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Trauma schreiben

Begonnen von Mondfräulein, 03. Februar 2022, 18:38:27

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Alana

#15
@Mondfräulein Das ist leider auch genau mein Eindruck von New Adult, wie ich ja geschrieben habe. Es gibt sicher auch andere Beispiele, aber das Trauma als Plot Device ist leider sehr populär.

Was Fantasy angeht:

Hier hat ja eigentlich Tolkien schon einen guten Grundstein gelegt. Einer der Punkte, die ich an Herr der Ringe sehr liebe und auch in den Büchern großartig fand, ist die Charakterentwicklung von Frodo und den anderen Hobbits. Die zeigt sehr genau die Abstufungen, die ein so extremes Trauma wie Krieg und Entwurzelung und das Vollbringen von übermenschlichen Anstrengungen auf verschiedene Figuren haben kann. Ich liebe das sehr und liebe auch, dass sich im Film die Zeit genommen wurde, diese Entwicklungen wirklich bis zum Ende zu zeigen und abzuschließen. (Ich liebe das halbstündige Ende.  :vibes:)

Tribute von Panem
Ja, ich fand das Ende hier wirklich auch ganz großartig umgesetzt und habe immer sehr geliebt, wie real das alles war. So ist Widerstand und Menschen, die diesen Kampf durchgemacht haben, können eben das Happy End unter Umständen nicht wirklich genießen. Leider ist das aber auch ein Fall, an dem man sehr deutlich sieht, dass viele Leute sowas nicht lesen wollen, denn die Autorin musste für dieses Ende ja extrem viel Kritik einstecken.
Alhambrana

Wintersturm

Am Ende würde ich da so ansetzen: Figuren sind (meistens) Menschen und damit eben vielschichtig wie Menschen.
Davon ausgehend kann ein Trauma nicht das alleinige charakterisierende Element einer Figur sein, wenn auch je nach Trauma durchaus das vorherrschende. Das ist dann auch schon der entscheidende Punkt. Wie wichtig ist das Trauma in der Geschichte? Geht es in der Geschichte um das Trauma oder ist das mehr Nebensache? Ich fange mal am Ende an. Nebensache. Ich schätze, jeder hat schon mehr oder weniger irgendein Trauma abbekommen. Nur ist das meistens kein komplett vorherrschendes Element, sondern ein in gewisser Weise charakterisierendes Element, welches die zu Figur zu der macht, die sie oder er ist. Da sind eben Dinge geschehen, die die Figur dazu gemacht haben und die den Charakter erklären und begründen in dem, was er tut.
Soll das Trauma jetzt aber entscheidend werden, dann kann man durchaus eher draufschauen. Da braucht es natürlich genauere Erklärungen und mehr Fokus darauf. Oder aber genauso wenig. Kommt drauf an, wie man es machen will. Will man wirklich der Entwicklung des Charakters direkt im Zusammenhang mit dem Trauma folgen, dann muss man das eben genauer betrachten. Oder aber man schaut es von der Seite an und lässt es eben in den alltäglichen Handlungen auftreten. Man kann aus einer Woche im Leben eines Charakters sicher eine Million Wörter rausziehen, wenn man einfach nur aufschreibt, was passiert. Entscheidend ist dabei, welche Szenen in dieser Woche man nimmt. Normalerweise immer die für die Charakterentwicklung wichtigen Szenen und der Rest fällt schon ganz von alleine unters Messer. Nur was davon kommt in meine Geschichte? Szenen, die das Trauma direkt zeigen, z.B. wenn der Charakter in seinen Depressionen versunken alleine im Bett liegt und in Embryonalstellung über sein eigenes Unglück klagt? Oder aber doch Szenen, die den Alltag zeigen und wie das Trauma diese beeinflusst? Oder eben welche, bei denen vom Trauma genau nichts zu sehen ist und man das dann in anderen Szenen umso stärker sieht? Ich bin ja ein Freund von starken Kontrasten...
Wie auch immer man es macht, es sind unterschiedliche Darstellungen der Sache und entsprechend unterschiedlich ist die Wirkung davon.
Traumabewältigung... Schwierig. Wirklich schwierig. Damit das funktioniert, muss man eben genau bedenken, wo der Stachel sitzt und was dieses Trauma heilen kann. Zugegeben, die Fantasy bietet da fiese Tricks. Einfach den Geist der Betroffenen mainpulieren, die Probleme "geraderücken" und schon passt das. Zugegeben, ich habe es vielleicht etwas zu oft so gemacht, aber das hatte Gründe und war aus dem Weltenbau heraus wichtig. Will man ein Trauma jetzt zwischenmenschlich behandeln und "heilen", wird es schwerer und da muss man schon genau wissen, welches Problem irgendwo liegt und wie man das heilen kann. Wie meine Vorredner schon angesprochen haben, Liebe kann nicht alles heilen. Sicher, es gibt durchaus Probleme, wo Liebe (richtig umgesetzt) ein wirksames Heilmittel sind, nur sind das meistens die Probleme, die mit dem Fehlen von genau dieser Sache zu tun haben und die nicht woanders begraben liegen. Da wird es dann schwer bis unmöglich, das Trauma so zu behandeln und es erfordert andere Ansätze. Wobei auch da Liebe bzw. der Kampf dafür durchaus ein wirksamer Katalysator sein können, um sich den Problemen zu stellen, auch wenn da oft genug Verdrängung drin ist. Und aus Verdrängen kann Vergessen werden... Auch eine Art der Bewältigung.

Ohne jetzt weiter in die Details abzuschweifen, wichtig ist eben, wofür das Trauma überhaupt da ist, welches es ist und wie es halbwegs funktional beseitigt oder zumindest unbedeutend werden kann. Oder eben seine volle Bedeutung erst entfaltet, wenn das das Thema der Geschichte ist.

Rhagrim

#17
Ich zitiere mal aus dem Buch "Trauma und die Folgen:
"Traumatisierungen wie frühe Vernachlässigung, Verwahrlosung, körperliche, seelische und/oder sexuelle Gewalt erklären mehr als 80 Prozent aller Persönlichkeitsstörungsdiagnosen"


Ich denke, das ist ein Punkt, der beim Thema "Trauma" gerne übersehen wird. Wenn wir an Trauma denken, denken wir oft an die "klassischen" Traumata wie z.B. Vergewaltigungen, Entführungen, Kriegstraumata, (Natur)katastrophen, etc. und die "klassische" PTBS, die darauf folgt.

Dabei geschieht die mit Abstand häufigste Traumatisierung oft in den eigenen vier Wänden und durch ein oder mehrere Mitglieder der eigenen Familie. Dazu zählt Vernachlässigung ebenso wie emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlung.
Sehr oft können sich die Betroffenen gar nicht mehr daran erinnern, da die Misshandlung im Kleinkindalter stattgefunden hat, oder das Geschehen verdrängt wurde, das in manchen Fällen zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung führen kann. Selbst wenn das Gehirn so früh nicht in der Lage ist, solche Erlebnisse richtig abzuspeichern, werden sehr wohl die extremen, negativen Emotionen abgespeichert und es hat sich herausgestellt, dass so frühe traumatische Erlebnisse auch Veränderungen in der Hirnstruktur bewirken können.

