein eigenes Buch nicht ausstehen.
Wie aber werden die Charaktere lebendig. Ich gebe zu, dass ich es nicht ganz genau sagen kann. Hauptsächlich möchte ich mich Malinches Post recht am Anfang anschließen: Meine richtig guten Charaktere zeigen sich für mich selbst allesamt dadurch, dass sie keine Charaktere waren, in der Art, wie man sich das so vorgestellt hat, als man noch "nur Leser" war. Der Autor konzipiert sie, der Autor bestimmt über sie und legt alles fest. Auch Charakterbögen neigen dazu, diesen Eindruck zu vermitteln. Keiner meiner wirklich guten Charaktere könnte so beschrieben werden. Die würden diese Sätze lesen und danach einen so gründlichen Lachanfall bekommen, dass ich erst einmal ein paar Minuten nichts mehr mit ihnen anfangen könnte - die wirklich guten Charaktere habe ich immer behandelt wie ... Freunde. Ich kann sozusagen mit ihnen "reden" wir sind auch manchmal nicht gleicher Meinung, sie haben ihre eigene Vorstellung und rücken gerne erst nach langer, langer Zeit mit ihren Geheimnissen heraus. Nur, wie bekommt man einen Charakter, der irgendwann so anfängt zu leben?

Das war bei mir unterschiedlich. Der erste, bei dem ich es erlebt habe, war als Nebenfigur geplant und überraschte mich zuerst damit, dass ich einen Namen für ihn überlegte und auf einen Namen stieß, der mir nicht gefiel. Aber er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. So sehr ich auch überlegte ... an einen anderen Namen war nicht mehr zu denken. Das nenne ich heute, dass er sich geweigert hat, seinen Namen abzugeben und es ihm egal war, ob ich den Namen toll fand. Und als mir klar wurde, dass ich es nicht schaffen würde, ihm einen anderen Namen zu geben, da sah ich ihn vor mir. Mit einem dicken Grinsen und einem Schulterzucken, dieser schelmischen Art, die auch später sein Markenzeichen wurde und er hat mich ausgelacht. Es war, als hätte ich in dem Moment, in dem ich ihm sein Eigenleben zugestanden hatte auch diesen lebendigen Charakter erhalten. Er ist auch heute noch der, den ich fast am lebendigsten von allen bezeichnen würde und ich sehe es an ganz bestimmten Dingen: Er hatte eine Hintergrundgeschichte, die weit über die Relevanz für das Buch hinausging und Träume, die ganz fassbar waren und ihn beeinflusst haben. Er war ein Mensch mit Erinnerungen, Träumen und Hoffnungen, mit einem (leicht gebeutelten) Moralkodex, festen Ansichten, einer Fassade und dem, was dahinter lag. Er war für mich wie ein sehr guter Freund, ich konnte mir selbst in eigenen Alltagssituationen vorstellen, wie er reagieren würde und sah ihn beim Schreiben regelmäßig vor mir (und er taucht sogar heute noch manchmal einfach vor meinen Augen auf und macht Späße oder wirft mit sarkastischen Kommentaren um sich). Seine Tiefe lag für mich vor allem daran, dass er eben ein Leben fernab des Buches hatte und immer wieder Dinge am Rande eingeflossen sind, die ich erst nicht erklären konnte und dann durch kleine Nachforschung wusste ich später, warum er sich so verhält oder jenes tut und selbst wenn das nie im Buch erwähnt wurde, es hatte ihn geprägt. Er war eben nicht einfach ein "Schablonenmensch" wie ich sie gerne in Romanen sehe, der nur für diese Geschichte entwickelt wurde und dem man das anmerkt.  Es ist eher so, dass er als vollwertiger Mensch in die Geschichte geworfen wurde und dann damit klar kommen musste. Also nicht: Am Anfang stand der Plot und wen brauche ich dafür? Sondern: Am Anfang stand der Charakter und was ergab sich daraus? Es ist unwichtig, dass im Entstehungsprozess eben doch der Plot zuerst da war - wichtig war, dass dieses Gefühl am Ende nicht mehr da war, das man sich diesen Charakter auch vollkommen ohne den Plot hätte vorstellen können - er wäre auch dann noch ein vollwertiger Mensch gewesen.

