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Unzuverlässiges Erzählen: Wie viel Täuschung darf sein?

Begonnen von Lothen, 27. August 2018, 14:48:55

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Lothen

#15
Zitat von: HolgerAber ich liebe es, wenn ein solcher Twist kommt und es einem wie Schuppen von den Augen fällt: "Ach, jetzt verstehe ich, warum vorher ..." Das ist dann in meinen Augen ein richtig geschriebener unzuverlässiger Erzähler.
So was mag ich auch. Das passt zu dem, was @HSB schrieb: Wenn der Erzähler, d.h. die Figur selbst, es nicht besser weiß und in dem Kontext die Verbindung zwischen A und B nicht herstellen kann, einen bestimmten Hinweis falsch deutet oder einen guten Grund hat, Fakten zu verschweigen (oder nicht wahrzunehmen), dann finde ich das unzuverlässige Erzählen auch spannend. Ich mag es nur dann nicht, wenn die Figur keine Motivation hat und nur der Autor/die Autorin bewusst etwas weglässt oder verschweigt.

Mir ist auch noch ein Beispiel eingefallen, wo ich es - wohldosiert - mag, nämlich dann, wenn es um Coups geht. Zuletzt ist mir das in "Piraten des Mahlstroms" von Nils Krebber aufgefallen, es gibt aber sicher noch weitere Beispiele. Die Figuren haben einen Plan, agieren danach, geben den Lesern aber nichts davon preis, sodass spannend bleibt, was als Nächstes passiert und an welchen Stellen das Vorhaben gelingt und wo es scheitert.

Zitat von: Arcor am 28. August 2018, 09:11:12Ich spiele aber auch mit dem Gedanken, so etwas einmal auszuprobieren - und zwar mit einer Figur, von der der Leser weiß, dass sie ein chronischer Lügner ist. Das könnte funktionieren, wenn der Leser somit alles, was er durch den Prota präsentiert bekommt, hinterfragen muss - vorausgesetzt, es gibt noch andere Perspektiven, die stimmig sind.  :hmmm:
Mach das, das hört sich spannend an! So etwas Ähnliches gibt es auch in "The girl on the train":
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.
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Evanesca Feuerblut

Ein interessantes Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler ist "Die Entdeckung des Salai" von Monaldi und Sorti - da wird der Protagonist mehrfach in einem Verhör befragt und erzählt jedes Mal die gleiche Geschichte. Aber jedes Mal mit mehr Details, weil ihm sonst bei den Ermittlungen zu sehr auf die Pelle gerückt wird. Das fand ich sehr interessant.

ZitatEs gibt aber auch noch die Variante, dass der Unzuverlässige Erzähler die Welt so beschreibt, wie er sie eben sieht. Mit seinem Wissen, durch seine Augen - und die sind halt nicht immer korrekt, eben unzuverlässig.
Das mache ich beispielsweise immer, wenn ich in der ersten oder dritten Person schreibe und personell agiere. Dann sind alle meine Erzählinstanzen grundsätzlich unzuverlässig. Ich habe aber gemerkt, dass damit teilweise schon das Lektorat im Verlag überfordert ist. Mir wurde angekreidet, dass Figuren da Sachen in erlebter Rede von sich geben, die gar nicht stimmen, weil Handlung soundso.
Aber wenn die das so wahrnehmen ... ist das für die halt so.

Das Eingangsbeispiel aus dem ersten Post fände ich aber auch eher schlecht umgesetzt. Da würde ich mich veräppelt fühlen.

Churke

Was ist ein unzuverlässiger Erzähler?
Ein Erzähler, dem der Leser aus irgendwelchen Gründen nicht vertrauen darf. Und wenn er ihm dennoch vertraut, wird er getäuscht und in die Irre geführt. Das Stilmittel ist umso wirkungsvoller, je mehr sich die Wahrheit des POV vom objektiven Geschehen unterscheidet.