Ein paar Beispiele

  • Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Diese Persönlichkeitsstörung entsteht nicht zwangweise durch schweres Trauma, wohl aber durch Vernachlässigung und emotionale Kälte und Leistungsdruck durch die Eltern. Deswegen  - und weil Narzissten oft generell pauschal als "böse" dargestellt werden, wie mir scheint, dachte ich, es wäre interessant, das mit reinzunehmen. Ein Kind lernt, sich (und andere) auf gesunde Weise selbst zu lieben, wenn es von den Eltern vermittelt bekommt, dass es um seiner selbst willen geliebt wird. Ist das nicht der Fall, weil es z.B. unerwünscht ist und seine Bedürfnisse nach Liebe, Aufmerksamkeit, Bestätigung nicht erfüllt werden, oder es lernt, dass es sich "Liebe" nur durch Leistung erkaufen kann, kann es passieren, dass es sich in sich selbst zurückzieht und lernt (bzw lernen muss) sich all das selbst zu geben. Ihr Selbstbild wird zu einem überhöhten Idealbild, mit dem sie sich identifizieren. Sie kapseln sich selbst und ihre Emotionen ein und geben sich nach außen hin grandios und unverwundbar, während sie oft extrem empfindlich auf Kritik reagieren. Alles, was dieses Selbstbild unterstützt wird idealisiert, während alles, was es bedroht entwertet und schlecht gemacht wird. Dabei herrscht eine innerliche emotionale Distanz, oft Leere und Wut, oder Neid auf Menschen, denen es besser geht und die glücklicher sind. Da so etwas das eigene Bild der Perfektion aber stören würde, werden diese Anteile oft stattdessen auf andere projiziert und an sich selbst nicht wahrgenommen.
  • Borderline Persönlichkeitsstörung: Hier dürfte der erbliche Faktor bzw. Veranlagung eine gewisse Rolle spielen, trotzdem berichten über 60% der Betroffenen davon, in der Kindheit Missbrauch erlebt zu haben. Nach dem Prinzip der Spaltung lernen Kinder früh, negative Erfahrungen psychisch abzuspalten, um sich vor z.B. gewalttätigen Eltern zu schützen, wenn diese es schlagen (in diesen Momenten sehen sie nur das Schlechte und können nicht auf die positiven Erfahrungen zurückgreifen) und andererseits aber auch deren Liebe annehmen zu können (in diesen Momenten sind die negativen Erfahrungen völlig aus dem Bewusstsein verdrängt). Gleichzeitig werden in diesen positiven Momenten auch alle negativen Aspekte der Person verleugnet (und umgekehrt). Das ist die Basis für das spätere "klassische" Schwarz/Weiß Denken, da sich dieses Idealisieren/Entwerten in Beziehungen bis ins Erwachsenenalter zieht, was die Beziehungen sehr instabil macht. Gleichzeitig führen solche Erfahrungen natürlich zu enormer innerer Anspannung und diese sind Menschen ihren eigenen intensiven Gefühlen und Gefühlsschwankungen extrem ausgeliefert -> Um diesen Druck abzubauen, kann es dann z.B. zum "klassischen" selbstverletzenden Verhalten kommen ebenso, wie zu Suchterkrankungen, oder generell riskantem Verhalten.
  • Dissoziative Identitätsstörung: Wird ja leider oft mit Schizophrenie verwechselt. Bei der Dissoziativen Identitätsstörung entwickelt der Betroffene aufgrund von extremen, anhaltenden Stress (der sehr früh, meist sogar vor dem 5. Lebensjahr beginnt) mehrere Persönlichkeiten bzw. haben die verschiedenen Anteile des "Ichs" gar nicht erst die Möglichkeit zu einem einzigen zusammenzuwachsen. Die Dissoziation ist ja allgemein eine "gängige" Schutzreaktion des Geistes auf Trauma, in diesem Fall ist sie nur so extrem ausgeprägt, dass es eben zu der Teilung in verschiedene Persönlichkeitsanteile kommt - von denen meist die an die Oberfläche kommt (bzw. getriggert wird), die den jeweiligen Herausforderungen am besten gewachsen ist. Dabei fehlt den jeweiligen Anteilen oft "Zeit", d.h. sie erinnern sich gar nicht oder nur vage an die Zeit, die sie nicht aktiv als handelnde Person verbracht haben. Einige kommunizieren mit ihren inneren Anteilen (die oft völlig unterschiedliches, geistiges Alter und Reife haben) und können sie bewusst hoch holen. Ich hab mal einen Bericht über eine Betroffene gesehen, von der eine Innenperson sogar schweres Asthma hatte, da wird deutlich, finde ich, wie sehr sich die Psyche auf den Körper auswirken kann.

Selbst wenn es nicht in eine Persönlichkeitsstörung ausarten muss, beeinflusst die Beziehung zu unseren Eltern die Art und Weise, wie wir uns entwickeln, darunter auch den Bindungsstil, den wir entwickeln -  und ob wir in späteren Jahren in der Lage sind, eine sichere, stabile Beziehung zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten, oder ob wir - obwohl wir im Alltag vielleicht als "stark" und "selbstbewusst" gelten - in Beziehungen immer wieder in Muster zurückfallen, die sonst vielleicht "gar nicht zu uns passen". Ich lasse den sicheren Beziehungstyp mal aus und gehe kurz auf die anderen ein:

  • Ängstlich: Gezeichnet von der Angst, verlassen zu werden. Sie sehnen sich nach Nähe und Bestätigung (wollen diese aus dieser Angst heraus vielleicht kontrollieren, fragen immer wieder nach, reagieren teilweise sehr emotional und sensibel auf jede Ahnung von Abweisung, die sie zwischen den Zeilen lesen) , fixieren sich oft völlig auf die Beziehung und versuchen diese, um jeden Preis zu erhalten. Oft idealisieren sie ihren Partner, während sie sich selbst entwerten und fragen, ob er ihre Liebe überhaupt erwidern kann.
  • Vermeidend: Sehr unabhängige Menschen, die ihre Freiheit schätzen und sich unwohl fühlen, wenn ihnen Beziehungen zu eng werden und sie das Gefühl entwickeln, dass man sich an sie klammert, einschränken will, oder durch zuviel Nähe regelrecht erstickt. Darunter verborgen liegt oft die Angst vor Intimität, davor "Abhängigkeit" zu entwickeln und seine Unabhängigkeit einzubüßen. Das kann daher kommen, wenn dieser Mensch als Kind seinen Eltern "zu viel" war und dadurch gelernt hat, dass er sie nicht mit sich, seinem Wesen und seinen Bedürfnissen belasten kann.
  • Ängstlich/vermeidend: Vereinen die schwierigsten Eigenheiten aus beiden Welten. Einerseits sehnen sie sich nach Liebe und Nähe, während sie andererseits Angst davor haben, misstrauisch sind und jeden zurückweisen, der ihnen zu nahe kommt. Gleichzeitig haben sie oft ein schwaches Selbstwertgefühl und zweifeln grundsätzlich daran, liebenswert zu sein. Durch ihr Misstrauen anderen gegenüber bleiben sie oft für sich, was wiederum das Gefühl von Einsamkeit verstärkt.