Nicht alle lebendigen Charaktere kamen so. Einer brauchte fünf Kapitel, in denen er sich kontinuierlich in den Vordergrund schob, bis mir auffiel, dass ich ihn mir nicht mehr wegdenken konnte und dass ich die Geschichte unbeabsichtigterweise sehr um ihn gewoben hatte - obwohl er nur eine Nebenfigur war. Ich ließ ihm den Willen und schwupps - überfiel er mich mit einer Fülle von Informationen und Einsichten, die mir erneut erlaubten, ihn als einen Charakter darzustellen, der auch ohne Plot ein selbstständiges Leben hätte führen können.
Wieder andere Charaktere brauchten nur einen kurzen Anstupps. Ein Lied. Ein Bild. Eine kurze Idee - dann waren sie da und gingen nicht mehr aus dem Kopf. Aufgrund der unterschiedlichen Entstehungsweisen glaube ich, es gibt kein Patentrezept dafür, wie sich so ein Charakter entwickeln lässt. Sie können plötzlich kommen oder langsam. Wichtig war bei mir immer nur: Es waren immer Charaktere, die irgendwo etwas anders machen wollten, als ich es wollte. Gab ich nach, wurde ich mit einem so lebendigen Charakter belohnt, wie sonst selten der Fall war. Wichtig war immer, sie mehr als Freunde und Partner zu behandeln, als als Marionetten der eigenen Schreibe. Deswegen halte ich persönlich auch mehr von den Vorstellungsgesprächen als von einem Charakterfragebogen, bei dem ich einfach immer oft das Gefühl habe, ich konstruiere etwas. Wogegen ich bei den Vorstellungsgesprächen mir meinen Charakter vorstelle, wie er da sitzt und gelöchert wird. Und dann fängt er meistens ganz schnell an zu singen (oder zu keifen ...  ;D).

Was alle sehr lebendigen Charaktere verbunden hat, ob ich sie selbst schrieb oder auch las, war, dass ich sie mir immer auch außerhalb der Geschichte vorstellen konnte. Es war, als hätte ich da einen Menschen vor mir. Das kam meistens davon, dass es eben mehr Infos über sie gab, als zwangsläufig wichtig für die Geschichte gewesen wäre. Manchmal hatten sie VErgangenheiten, die noch nicht einmal beschrieben werden mussten. Ihre Andeutung reicht. Auch kleine Verhaltensweisen und Macken, die nicht wichtig sein müssen, helfen viel. Ebenso verleiht meiner Meinung nach auch eine "stille Situation", also eine Situation, in der einmal nicht viel geschieht und die möglichst ruhig ist, einem Charakter oft viel Tiefe. Wenn er ganz allein ist mit sich, seinen Gedanken und allen Geschehnissen, dann kommt gerne das Innerste zum Vorschein oder die kleinen liebenswerten Eigenheiten, wie mein Dieb, der von einem Tischlerdasein träumte oder mein Narr, der gerne das Schillern des Morgentaus betrachtet - alles keine wichtigen Szenen. Aber ohne sie wären diese Charaktere nicht, wer sie sind.

Leider kann ich so gut wie keine Beispiele anderer Charaktere als meiner eigenen nennen, was nicht daran liegt, dass ich keine kenne, die ich als lebendig betrachten würde (es sind aber in der Tat nur wenige, gerade in der bekannteren Literatur. So würde ich sowohl die Figuren aus HdR, als auch die aus Harry Potter beide als eher flach bezeichnen. Die einen, weil hier der Augemerk deutlich mehr auf dem Plot liegt und Charakterentwicklung gar nicht so groß geschrieben wird und man nur recht wenig Innensicht erhält (HdR), die anderen weil sie sehr vorgezeichnete Schemata haben und aus denen auch nicht herauskommen (HP) und mir irgendwie die kleinen überraschenden Feinheiten fehlen). Vor allem aber ist es die Tatsache, dass ich bei denen, die ich als lebendig bezeichnen würde (Kvothe aus "Der Name des Windes" fand ich lebendig, oder auch Tyrion Lennister aus "Das Lied von Eis und Feuer") nicht wirklich festmachen kann, was sie eigentlich lebendig macht. Als Leser achte ich weniger auf diese Feinheiten wie als Autor. Ich nehme sie unterschwellig wahr. Während ich als Autor meine Figuren eben kenne wie der beste Freund oder noch besser, wie einen Teil meiner selbst, den ich auch ironisch belächeln kann und mich über jede kleine Info freue, die sie mir geben, nehme ich sie als Leser eben diese kleinen Infos kaum war. Aber sie tragen unterbewusst zu diesem lebendigen Bild bei. Ich spüre, dass es da Dinge gab, die sie irgendwie anders machen, als andere Charaktere und manchmal fällt mir sogar etwas ein (bei Kvothe finde ich diese Prägung durch die Musik und das junge Leben bei einer Art Schaustelltruppe (verbessert mich wenn ich Käse rede, es ist lange her) mit seiner konstanten Prägung enorm gelungen, bei Tyrion kann ich nicht sagen, was ihn so lebendig macht), aber meistens ist es so geschickt eingebunden, dass es Nebensachen sind, die ich nicht mehr wirklich weiß - aber ich weiß gleichzeitig, dass da etwas war und wenn es fehlen würde, wäre der Charakter nicht mehr so lebendig. Und genau das ist es, was ich als Autor bei meinen Charakteren auch erreichen will. Das ein Leser irgendwann dasitzt, ihn als lebendig empfindet, aber nicht genau sagen kann, warum. Dann habe ich alles richtig gemacht. Denn bei einem echten Menschen sind es auch oft Kleinigkeiten, die man erst nach langem Nachdenken oder nur unterbewusst als Besonderheiten erkennt und nicht genau benennen kann, die ihn so ganz besonders macht.