Für mich ist der unzuverlässige Erzähler der Normalzustand. Der Erzähler beschreibt die Welt (und Geschichte) so, wie er sieht und erlebt. Der Erzähler kann sich massiv irren und er erzählt häufig Mist, aber ich lasse ihn niemals bewusst anlügen. Wenn der Erzähler lügt, dann gibt er eine Lüge weiter, die er selbst für die Wahrheit hält.

Aus meiner Sicht liegt die Schwierigkeit darin, den Leser zwischen den Zeilen (oder ggf. durch andere Perspektivträger) mit den nötigen Informationen für ein objektives Bild zu versorgen. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass ein relevanter Teil meiner Leser auch nur die Hälfte dessen mitbekommt, was ich in den Texten verstecke, aber das sehe ich sportlich.  :)

Angela

Ich habe gerade 'The Woman in the Window' gelesen. Die Erzählerin wirkt verlässlich, aber nach und nach merkt man, dass vielleicht etwas mit ihr nicht stimmt. Sie trinkt gerne einen, merkt aber nicht, wie viel zu viel sie eigentlich trinkt (scheint mir momentan 'in' zu sein in Thrillern). Okay, das mit dem Alkohol geht anderen von uns auch so. Dann kommt der Punkt, an dem die Geschichte plötzlich umklappt. Was kann man ihr/sie sich noch glauben, was nicht. Schon gut gemacht, spannend. Kam mir vor wie ein Hitchcockfilm.

Ilva

Was für ein spannendes Thema! Vielen Dank dafür!


Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:


Dann hätte ich eine zweite Frage in dieselbe Richtung: Wie viel Wiederholung darf es sein, wenn zwei Figuren eine Szene ganz unterschiedlich erleben? Das wäre ja eine Art unabsichtliche Unzuverlässigkeit. Erzählt man am besten die relevanten Szenen zweimal oder lässt man nur die jeweils spannendere zu Wort kommen? Aber wie wissen die Leser dann, dass die stumme Perspektive das gerade ganz anders wahrnimmt? Reagiert sie einfach "unangemessen"?

Als Extrembeispiel würde ich hier gerne den Film Wahnsinnig verliebt mit Audrey Tautou erwähnen (im Original A la folie ... pas du tout!). Ich versuche das mal ohne Spoiler zusammenzufassen: Der erzählt dieselbe Beziehung zweier Menschen zweimal. Einmal aus ihrer, einmal aus seiner Sicht. Und beide erleben dieses Zusammenkommen jeweils komplett anders. Der Film macht in der Hälfte einen Schnitt und erzählt dann alle Szenen noch einmal.
Im Film funktioniert das gut - aber kann man im Buch so viel Wiederholung bringen? Und wie streicht man die Unterschiede so stark heraus?


Als interessantes Beispiel fällt mir zum Thema noch der eine Prolog aus der Twilight-Reihe ein. Der geht in etwa so: "Ist es in Ordnung, an der Stelle einer Person zu sterben, die man liebt?" Und dann natürlich noch ganz viel Blabla.  ;D Aber der springende Punkt ist, dass die Person nicht namentlich erwähnt wird und man anhand der vorherigen Bände automatisch davon ausgeht, dass es sich bei der Person um ihren Love Interest handeln muss. Dieselbe Szene kommt dann später im Buch nochmals vor und man erfährt mehr. Das gibt eine gewisse dunkle Vorahnung, sobald man realisiert, dass es auf die Szene aus dem Prolog zu geht. Jetzt mal unabhängig von der Qualität der Bücher fand ich diesen Effekt noch spannend.

Arcor

@Ilva
Mir fällt dazu der Beginn von Red Seas under Red Skies von Scott Lynch ein, der mich sehr an Serienauftakte erinnert. Man bekommt eine packende Szene geliefert, bei der man als Leser am Ende groß die Augen aufreißt und sich fragt, was denn hier falsch läuft, dann springt man zurück (4 Stunden/2 Tage/6 Wochen zuvor) und erfährt, wie es zu der Szene kommt und der WTF-Moment wird aufgelöst. Ich bin mir nur bei der Szene gerade nicht sicher, ob man einen Perspektivwechsel vom Prolog zur späteren Szene hat oder nicht.