Wenn ein Kind also nicht in einer wirklich sicheren, liebevollen Umgebung aufwächst, stehen die Chancen "gut", von vornherein belastet aufzuwachsen und das eine oder andere "Defizit" zu entwickeln.
Meine Vermutung ist, dass wir uns u.a. deswegen so mit traumatisierten bzw. vorbelasteten Charakteren identifizieren und darüber lesen wollen, wie sie es schaffen, heil zu werden. Eben weil es alltäglicher ist, als uns vielleicht lieb ist und viele von uns solche Verletzungen mit sich herumtragen, selbst wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind.
Wenn nicht aus der Kindheit, dann vielleicht aus der Schule - um mal in Richtung "Mobbing" zu verweisen. Je nach Vorerfahrung und Intensität kann das durchaus auch eine traumatische Erfahrung sein, aus der sich unter Umständen eine PTBS entwickeln kann.

Wobei man bei dieser eben auch unterscheiden muss, zwischen

  • "Klassischer" PTBS: Ausgelöst durch klar abgegrenzte, traumatische Erfahrungen wie Entführung, Vergewaltigung, Folter, Kriegserlebnisse, uvm., die zu den "klassischen" Symptomen wie z.B. Flashbacks und Alpträumen führt. Ebenso oft zum sozialen Rückzug, dem Gefühl, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein, eine innere, emotionale Taubheit, eine permanente, überreizte Wachsamkeit und Erregung, weil Körper und Geist im Alarmzustand festhängen. Vielleicht entwickeln sich daraus weitere Probleme wie Depression oder Angststörungen. Gerüche, Geräusche, ein  Gefühl oder ein Wort, oder Mensch können einen triggern und mit einem Mal wieder in das Erlebnis zurückversetzen. Solche traumatischen Erinnerungen verlieren ja auch nicht an Intensität. Vielleicht wird das Erlebte auch völlig verdrängt und erst viel später durch so einen Trigger oder auflebende, körperliche Symptome an die Oberfläche geholt.
  • Komplexer PTBS: Im Unterschied zur normalen PTBS zeichnet sich die komplexe dadurch aus, dass sie nicht durch ein einmaliges, bzw. kurzfristiges traumatisches Ereignis ausgelöst wird, sondern durch langanhaltende, sich wiederholende traumatische Erlebnisse (z.B. langjähriger Kindesmissbrauch, anhaltende Gefangenschaft, Sklaverei, Folter, aber auch intensives, anhaltendes Mobbing. Hier kann es auch zu den oben genannten Symptomen der PTBS kommen, bei der komplexen PTBS geht es allerdings noch zusätzlich tiefer, da hier der "Auslöser" oft nicht an einem einzelnen Erlebnis festgemacht werden kann, sondern es sich über lange Zeit hinweg in den Charakter des Betroffenen einprägt. Die Selbstwahrnehmung verändert sich, es kommt z.B. zu geringem Selbstwert, intensive Scham-, Schuld-, Wertlosigkeits- und Versagensgefühlen. Zu anhaltenden Bindungsstörungen, da der Betroffene anderen Menschen gegenüber vermutlich feindselig oder misstrauisch reagiert, sich von ihnen entfremdet fühlt und dadurch in eine Negativspirale gelangt, da er sich immer mehr isoliert.
    Ein andauerndes Gefühl der Leere, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit kann sich einstellen, ebenso wie psychosomatische, chronische Schmerzen. Vielleicht neigt er dazu, schnell zu dissoziieren, wirkt vergesslich oder abwesend. Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle zu steuern, können sich einstellen, bishin zu selbstzerstörerischem, riskanten Verhalten, wie man es auch aus der Borderline Persönlichkeitsstörung kennt.


Ist ein extrem komplexes Thema, bei dem ich nur empfehlen kann, gut zu recherchieren und sich auch abseits der gängigen Vorstellung, die man von "Trauma" hat, zu informieren und sich vor allem darauf einzulassen.
Ich bin selbst definitiv kein Spezialist auf dem Gebiet, ich hab hier nur mal einen Teil davon zusammengetragen, was ich im Zuge meiner eigenen Recherchen herausgefunden hab und hab versucht, das mal so kompakt wie möglich zusammenzufassen, um einen kleinen Überblick zu geben.
Vielleicht hilft es ja.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Malou

#18
Sehr spannende Diskussion, bei der ich einfach mal mitlese  :jau: Vor allem für neue(re) Autor*innen wie mich selbst ist das ein superwichtiges Thema. Man hört ja von überall, man soll die Einsätze und die (Ausgangs-)Situation der Hauptfigur möglichst anspruchsvoll gestalten, damit sich die Geschichte spannend entfalten kann. Ist schon klar, dass das nicht automatisch bedeutet, dass die Hauptfigur ein Trauma erlitten haben muss - aber man kommt doch schneller dahin, als man denkt. Und glaubt meistens auch noch naiv, man hätte die Geschichte damit (automatisch) besonders lesenswert und tiefgründig gemacht. Genauso fühlt es sich oft "realer" an und man glaubt, alles richtig gemacht zu haben, weil man eben nicht zu verschönern versucht und die Hauptfigur kein "perfekter" Charakter ist, sondern es als unperfekter Charakter schafft, sich (ggf. wieder) aufzuraffen.

Ich will jetzt gar nicht zur Diskussion stellen, wie "richtig" oder "falsch" diese Annahmen sind. Ich wollte lediglich artikulieren, wie man als neue(re) Autor*in denken und empfinden könnte. Meiner Meinung nach ist es aus oben genannten Gründen nur menschlich, dass problematische Darstellungen entstehen können. Die Intention dahinter ist oft keine schlechte, es ist ein langjähriger Lernprozess. Daher ist es so wichtig, dass solche Diskussionen angestoßen werden, damit man das Ganze vielschichtiger und reflektierter angehen kann. Manchmal würde ich mir solche Hinweise zumindest ansatzweise in all den Videos, Texten und Büchern, die einem Ratschläge übers Schreiben geben, wünschen. Sie verleiten einen zu sehr dazu, der Hauptfigur unreflektiert ein Päckchen nach dem anderen und ein Hindernis nach dem nächsten aufzuladen, damit sie es auch möglichst schwer hat.

Generell stimme ich vollkommen zu, dass Menschen natürlich viel mehr sind als ihr Trauma, sie unterschiedlich damit umgehen, und dass es nicht in Ordnung ist, dass Liebe als das Wundermittel schlechthin dargestellt wird. Das gilt aber nicht nur für Traumata, sondern beginnt schon damit, dass viele Figuren nur glücklich sein können, nachdem sie ihre Liebe gefunden haben (Stichwort: Zwei Hälften eines Ganzen). Aber anderes Thema.