Judith

#40
Zitat von: HauntingWitch am 16. Mai 2013, 16:57:07
Interessant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.
Das würde ich so unterschreiben. Fehler und Macken machen nicht zwangsläufig eine Figur vielschichtig, ebenso wenig, wie eine Figur ohne allzu auffällige Fehler und Macken gleich automatisch platt sein muss. Da steckt schon noch deutlich mehr dahinter.
Genauso kann eine Figur zwar vielschichtig sein, von den Lesern aber dennoch als langweilig und platt wahrgenommen werden, weil es vielleicht eine Kombination von Charaktereigenschaften ist, die so sehr häufig vorkommt.
Das alles macht ja die Sache so schwierig, finde ich.

Valaé hat Kvothe genannt, und was ich an ihm so interessant finde, das ist die Tatsache, dass er zwar eigentlich ein ziemlicher Überflieger ist, sich dessen aber auch bewusst ist und manchmal recht arrogant wirkt. Das ist für eine Hauptfigur eher ungewöhnlich, da diese sonst meistens eher ganz bescheiden ist und sich selbst überhaupt nicht für toll hält.
Kvothes Schwäche ist genau die Tatsache, dass er ziemlich perfekt ist - das finde ich klasse. Na gut, und er ist teilweise recht inkompetent im Umgang mit anderen Menschen.  ;)

Fehler und Macken alleine machen für mich also eine Figur noch nicht lebendig und interessant. Es kommt auch drauf an, welche Fehler es sind und wie sie sich mit den weiteren Eigenschaften ineinander fügen. Manchmal sind gerade ungewöhnliche Kombinationen interessant.
Außerdem wird für mich eine Figur vielschichtig, wenn ich sie nicht immer gleich einschätzen und ihre Reaktionen voraussehen kann, wenn sie sich auch mal überraschend verhält. Welche Menschen kann man schon immer und in jeder Situation einschätzen? Selbst bei meinen besten Freundinnen, die ich jahrelang kenne, könnte ich vorher nicht immer sagen, wie genau eine Reaktion ausfallen wird.
Bei manchen Romanfiguren ist es aber so - vermutlich aus Gründen der Glaubwürdigkeit - dass sie sich immer vorhersehbar verhalten und man daher, wenn man sie einmal ein wenig kennengelernt hat, stets sagen kann, wie sie wohl auf diesen oder jenen Plotpunkt reagieren werden. Und das wiederum macht Figuren meiner Meinung nach eher platt, weil man ihnen auf diese Weise eben keine Vielschichtigkeit zugesteht.
Damit meine ich natürlich nicht, dass sich eine Figur ständig unberechenbar und "gegen" ihren Charakter verhalten soll.  ;)

Kati

ZitatInteressant, da bin ich wiederum anderer Meinung. Ich kenne einen sehr vielschichtigen Menschen, der nur "normale Macken" hat. Hingegen bringt Abnormität nicht immer zwangsläufig Tiefgang mit sich. Aber da kann man vermutlich bis zum Ende der Welt diskutieren.