Szenen zweimal zu erzählen finde ich aber prinzipiell okay, vorausgesetzt sie sind nicht zu lang - 10 Seiten Dialog fände ich zum Beispiel schwierig, es sei denn wir haben bei der ersten Perspektive aus irgendeinem Grund das Finale nicht mitbekommen. Auch müssen sich die Perspektiven sehr stark unterscheiden und - für mich ganz wichtig - es muss ein Mehrwert für den Leser dabei herausspringen. Und das wäre für mich mehr als nur zu erfahren, wie sich die andere Figur dabei fühlt. Aus ihren Gedanken müsste sich etwas Neues für den Leser ergeben, sonst schätze ich, würde ich es als Füllsel betrachten.
Not every story is meant to be told.
Some are meant to be kept.


Faye - Finding Paradise

Alia

Scott Lynch macht das gut. Er springt ja immer zwischen der Vergangenheit und "jetzt" hin und her ohne dass die Spannung dadurch nachlässt. Im Gegenteil. Dadurch, dass es immer (mindestens) zwei Zeiten gibt, von denen erzählt wird, kommt erst richtig Spannung auf und etliche Informationen kann man erst richtig einordnen, wenn man andere Teile aus der Zukunft oder Vergangenheit gelesen hat.
Im ersten Band springt er immer zwischen Locke als Kind und Locke als Anführer der Gentleman Bastards hin und her.
Im zweiten Band liegen die Zeitebenen näher beieinander. Die eine ist kurz nach der schlimmen Verletzung und Flucht von Locke und Jean und die andere ein ganzes Ende später.
Beim dritten Band haben wir Locke und Sabetha in dem Wettkampf als Gegner und die Beziehung der beiden ganz zu Anfang.
Aber er kann das einfach.
Ich habe gerade Spiegelsplitter und Spiegelstaub von Ava Reed gelesen. Dort hat man die Perspektive von ihm und ihr abwechselnd. Die überschneiden sich aber so viel (teils werden ganze Dialoge und Handlungen mal aus ihrer mal aus seiner Sicht geschildert), dass es langweilig wird. Wenn beide getrennt agieren geht es. Aber sobald man jede Szene an der beide beteiligt sind doppelt bekommt, nervt es nur noch. Ich habe dann ganze Teile einfach nur noch überflogen, bis endlich wieder etwas kam, was neu war. Die Idee des Buchs, der sonstige Schreibstil, etc. sind eigentlich gut, aber diese Wiederholerei vermiest es einem. Ja, man lernt dadurch, dass er vielleicht etwas anderes gesagt hat, als er meinte oder sie vielleicht anders handelte, als sie fühlte. Aber das muss man anders auflösen.

Die Lügen eines unzuverlässigen Erzählers muss man anders ans Licht bringen, als durch schlichte Wiederholung aus einer anderen Perspektive. Zumindest, wenn sich die Handlung dermaßen viel überschneidet. Bei "Acht Blickwinkel" ist es z.B. vollkommen okay die ganze Geschichte mehrmals mitzubekommen. Aber da liegt der Fokus auch jedesmal anders und es wird dadurch nicht langweilig.

Gilwen

Bei Holly Black in den Curse Workers ist das mit dem unzuverlässigen Erzähler auch wunderbar gemacht. Man zweifelt schon an der geistigen Gesundheit des Ich-Erzählers, besonders in Band 1, und auf einmal bekommt man einen Hinweis, und alle Puzzlestücke vorher machen auf einmal Sinn!
Der Protagonist Cassel tut teilweise Dinge aus einem Gefühl heraus oder weiß etwas, das der Leser nicht weiß, aber es ist so geschickt gemacht, dass es einem erst gar nicht richtig auffällt.