So, jetzt hab ich doch mehr dazu gesagt als ich geplant hatte  :buch:

@Rhagrim Die Erklärung speichere ich mir mal ab, danke!  ;)

Werde den Thread weiter verfolgen  :jau:
»Anders als die Kultur, die die Unterschiede zwischen uns betont, die Menschen und Gruppen voneinander trennt, verbindet die Natur uns miteinander. In ihr sind alle Menschen gleich.« (Der Gesang des Eises, Bakic)

Mondfräulein

Allgemein kann ich zum Thema psychische Störungen schreiben die LitCamp Session von Murphy Malone "Über Mental Health Repräsentation" empfehlen: https://www.youtube.com/watch?v=gTAcxBQLUxk Sie kennt sich wirklich aus, ist als Sensitivity Readerin tätig und spricht in der Session auch über Trauma. Das Thema kommt auch in der Session von Anja Stephan zur Sprache (eher gegen Ende): https://www.youtube.com/watch?v=VHMiNvbrg_U

Es wird generell schon davon ausgegangen, dass es einen Zusammenhang zwischen frühen Traumatisierungen und Persönlichkeitsstörungen gibt. Es ist aber gleichzeitig sehr schwierig zu sagen, dass sie das wirklich erklären, denn zum einen haben psychische Störungen nie nur eine Ursache, zum anderen ist es sehr schwierig, die Störungen wissenschaftlich auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Denn auch bei einer PTBS, die sogar per Definition eine klare Ursache oder einen klaren Auslöser hat (ein traumatisches Ereignis), gibt es noch persönliche und genetische Faktoren, die definitiv eine Rolle spielen. Aber hinterher lässt sich sehr schwer genau herausfinden, was jetzt zu einer psychischen Störung geführt hat.

Kleiner Exkurs, weil ich in der Folge davon sprechen werde: Die ICD-11 ist die 11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Darin werden die Kriterien festgelegt, die zur offiziellen Diagnose einer Krankheit verwendet werden, psychische Störungen haben hier ein eigenes Unterkapitel. Die ICD-11 ist relativ neu (ich glaube, sie ist erst dieses Jahr offiziell in Kraft getreten), wir sind also noch in einer Umstellungsphase zwischen ICD-10 und ICD-11. Die ICD wird von der WHO herausgegeben und ist das, was wir hier in Deutschland benutzen. In den USA wird das DSM verwendet (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), mittlerweile in der fünften Version.

Persönlichkeitsstörungen sind kompliziert zu diagnostizieren. Hier hat sich in den letzten Jahren auch viel getan. Die Forschung ist sich ziemlich einig darin, dass Persönlichkeit ein Spektrum ist und nichts, was in Kategorien passt. Eine Schwierigkeit bei der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen ist, dass nicht nur das Vorhandensein der Kriterien alleine ausschlaggebend für eine Diagnose ist, sondern auch die Ausprägung. In der ICD-10 findet sich für Borderline (emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Subtyp) "übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden". Die allermeisten Menschen bemühen sich, das Verlassenwerden zu vermeiden. Ab wann sind diese Bemühungen übertrieben? Um Persönlichkeitsstörungen wirklich zu verstehen, reicht es also auf keinen Fall, nur die Diagnosekriterien zu kennen, denn selbst Therapeut*innen tun sich hier mit der Diagnose häufig schwer.

Ebenso ist Persönlichkeit, wie schon gesagt, ein Spektrum. Persönlichkeitsstörungen deshalb in Kategorien einzuteilen wurde häufig zu Recht kritisiert und hat in der Praxis zu Schwierigkeiten geführt. In der ICD-11 wurde das deshalb geändert. Dem solltet ihr euch unbedingt bewusst sein, wenn ihr euch entscheidet, Figuren mit Persönlichkeitsstörungen zu schreiben. DSM-V und ICD-10 geben den Anschein, dass sich das fein-säuberlich in Kategorien einteilen lässt, dem ist aber nicht so.

Die dissoziative Identitätsstörung ist keine Persönlichkeitsstörung, sondern eine dissoziative Störung. Ich habe das Gefühl, dass sich Autor*innen gerne auf diese Störung stürzen, weil sie so spannend ist. Besonders in Thrillern und Krimis ist das ein sehr beliebter Twist. Dementsprechend ist das eine der Störungen, die mit am meisten missverstanden wird und die mit unglaublich vielen Stigmata behaftet ist. Gerade deshalb würde ich ziemlich pauschal davon abraten, diese Störung in Romanen überhaupt zu benutzen. Da haben so viele Autor*innen in ihren Romanen, Filmen oder Serien vor uns so unglaublich viel Schaden angerichtet, dass wir vielleicht lieber mal die Finger davon lassen sollten. Wenn ihr wirklich in der Lage seid, es richtig zu machen, dann wisst ihr was ich meine und wie man es vielleicht richtig angehen kann, aber ansonsten... bitte nicht. Ansonsten kann ich aber diese beiden Reportagen empfehlen, falls euch das Thema interessiert, denn hier haben Betroffene die Chance, ihre Erfahrungen zu teilen:
https://www.youtube.com/watch?v=3HrUtDDNKDQ
https://www.youtube.com/watch?v=Xu5I_lSn-tM
Ansonsten gibt es im englischsprachigen Bereich einige YouTube-Kanäle von Personen mit dissoziativer Identitätsstörung.

Generell muss man sich bei all diesem Modellen immer bewusst sein: Sie sind dafür gemacht, um Komplexität zu reduzieren, um nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, um Kategorien zu bilden. Die Wirklichkeit ist immer viel diverser und komplexer. Alle Störungsbilder in der ICD-11 sind in Wirklichkeit sehr komplex und divers. Personen mit derselben Diagnose, zum Beispiel Depressionen, können diese vollkommen unterschiedlich erleben. Auf der einen Seite hilft Fachliteratur uns als Autor*innen, diese Erlebnisse besser zu verstehen, auf der anderen Seite tappen wir dadurch oft in die Falle, davon auszugehen, dass es die Depression oder die PTBS gibt, obwohl das in Wirklichkeit nicht so ist. Solche Texte sammeln Symptome, die man bei einer Vielzahl von Menschen häufig beobachtet hat, die bei solchen Störungen häufig vorkommen können. Von einer Vielzahl an Menschen wurde auf ein Störungsbild geschlossen, aber wir dürfen nicht den Fehler machen, zu versuchen, alleine nur davon auf eine einzelne Person zu schließen. In der Praxis dienen diese Kriterien und Modelle auch eher dazu, eine Person besser zu verstehen, die ich schon vor mir sitzen habe, nicht um eine Romanfigur zu erfinden, die dieses Störungsbild hat.

Fachtexte sind zur Recherche wichtig, aber ich muss eben auch verstehen, wofür sie eigentlich gemacht sind, um zu verstehen, wann ich sie für meinen Roman benutzen kann - und wann nicht. Was ich zusätzlich empfehlen kann: Erfahrungsberichte von Betroffenen und davon viele. Es gibt sie überall, Blogs, YouTube-Videos, Bücher. Ebenso empfehle ich immer gerne Literatur, die für Betroffene geschrieben wurde. Die gehen oft anders an das Thema heran und helfen beim Verständnis eines Störungsbildes ungemein.

Vielleicht schreibe ich später nochmal mehr dazu, aber ich habe gerade leider nicht so viel Zeit und sitze schon zu lange an diesem Beitrag.

Rhagrim

#20
@Mondfräulein
Zitat von: Mondfräulein am 05. Februar 2022, 12:24:07
Fachtexte sind zur Recherche wichtig, aber ich muss eben auch verstehen, wofür sie eigentlich gemacht sind, um zu verstehen, wann ich sie für meinen Roman benutzen kann - und wann nicht. Was ich zusätzlich empfehlen kann: Erfahrungsberichte von Betroffenen und davon viele. Es gibt sie überall, Blogs, YouTube-Videos, Bücher. Ebenso empfehle ich immer gerne Literatur, die für Betroffene geschrieben wurde. Die gehen oft anders an das Thema heran und helfen beim Verständnis eines Störungsbildes ungemein.
Das möchte ich auch gern dick unterstreichen.