Da stimme ich dir auch zu. Ich kenne einige Autoren, die ihren Figuren alle möglichen Macken aufschwatzen, weil sie denken, sie werden so vielschichtiger. Es gibt ja kaum noch Romanhelden, die ohne düsteres Geheimnis oder tiefe psychologische Schäden auskommen und das finde ich eigentlich schade. Psychische Probleme mit einem vielschichtigen Charakter gleichzusetzen, finde ich eh problematisch, was soll denn da beim Leser ankommen? "Du bist so langweilig, wie dieser völlig normale Nebencharakter hier, weil du noch keine absoluten Tiefschläge in deinem Leben hattest." Was ist denn das wieder? Ganz gewöhnliche Figuren, die in große Abenteuer hineingezogen werden, finde ich meist sogar viel interessanter. Figuren, die an ihren Aufgaben wachsen und über sich hinauswachsen müssen, finde ich auch total interessant und toll, aber das muss ja nicht gleich heißen, dass die Figur am absoluten Tiefpunkt starten muss, um hinterher sonst wie hoch zu fliegen.

Die Annahme, dass man ein besserer Mensch wird, weil man harte Zeiten durchgemacht hat, finde ich ungefähr genauso merkwürdig, wie diesen Spruch ,,Was dich nicht umbringt, macht dich stärker." So ein Unsinn. Aber genau dieses Bild wird in vielen Romanen ja verwendet, um Charakteren Tiefe zu verleihen. Aber ganz offen gesagt: Einen Autor, der Tiefe bloß erzeugen kann, indem er seinen Figuren harte psychische Probleme aufhalst, halte ich für keinen besonders guten Autor.

Und mal ehrlich: Den völlig normalen Menschen, der glücklich durchs Leben wandert, gibt es gar nicht. Jeder hat irgendwelche Probleme. Und vielleicht ist ein verlorener Job im Gegensatz zu jemandem mit Selbstmordgedanken harmlos, aber da kommt es dann darauf an, wie ich so etwas schreibe, denn für die Person, die den Job verloren hat, ist es in dem Moment das Schlimmste auf der Welt. Also, jeder Mensch hat irgendwelche Macken und Probleme, das müssen keine großen, schwierigen Sachen wie Drogenabhängigkeit sein. Und so sollte man seine Figuren auch angehen. Ich denke, die Kunst lebendig und vielschichtig zu schreiben, besteht darin echte Menschen zu schreiben, mit Macken und guten Eigenschaften, mit dunklen Zeiten und schönen Zeiten, egal ob es sich nun um eine ganz gewöhnliche Schülerin handelt oder einen jungen Mann mit Drogenproblemen. Die können beide tolle, vielschichtige, interessante Helden abgeben, wenn man sie glaubwürdig schreibt.

Guddy

#42
Was man aus diesem Thread lernen könnte (überspitzt, natürlich):

Charaktere, die

*gutaussehend sind
*eine tragische Vergangenheit haben
*zierliche Frauen mit kleiner Oberweite sind

... sind doof.
(Tja, dumm gelaufen, meine beiden Lieblingschars sind dann wohl doof.)

Es ist wirklich schade, dass man so leicht in die garstige Klischeefalle tappt und der Charakter dadurch von Dritten direkt abgestempelt werden kann. Doch warum? Es ist nicht eine Eigenschaft, die einen Protagonisten nun tiefgründiger und interessanter macht als andere. Ob gutaussehend oder nicht, ob tragische Vergangenheit oder nicht - ein Charakter wird durch alle seine Facetten zu dem, was er ist und wenn ein Klischee zu einem Prota einfach passt, spricht nichts dagegen, es auch zu benutzen. Das kann ein interessantes oder weniger interessantes Endprodukt sein, letztlich ist es Geschmacksache.

Ob ein Protagonist vielschichtig wirkt oder nicht, liegt mEn. an zwei Dingen: Zum Ersten der Kreativität und Vorstellungskraft des Autors und zum Zweiten dessen Fähigkeiten als Schriftsteller, was Technik, Wortwahl und vieles mehr beinhaltet, was in den Bereich "Handwerk" gehört.
Ich bilde mir ein, dass meine Charaktere sehr lebendig sind. Ich weiß genau, was sie tun, was sie denken, was sie sind. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge und brauche weder Fragebogen, noch Steckbrief. Manche haben Macken, andere nicht, aber für mich wirken alle lebendig und wie von der Straße gegriffen. Ich glaube, dass man sich das erarbeiten kann, ich selber habe einfach eine gute Menschenkenntnis und bin kreativ. Das klingt furchtbar eingebildet, aber diese beiden Dinge sind meine beiden Stärken, derer ich mir einfach sehr sicher bin. Dafür kann ich alles andere nicht gut ;D
Doch ob  sie auch dann noch lebendig sind, wenn ich versuche, sie in Buchstaben zu pressen? Verkommen sie dann zu grauen Abziehbildern ihrer selbst oder bleibt ihre Leuchtkraft erhalten? (vielleicht benutze ich auch einfach das falsche Waschmittel.)
Das ist die technische Seite, zu der ich keine Tipps geben kann, weil ich mir da selber viel zu unsicher bin.