Übrigens eine tolle Reihe, könnte ich eigentlich mal wieder lesen  :hmmm:
Sehr düster, spielt in einer Parallelwelt unserer heutigen Zeit, aber manche Menschen sind so genannte Fluchwerker und können durch Berührungen mit ihrer Hand andere Leute beeinflussen. Eine gut ausgearbeitete Welt, interessante Figuren, es geht um Familie, die Mafia und eine nicht zu aufdringliche Liebesgeschichte ist auch dabei.

Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:

Ich glaube, das kommt darauf an... Man kann eine Auflösung machen, vielleicht fällt der Figur etwas ein, was sie bis zu einem bestimmten Punkt vergessen hatte, oder die Hinweise, dass das, was die Figur schildert, nicht die Realität sein kann, häufen sich immer weiter an. Man könnte am Ende auch aus der Figur hinausspringen und aus einer Perspektive von außen zeigen, was eigentlich in Wirklichkeit los ist.
Das ist ja grade das Spannende daran, dass man so viele Möglichkeiten hat. Gerade das macht es ja auch für einen Leser unvorhersehbar.

Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Dann hätte ich eine zweite Frage in dieselbe Richtung: Wie viel Wiederholung darf es sein, wenn zwei Figuren eine Szene ganz unterschiedlich erleben? Das wäre ja eine Art unabsichtliche Unzuverlässigkeit. Erzählt man am besten die relevanten Szenen zweimal oder lässt man nur die jeweils spannendere zu Wort kommen? Aber wie wissen die Leser dann, dass die stumme Perspektive das gerade ganz anders wahrnimmt? Reagiert sie einfach "unangemessen"?

Also genau nochmal dieselbe Szene aus der anderen Perspektive würde ich vermeiden. Oder die andere Perspektive müsste wirklich komplett anders sein, sonst wird es vermutlich schnell langweilig.
Vielleicht kann man ja aus der anderen Perspektive in einer Rückblende zeigen, wie die andere Figur die Situation erlebt hat. Oder man trennt die beiden Perspektiven voneinander, indem man den einen zB im Prolog berichten lässt und der Leser daraus Schlüsse auf eine Situation zieht, die man dann aber später im Verlauf der Geschichte als falsch aufklärt, indem man die Szene nochmal aus der "richtigen" Perspektive zeigt.
,,Ist schon gut", sagte das Feuer. ,,Du musst das sicher erstmal alles sacken lassen."

Churke

#23
Zitat von: Ilva am 18. September 2018, 21:55:32
Ich würde dazu gerne genauer wissen, wie man das Ganze aufklärt. Verstrickt sich die Figur (oder die Erzählung) so sehr in Widersprüche, dass der Leser von selbst darauf kommt, dass etwas nicht stimmt? Reicht das, oder sollte man eine grosse Auflösung am Schluss bringen? Aber dafür müsste man ja eine zusätzliche, vertrauenswürdige Perspektive haben.  :hmmm:

Es ist wie im wahren Leben: Wenn dir jemand mit "do what I say not what I do" kommt, spricht einiges dafür, dass er dich du ver*rschen will.  ;) Achte also nicht auf die Lippen, sondern die Hände, und wirst die Wahrheit erkennen. Dafür brauchst du keinen Gewährsmann.

Davon abgesehen halte ich in den meisten Fällen eine "Aufklärung" für unnötig. Was spielt es für eine Rolle, ob eine Figur ein genialer Visionär oder ein geisteskranker Irrer ist? Soll doch der Leser entscheiden, nachdem du ihn mit Argumenten für beide Sichtweisen versorgt hast. Ich würde sogar sagen: Je schwerer dem Leser die Entscheidung fällt, desto besser hat der Autor gearbeitet.

Das Wiederholen von Szenen aus anderer Perspektive ist überflüssig. Es gibt genug andere und vor allem bessere Möglichkeiten, um die Sicht der anderen Seite zu zeigen. Reflexion, Reaktion, eine andere Szene... der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.