Und jeder Mensch ist einzigartig und reagiert auf (traumatische) Erlebnisse anders. Ich wollte mit meinem vorherigen Beitrag auch eigentlich nur aufzeigen, dass das ganze Thema rund ums Trauma einfach viel komplexer und vielschichtiger ist, als man vielleicht zuerst vermutet. Und dass es abgesehen von dem, woran man vermutlich automatisch sofort denkt, wenn man den Begriff "Trauma" hört, einfach noch so viel mehr gibt als das, was wir überwiegend in (Unterhaltungs)medien präsentiert bekommen.
"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

Sanjani

Hallo zusammen,

hier ist ja schon sehr viel gesagt worden und auch viel Richtiges.
Ich finde, man sollte sich immer die Frage stellen, ob ich das Trauma für meine Geschichte wirklich brauche und wenn ja, wofür quasi?

Da ich aktuell dabei bin, mein Zertifikat für spezielle Psychotraumatherapie zu machen, kann ich euch sagen, dass die sog. Typ I Traumata, also einmalige Traumata bei Menschen, die zuvor ein gutes, störungsfreies Leben hatten, wirklich eher selten sind. Und das liegt daran, dass die meisten mit solchen Erlebnissen eben keine PTBS entwickeln. Sehr viel häufiger sind die komplexen Traumafolgestörungen, die hier ja bereits ausführlich beschrieben wurden. Und da kann ich aus meiner Arbeit auch nur sagen, dass sich zwar manches ähnelt, vieles aber eben auch sehr sehr unterschiedlich ist. Gerade im Bereich der Bindungs- oder Beziehungstraumata gibt es nicht immer die klassischen Flashbacks mit inneren Bildern oder Gerüchen, sondern das sind dann z. B. eher sich wiederholende Muster von Zurückweisung in Kombination mit Gegenangriff oder auch ganz anders, je nach Menschentyp.

Ich überlege mir eher, welche Art von Protagonist möchte ich bauen? Wenn es jemand sein soll, der eher selbstunsicher ist, dann überlege ich, welche Elemente als Background Story geeignet wären. Beispielsweise kommt Mobbing bei Menschen mit selbstunsicherem Persönlichkeitsstil relativ häufig vor, aber auch nicht immer. Dennoch sind die Modelle, finde ich, schon ein hilfreiches Werkzeug, um Charaktere zu bauen.

Ich glaube, bei Antagonisten ist halt immer die Schwierigkeit, dass man Ihnen ein Motiv und eine Geschichte geben muss, wenn man will, dass verstehbar wird, warum sie tun, was sie tun. Und da muss man sich etwas einfallen lassen, denn normalerweise kommt man nicht als Arsch zur Welt. Es ist aber durchaus möglich, dass jemand, der narzisstisch ist, sich nicht für jemanden hält, der auch traumatisiert wurde. Aber was schon klar werden kann, ist, warum er welche Regeln gelernt hat. Es gibt zum Beispiel Patienten, die sagen, "Meine Mutter hat immer gesagt, du darfst niemandem trauen." Wer mit so einem Lebensmotto groß wird, hat es schwerer, Vertrauen zu fassen, aber es wird als einziger Faktor vielleicht nicht ausreichen, um die Erwachsenenpersönlichkeit zu erklären.
Oder meine eigene Mutter hat immer gesagt, als blinde müsse ich mehr leisten um zu zeigen, dass ich genauso gut bin wie die Sehenden. Das ist nicht mal böse gemeint gewesen, trotzdem habe ich sehr lange einen immensen Leistungsanspruch an mich gehabt und habe den teilweise immer noch.

Und manchmal gibt es wirklich auch Geschichten, wo ich dasitze und nicht wirklich erklären kann, warum jemand eine bestimmte Störung entwickelt hat. ;) Aber solche Geschichten taugen wohl eher nicht für eine Hintergrundgeschichte eines Hauptcharakters.

Ich glaube, man kommt aber um Traumata auch deshalb oft nicht herum, weil man ja in seinen Büchern Sachen schreibt, die traumatisch sein können. Das heißt, selbst wenn eine Person ohne Trauma in die Geschichte geht, dann könnte es sein, dass sie etwas traumatisches erlebt. Beim Antagonisten wird ja i. d. R. nicht Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Und das dann zu beschreiben, ist ja auch nötig. Wobei ich auch darauf hinweisen möchte, dass es durchaus Leute gibt, die das erst mal komplett verdrängen. Es ist also aus meiner Sicht durchaus möglich, dass die Leute die Schlacht und die Toten vermeintlich gut wewgstecken, damit sie weitermachen können, insbesondere dann, wenn das alles noch nicht vorbei ist. Wenn es dann aber vorbei ist, dann müssen die Emotionen und Bilder und alles kommen, was man ausgeblendet hat. Und dann beginnt der hier schon so schön beschriebene nichtlineare Heilungsprozess. Bei den Leuten, die keine PTBS entwickeln, ist er nach ca. 8 Wochen abgeschlossen. Bei den anderen verbleibt es bei der Symptomatik. Oder es kommt zuerst zur Verdrängung und dann zu einem verzögerten Beginn. Man sagt nicht umsonst, dass die PTBS eine Genesungsstörung ist.

An eine dissoziative Identitätsstörung würde ich mich übrigens nicht dranmachen. Ich habe gerade eine Patientin in Behandlung und ich würde mir absolut nicht zutrauen, das zu beschreiben, was sie tagtäglich erlebt. Heißt aber nicht, dass es da nicht auch gute Ausarbeitungen geben kann.

Was @Andersleser beschreibt, kenne ich als blinde auch nur zur Genüge. Wie Behinderung in den Medien, im Film und Buch dargestellt wird, ist oft einfach nur zum Gruseln. Bestes Negativbeispiel aus der Welt der blinden ist der Film "Erbsen auf halb sechs", für alle, die mal bissl Spaß haben wollen, aber bitte nix von dem glauben, was da gezeigt wird :)

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)

AlpakaAlex

Ich muss offen und ehrlich sagen: Trauma spielt in meinen Geschichten immer eine wichtige Rolle. Liegt wohl auch mit daran, dass es wieder ein Thema ist, das in meinem Leben so präsent ist, dass es mir schwer fällt mir vorzustellen, wie es ist ein Leben ohne Trauma zu führen. Wie ist es, wenn es nichts gibt, das einen triggert? Ich weiß es doch nicht.

Dazu kommt natürlich auch, dass ich selbst als eine Person mit mehrfachen Marginalisierungen in erster Linie von anderen Personen mit Marginalisierungen umgeben bin - die natürlich auch multiple Traumata haben. Sprich: Ich kenne glaube ich nicht einmal jemanden gut genug, den ich fragen könnte, wie es ist, kein Trauma zu haben. (Und zugegebenermaßen fällt es mir teilweise auch schwer, mir vorzustellen, dass es überhaupt Leute ohne Trauma gibt - weil die aktuelle Gesellschaftsstruktur einfach sehr traumainduzierend ist.) Ich meine, ich kenne beispielsweise keine einzige weibliche Person, die nicht in irgendeiner Form ein sexuelles Trauma hat - und auch kaum eine nicht-binäre oder trans Person ohne ein solches Trauma. Auch wurden die meisten Leute in meinem Freundeskreis entweder gemobbt oder zuhause misshandelt.