Kati

#43
Guddy: Genau.  :jau: Das meinte ich ja auch damals im Mai: Solang man eine Figur glaubwürdig und interessant schreibt, gibt jede Art von Figur eine gute Hauptperson ab. Deshalb denke ich auch, das Menschenkenntnis und genau hinsehen können für Autoren sehr wichtige Fähigkeiten sind, die man aber auch lernen kann. Handwerklich betrachtet muss man das, was man auf der Straße oder sonstwo sieht, einfach umsetzen können und sich nicht auf literarische Klischees in dem Sinne verlässt, das man die ganze Figur von irgendwo anders übernimmt. Beispiel ist der typische byronsche Held: Launisches, düsteres Love Interest mit turbulenter Vergangenheit, der immer nachdenklich in der Ecke sitzt. Natürlich kann man so eine Figur schreiben, aber eben nicht genau so, wie sie im Katalog steht. Klischees sind echt nichts böses, man muss nur wissen, wie man sie erweitert und einsetzt. Klischees sind für mich halt keine fertigen Figuren sozusagen, sondern Versatzstücke, die man in ein größeres Bild der Figur einbauen muss.

Was ich eben gar nicht mag ist, wenn Autoren platte Figuren durch viel Beiwerk tiefer machen wollen. Dann hat die Hauptfigur eine auffällige Frisur, wurde als Kind beinahe von Löwen gefressen, lebt mit 16 allein in New York in einer Luxuswohnung, die Eltern sind Bonnie und Clyde und alles ist ganz aufregend und ungewöhnlich. Und die Figur schreit: "Ich bin anders und originell" aber darunter ist nichts - keine Persönlichkeit, keine Eigenschaften, einfach nichts. Das Schlimmste, was passieren kann, ist wenn ein Autor versucht eine Figur mit Gewalt auf originell und noch nie dagewesen zu biegen und dabei vergisst, dass all die spannenden Ereignisse auf einen Menschen normalerweise Eindruck machen. Wenn man solche Sachen einbaut, sollten sie den Charakter formen und so Tiefe und Lebendigkeit erzeugen. Aber sehr viele Autoren (besonders im Jugendbuchbereich) überspringen den Schritt, wo die Figur eine eigene Persönlichkeit bekommt und definieren ihre Figuren durch ihre Erlebnisse und Umstände und nicht durch den Charakter selbst, der durch Umstände und Erlebnisse entstanden ist.

EDIT: Beispiel, damit das auch Sinn ergibt: Wenn man einer Figur anheftet, dass sie die schönsten blonden Haare hat, ständig liest und in Museen geht, ihre Eltern Starschauspieler sind und sie selbst jetzt bald die erste CD aufnimmt, macht das allein die Figur für mich nicht interessant und originell, wenn darunter einfach keine echten Eigenschaften sind, sondern wieder nur der hobbylose, charakterlose Pappaufsteller. Dann ist das für mich trotzdem eine farblose Figur, dann könnte das genauso gut das ganz normale Mädchen von nebenan sein. Das dann auf jeden Fall die interessantere Figur darstellen würde, wenn im Gegensatz zu der anderen Figur Ecken, Kanten und richtige Eigenschaften vorhanden sind.

Anj

#44
Ui, das ist ein interessantes Thema. Ich muss gestehen, ich habe jetzt nicht alle Beiträge gelesen, aber ich hoffe, dass mein Posting trotzdem passt ...

In der letzten Zeit habe ich in einigen Geschichten, die ich gegengelesen habe, das Gefühl gehabt, dass die Figuren nicht lebendig wurden. Bei mir hat dieses Leben der Figur aber auch nichts mit dem Aussehen zu tun und sogar nur in zweiter Linie mit dem, was sie gerade erlebt. Was für mich eine lebendige Figur ausmacht, sind drei Dinge:
1. Eine Vergangenheit, die mitschwingt. Kein Charakter entsteht erst beim Anfang der Geschichte, er muss bereits eine Vergangenheit haben. Erinnerungen, Assoziationen, Vorlieben, Ängste, Sorgen, Träume usw. Und diese müssen im Text mitschwingen. Im Subtext. Eine Figur, die in unbekannte Länder zieht, muss je nach Charakter und Situation freudig aufgeregt, angstvoll, resigniert oder sonst was sein. Und diese Emotionen lassen ältere Emotionen oder Erinnerungen anklingen. Und das muss spezifisch sein. Eine Emotion ist auch selten einzeln aktiv. Jemand mit Angst hat nicht unbedingt nur Angst, sondern ist dabei vielleicht noch panisch gelähmt, vielleicht aber auch freudig erregt wegen des Adrenalinstoßes, oder resigniert.
Vergangenes wird wieder "hochgeholt" und färbt die übergeordnete Emotion mit einer ganz individuellen Nuance. Und dann charakterisiert der Umgang mit eben diesem Cocktail von Emotionen/Erinnerungen/Träumen die Figur wieder auf einer weiteren Ebene und erweitert den Subtext. Wird dort rigoros abgeblockt oder systematisch entgegengewirkt, usw? Und das kann mit zwei Sätzen in der Situation alles mit in den Text einfließen.
Für mich sind also letztlich auch Hobbys oder Eigenschaften nur dann wichtig, wenn sie die emotionale Struktur der Figur mitformen.

2. Ein wirklich stringentes Handeln aus der Figurenperspektive heraus. Gerade das fällt mir bei Neulingen oft auf. Der Autor weiß beispielsweise in einer bedrohlichen Situation, dass die Gegenspieler ihm nichts tun werden, vielleicht sogar die Guten sind. Und er schreibt die Szene mit diesem Wissen, statt sich wirklich voll und ganz in die Situation der Figur zu begeben. Dann hat die Figur auch keine wirkliche Angst und die Szene entwickelt sich zusätzlich noch unglaubwürdig.

3. Muss auch die gesamte Geschichte verwoben sein, damit alles lebendig wird. Sätze dürfen nicht einfach nebeneinander stehen und Handlungen oder Beschreibungen aufzählen, sondern es muss eine Struktur vorhanden sein, die ich mit Folgepfeilen darstellen kann. Sätze, oder Satzfragmente müssen logisch zum nächsten Satz führen. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir alles in ineinandergreifende Konstrukte übersetzen und massiv durch bewusste und unbewusste Assoziationen gesteuert werden. Dieses Gefühl, dass alles zusammengehört, das brauche ich auch in einem Buch, wenn es dreidimensional und echt wirken soll.
Mir hilft das Bild, dass meine Satzfragmente und Inhalte Farbgarn sind, die zu einem Teppich verwoben werden. Eine Farbe darf nicht plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, sie muss ins Muster integriert werden. Entweder, in dem sie ein neues (Teil-)Muster schafft, oder in dem andere Farben auf sie vorbereiten.

Um abzuleiten, wie ich meine Figuren schaffe, muss ich wohl sagen, dass ich wahnsinnig viel Innensicht verwende. Meine Perspektivträger kommentieren und sinnieren in der Rohfassung wahnsinnig viel. Vor allem deswegen, weil ich sie niemals im Vorfeld entwickle. Sie sind einfach da und entwickeln sich. Das heißt, ich muss ihre Vergangenheit ebenfalls in der ersten Version erschaffen und da lasse ich mich dann ganz von ihnen und dem Schreibgefühl dabei leiten. Sie zeigen mir, wie sie auf die Situationen reagieren. Meine anderen Figuren bekommen  ständig Kommentare mit Hintergrunderklärungen in den Text und zusätzlich auf die Pinnwand, die bei Papyrus immer vorhanden ist. Das hilft mir, diese Dinge immer wieder vor Augen zu haben und bei den Überarbeitungen kann ich hin und her springen und prüfen, ob das auch wirklich konsistent durchgehalten ist und die Innensicht der Perspektivträger auf ein akzeptables Maß kürzen.

Ob meine Figuren auf Leser allerdings wirklich lebendig wirken? Bislang habe ich dazu noch nicht viele konkrete Rückmeldungen bekommen. Allerdings auch keine Kritik, dass es nicht so wäre. (Zumindest inzwischen schon lange nicht mehr^^)
"Wenn du andere Leute ansiehst, frage dich, ob du sie wirklich siehst, oder ob du nur deine Gedanken über sie siehst."
Jon Kabat-Zinn.