Dahingehend ist es dann einfach ein Fall von: "Ich schreibe über meine Lebensrealität", wenn die Charaktere eben eigene Traumata haben. Denn es ist wirklich die Realität, wie ich sie wahrnehme.

Das heftigste in Bezug auf Traumata bei mir ist natürlich Mosaik, da die Geschichte eben im kriminellen Untergrund spielt und dadurch es halt fast gegeben ist, dass alle Figuren irgendeine Form von Trauma erlebt haben - und sei es nur, weil sie eben so viel Gewalt ausgesetzt waren. Die Protagonistin ist Kriegsveteranin, wurde von ihren Eltern vernachlässigt, hat mehrere Vergewaltigungen erlebt und ist natürlich effektiv seit sie 21 war beständig Gewalt ausgesetzt gewesen. Duh. Ihre Traumata haben Traumata. Und auch ansonsten. Wir haben in der Geschichte mehrere (ehemalige) Straßenkinder und außerdem noch jemanden, der drei Jahre im Menschenhandel war. Also ja ... Die einzigen kaum traumatisierten Figuren sind Doc Heidenstein und Siobhan. Heidenstein, weil er tatsächlich ein recht behütetes Leben gehabt hat, ehe er durch Umstände in die Kriminalität abgerutscht ist - Siobhan, weil sie eine wohl etwas verschobene Realitätswahrnehmung hat.

Ich habe nur auch bei der Recherche arg festgestellt, dass bestimmte Traumata in den Medien kaum richtig behandelt werden. Allen voran halt eben das Trauma von Kriegsveteranen. Ich habe im Rahmen der Recherche mit mehreren Leuten, die im Irak waren, gesprochen und habe immer wieder dasselbe gehört: Das macht normal keiner. Weil niemand will den schwer traumatisierten Veteran sehen. Alle wollen halt den heldenhaften Veteran - weswegen sowohl Romane, als auch Hollywood es meistens so darstellen.  :-[

Was ich allerdings wirklich schlimm finde, sind Geschichten, in denen Figuren komplett auf ihr Trauma reduziert werden. Was leider oft genug vorkommt. Und natürlich dann meistens in Fällen, wo die etwaigen Autor*innen das genaue Trauma so nicht erlebt haben und eben auch nur sehr oberflächlich recherchiert haben. Richtig, richtig schlimm ist es dann, wenn das Trauma erst total beherrschend ist und dann einfach nur "Liebe" das Trauma heilt. Ich meine, ja, eine gesunde Beziehung kann helfen, Traumata zu überwinden und soweit zu heilen, dass sie nicht mehr so im Vordergrund stehen ... Aber das braucht dann Zeit. Das geht nicht von jetzt auf gleich, weil man halt eine Beziehung hat. Ugh.


Zitat von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27
Mich stört auf der einen Seite, was oft auch als ,,Trauma Porn" bezeichnet wird: Geschichten, in denen Trauma exzessiv ausgewalzt wird. Meistens geht es um das Trauma marginalisierter Gruppen, meistens werden diese Geschichten aber nicht für Angehörige dieser Gruppen geschrieben, sondern als Unterhaltung für nicht-Angehörige. Auf der einen Seite wird hier Trauma benutzt, häufig von Autor*innen, die gar nicht davon betroffen sind, ohne auf die Bedürfnisse derjenigen zu achten, die davon wirklich betroffen sind. Viele Geschichten über queere Menschen erzählen zum Beispiel exzessiv vom Leiden queerer Menschen und schreiben sowohl an den Bedürfnissen als auch an der Lebensrealität echter queerer Menschen vorbei. Da fällt mir spontan Not Your Type von Alicia Zett ein: Der Protagonist des Buches ist trans und der gesamte Konflikt des Romans dreht sich darum, dass er trans ist und sich in eine cis Frau verliebt. Seine Persönlichkeit dreht sich darum, dass er trans ist und deshalb depressiv. Als ich Rezensionen von trans Personen zum Buch gelesen habe, stach für mich heraus: ,,Für wen auch immer dieses Buch ist, es ist nicht für uns".
Ja, das ist ja genau das, was ich angesprochen habe. Also dass eben einfach komplett an der Lebensrealität von betroffenen Menschen vorbeigeschrieben wird - und diese halt komplett auf das Trauma reduziert werden. Als ob es mit Trauma nicht mehr möglich wäre, in irgendeiner Form mehr Glück zu erleben (es sei denn natürlich, man ist in einer Beziehung - so die Logik dieser Bücher). Und es wird eben auch einfach nicht mit betroffenen Personen gesprochen. Stattdessen wird sich maximal auf eine halbstündige Onlinerecherche beschränkt.

Wie gesagt: Es ist ja tatsächlich so, dass wir häufig Kriegsveteranen auch komplett als Gruppe übergehen, die eigentlich ebenfalls marginalisiert ist (ich mein, es ist kein Zufall, dass in den USA ein nicht unerheblicher Anteil der Obdachlosenpopulation aus Veteranen besteht) und als solche Aber komplett übergangen wird.

Zitat von: Mondfräulein am 03. Februar 2022, 18:38:27
Dann steckt da häufig noch eine Menge Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen mit drin. Besonders Frauen passiert es oft, dass sie an ihrem Trauma, das in aller Breite ausgewalzt wird, völlig zerbrechen und wahnsinnig werden, was in den Augen vieler Autor*innen Grundlage für eine tolle Antagonistin ist, die man mehr bemitleidet als sie zu hassen. Das ist genauso problematisch wie Männer, die nur aufgrund ihres Wahnsinns, oft ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis, Gräueltaten begehen.
Oh ja. Preach. Das stört mich auch immer wieder. Also wenn Trauma als Begründung für böses Verhalten hergenommen wird - oder alternativ wenn psychische Krankheiten das begründen. Das ist so sanistisch.
 

Rhagrim

Ich grabe diesen Post hier mal ,,kurz" (*hust* oder eher lang. Der Post wird lang.) wieder aus, da ich neulich daran denken musste, als mir eine Freundin nach einem längeren Gespräch über wie man sich so verändert im Leben gesagt hat ,,du warst früher dein Trauma."

Hab mich später daran erinnert, dass ich in diesem Thread hier ja mal ausgiebig genau darüber geschrieben habe, und darüber wie wichtig es ist, wenn man Trauma schreiben möchte, den Charakter als dreidimensionalen Menschen zu sehen und ihn nicht nur auf sein Trauma zu reduzieren, und den Charakter selbst damit total flach und ersetzbar zu machen.
Ich stehe nach wie vor hinter allem, was ich hier so von mir gegeben habe, dachte mir aber, dass eine Ergänzung dazu vielleicht interessant sein könnte – eine Ergänzung, die sich sowohl mit Trauma selbst, als auch mit einem (meiner Meinung nach) genauso wichtigen Thema befasst: Der Heilung, und was ihr so im Wege steht.
Umso mehr, wenn man gerade das eben in der Geschichte, und v.a. vielleicht sogar aus dem Blickwinkel des Charakters erzählen möchte.

Hab mich zwangsläufig privat, als auch aus Interesse, weil es ein Schwerpunkt in meinem Projekt ist, viel damit auseinandergesetzt. Bin aber kein Profi. Dieser Post ist wie alle bisher also als ein Mix aus Recherche, Erfahrung und persönlichem rumphilosophieren zu verstehen, und dient hoffentlich als nützliche Inspiration und Perspektive. :P

Rest im Spoiler, da ich niemanden, der ahnungslos hier reinguckt, ungebeten mit einer Textwand erschlagen will *g*
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.



"No tree can grow to Heaven unless it's roots reach down to Hell."
- C.G. Jung

meeresschreiberin

Das Thema finde ich total spannend und sehr vielseitig. Ich habe den verlinkten Artikel gelesen, und sogar auch einen Antwort-Artikel in der Zeit gefunden: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-01/ein-wenig-leben-hanya-yanagihara-hauptfigur-trauma

Hier nimmt der Verfasser unmittelbar Bezug zu dem im New Yorker erschienenen Artikel, beleuchtet aber auch den Aspekt der Rezipient*innen, die in diesem Diskurs ebenfalls gehört werden sollten. Also sehr verkürzt gesprochen sagt der Artikel in der Zeit, dass der New Yorker Artikel zwar einen Punkt hat, dass man aber ebenso auch schauen sollte, wie Lesende zu der Diskussion stehen und wenn besagtes Buch bei ihnen sehr gut ankommt, man das ebenfalls ernst nehmen und in der Betrachtung nicht außen vor lassen sollte, dass diese Art von Erzählen eben auch sehr viele Fans gefunden und damit scheinbar auch einen Nerv getroffen hat.

Ich kann beide Positionen nachvollziehen. Irgendwie hat der Artikel in dem New Yorker Recht, dass Trauma, wenn es zu sehr auserzählt wird und nichts mehr der Vorstellung der Lesenden überlassen wird, im Buch seine Wirkmacht verliert und die Tragweite vom Trauma deshalb nicht wirklich beim Lesenden ankommt, was sehr schade ist. Anders formuliert, mag ich generell Geschichten lieber, wo Sachen angedeutet werden und nicht alles bis ins Detail seziert wird. Ich denke aber, dass das dann eher eine Frage des Erzählens ist und vielleicht auch eine Frage des persönlichen Empfindens. Wo ich mir vielleicht wünsche, dass ein Autor noch mehr in die Tiefe gegangen wäre, ist das einem anderen Lesenden vielleicht schon zu viel und umgekehrt. Allerdings finde ich, dass sich die Art und Weise wie wir Geschichten erzählt, nun einmal mit der Zeit auch ändert und es völlig okay ist, dass jetzt gerade andere Sachen ausprobiert werden und dadurch Neues entsteht, was manchmal funktioniert und manchmal nicht. Mich stört an dem New Yorker ein wenig dieses Festhalten an "früher war alles besser in der Literatur", was ein bisschen durch die Zeilen klingt. Und da finde ich den Zeit-Artikel einfach sehr gut, dass er beleuchtet, dass Bücher auch für Lesende gemacht sind und wenn ein Buch bei ihnen sehr gut ankommt, das eben auch ein valider Punkt ist.

Und zuletzt sehe ich das Argument, dass überspitzt ausgedrückt früher nicht überall Trauma war, ein wenig anders. Ich denke, dass wir viele Dinge jetzt besser benennen können, weil es inzwischen viel mehr Forschung zu Trauma gibt und es generell mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt ist.  Es stimmt, dass zum Beispiel bei der Netflix-Serie zu "Anne with an E" viele traumatische Erfahrungen noch angereichert wurden und eine größere Rolle spielen, als sie das im Buch getan haben. Aber auch im Buch waren ebendiese Aspekte bereits angelegt und vorhanden, auch wenn sie hier vielleicht nicht in der Breite auserzählt wurden. Allerdings werden sie dort immer wieder angedeutet, und in der Serie ist es visuell ja viel schwieriger, diese Andeutungen wiederzugeben, und dass sie deshalb einen Weg gefunden haben, das zu zeigen und beim Schauen verständlich zu machen, finde ich legitim. Hierbei könnte die Ursache für das Trauma-Erzählen einfach auch zum Teil dem gewählten Medium geschuldet sein.

Was mich beim Lesen über Trauma stört, ist beispielsweise auch, wenn einem Charakter ein Trauma zugestoßen ist und dieser dann seitenlang darüber lamentiert. Natürlich verstehe ich, dass es auch Teil der Verarbeitung ist, darüber zu trauern und auch darüber zu reden, aber nicht übertrieben gesprochen über hunderte von Seiten, in denen dann nichts geht, außer dass der Charakter sich intensiv mit seinem Trauma beschäftigt. Das finde ich dann handwerklich vom Schreiben her nicht so gut gemacht, da würde ich mir eher wünschen, das Trauma zwar immer wieder durchklingen zu lassen, und auch wie der Charakter damit umgeht, aber meine Kritik bezieht sich eher darauf, wenn ein Charakter in einer Fantasy-Geschichte nach einem Trauma überspitzt ausgedrückt die nächsten drei Bände lang jedes Kapitel nur darüber nachdenkt, wie schrecklich dieses gewesen ist. In dem Beispiel wäre es besser, wenn der Charakter immer mal wieder Momente hat (zum Beispiel weil er gewisse Orte nicht mehr aufsuchen kann oder Albträume bekommt), aber abgesehen davon auch noch andere Dinge passieren, die die Handlung voranbringen. Oder, wenn wirklich nichts mehr geht, dass es dann eben durch diese Situationen gezeigt wird, und nicht, der Charakter sitzt in seiner Kammer und die Lesenden sind dann wortwörtlich Zeug*innen des innerlich stattfindenden Monologs, der sich immer wieder im Kreis dreht und das dann aber immer wieder und wieder erzählt wird.

Sehr gut gefallen mir Erzählungen, in denen die Komplexität von Trauma einbezogen wird, also dass der Heilungsprozess nicht immer linear verläuft, es Rückfälle geben kann, wo es plötzlich wieder schlechter geht, und dass es eine vollständige Heilung vielleicht in der Form niemals so geben wird, dass das Trauma dann komplett weg ist, sondern eher, dass der Charakter einen guten Umgang damit gefunden hat und es diesen nicht mehr so belastet.

Ich selbst bemühe mich beim Schreiben eigentlich vor allem darum, die Gefühle meiner Protagonist*innen einzufangen, ohne so sehr in der Kategorie zu denken, "oh, ich schreibe jetzt hier gerade über Trauma". Natürlich habe ich das im Hinterkopf, aber beim Schreiben konzentriere ich mich auf sie als Menschen, wo das Trauma dann nur ein Aspekt ist, aber nicht der einzige und alleinige, der sie ausmacht. 
For whatever we lose(like a you or a me)
it's always ourselves we find in the sea

(E. E. Cummings)

Lino

Oh vielen Dank für den verlinkten Artikel.

Ich musste mal wieder an einen meiner Freunde denken, der immer sagt, ohne Freuds Entdeckung der Psychoanalyse wären Autoren wie Tolstoj oder Dostojewski gar nicht möglich gewesen.

Das ist natürlich ein Scherz. Es ist ja genau anders herum, Schriftstellerinnen gehörten schon immer zu den feinen Beobachtanden. Insofern ist das Thema Traum vielleicht auch in Romanen erst aufgetaucht und dann in der Psychopathologie. Generell reden halt auch die Kids viel von Traumata heute, da passt es einfach in unsere Zeit.

Aber ich bin eher auf Parul Sehgal Seite. Es ist cool einen Roman darum aufzubauen, es ist uncool alle Romane darum aufzubauen.

Valentina

Wow, das ist wirklich ein super interessanter Thread! Ich versuche das mal möglichst einfach aus der Sicht von einer neueren Autorin zu beantworten.

Man hat zwei Möglichkeiten:
- Entweder man wurde selbst traumatisiert, hat es (zumindest fast) verarbeitet und hat somit einen Blick von außen und von innen.

 Man weiß, wie es ist, man kennt die verschiedenen Schichten und Erfahrungen, die mit Trauma einhergehen. Jeder war mal ohne Trauma und manchen widerfährt es in unterschiedlichen Ausmaßen und je nachdem, wie man darauf reagiert, ändert sich die Persönlichkeit danach oder damit.
Man wird vor die Entscheidung gestellt, damit umzugehen und sich selbst in einem komplexen, schmerzhaften und langwierigen Prozess zu heilen oder man kann seinen Symptomen hinterherlaufen, sich in einer Traumaspirale wiederfinden und nur aus der Angst heraus agieren, das Trauma wieder und wieder durchleben.
Genau so kann man dann als Autor in die verschiedenen Schichten der Charaktere hineingehen. An welchem Punkt der Verarbeitung ist die Figur? Verarbeitet oder verdrängt sie? Und wie sieht das genau aus? Ist ihr Umfeld der Ursprung des Übels? Flieht sie und baut sich ein neues Umfeld auf, das das Trauma wieder einlädt oder schottet sie sich davon ab und heilt?
Wenn man etwas selbst durchlebt hat, kennt man die Muster, man weiß, welche Diagnosen es für das spezielle Thema gibt, ob sie aus Traumata oder doch teils genetischer Disposition entstehen (Allerdings, wie dieser Thread beweist, ist es ein sehr weites Feld, das scheinbar nie aufhört, weil Menschen eben komplex sind).
 Und man hat ein Gefühl für diese Themen in Form dafür, wie man es in eine Geschichte übersetzt. Trotzdem wollen manche, die so traumatisiert sind, vielleicht sogar explizit nicht über diese Dinge schreiben. Eben weil sie schmerzhaft sind, von vielen unverstanden und "begafft" werden als etwas, das "nicht normal, aber spannend" ist, wenn sie in einem Unterhaltungsmedium vorkommen. 

- oder man ist nicht in der Art traumatisiert, wie man es in die Geschichte schreiben möchte (und das sind wahrscheinlich die meisten, weil Fantasy mitunter sehr brutal sein kann) und muss vor allem lernen. Seien das Sensitivity Reader, Interviews mit Personen, Psychotherapeuten o.a. - im Internet gibt es so viele Informationen  wie noch nie zuvor und das ist eine sehr große Hilfe.
Der Effekt auf den Charakter ist immer das Wichtigste. Wie fühlt er sich, an welchem Punkt der Verarbeitung ist er, wie trifft er andere Entscheidungen basierend auf dem Erlebnis (ob gut oder schlecht) und wie ändert das den Plot und seinen Charakter?

Allerdings schließe ich mir hier anderen Stimmen an, dass das Trauma (vor allem bei Fantasy) nicht im Mittelpunkt stehen sollte. Jeder Mensch erlebt es anders und auch wenn man Sensitivity reader hat, heißt es nicht, dass andere Betroffene es nicht anders sehen oder fühlen würden. Außerdem wird von vielen Lesern Herzen Brechen oder Lügen als schlimmer bewertet als Töten, weil es Teil des Genres ist.
 
Insofern finde ich persönlich Trauma in Geschichten nur sinnvoll, wenn es von dem Charakter verarbeitet wird, er sich dadurch ändert und es in das größere Thema der Geschichte eingewoben ist.
Aber ich bin auch ein großer Fan von "Scheiße erleben, daraus lernen, stärker werden, es verarbeiten, aus der Scheiße rauskommen, gute Entscheidungen treffen, Happy End", weil es die Botschaft verstärkt, dass man vieles selbst in der Hand hat, wenn man nur will. Auch wenn viele scheinbar unüberwindbare Hindernisse im Weg bis zum Happy End auftauchen und es vielleicht nicht pompös ist, sondern eben nur ein stilles Händchenhalten.   



Franziska

Sehr interessantes Thema. Ich finde es bei Fantasy auch immer wieder seltsam, wenn eine Figur nur schlimme Dinge erlebt, die man traumatisch nennen würde, es sich aber gar nicht auf sie auswirkt. Zwischen die Figur entwickelt PTBS und das Erlebte hat gar keine Auswirkung auf sie ist ja auch noch ein weites Feld.
Bei mir hab ich z.B. das Problem, dass sich die Figur durch Magie nicht an das traumatische Erlebnis erinnert. Außerdem ist es mit ihrer Magie verknüpft. Da kann ich nur spekulieren oder Psychologen fragen, ob ich das "realistisch" darstelle. Eure Beiträge waren auf jeden Fall sehr hilfreich.

Fluide

Oh, der Thread ist total an mir vorbeigegangen bisher. Interessant, dass sich der Artikel auf das Buch von Yanagihara bezog. Ich habe das auch angefangen und nicht zu Ende gelesen, weil es mich irgendwie geärgert hat. Sie schreibt toll (finde ich), ich fand ihr Schreiben wirklich großartig, aber ich bin mehr und mehr zu dem Schluss gekommen, dass das Buch irgendwie inhaltsleer ist und dass es nur Oberfläche beschreibt und das hat mich dann mehr und mehr geärgert.

Tatsächlich ist das was, was mich momentan häufiger ärgert, da werden Traumata genommen, um Figuren Tiefe zu verleihen, ihr Verhalten zu erklären, Mitgefühl auszulösen. Für mich ist Literatur immer auch eine Übung in Empathie, aber ganz oft werden Traumata einfach nur "benutzt" und das nervt mich gewaltig. Denn was so oberflächliches Traumaherangeziehe auslöst ist eben kein Mitgefühl, sondern Mitleid. Wir wälzen uns mal recht schön in diesem Schmerz. Ojeojeoje, aber den Menschen wirklich verstehen, tun wir nicht.

Was ich in Romanen lesen will, sind Menschen, deren Handlungen Sinn ergeben, weil die Autor:innen sie gut vorstellen und einführen und darstellen. Dann kann ich sagen: Ah ja, das ist so und so ein Mensch, das und das fällt dem schwer oder leicht und ich habe Mitgefühl, wenn der blöde Entscheidungen trifft, die blöde Konsequenzen haben, einfach weil der:die Autor:in das für mich nachvollziehbar geschildert hat und ich in der Person und ihrem Sosein eben das allgemeine (und damit auch mein eigenes) Menschsein wiedererkenne. Dafür brauche ich keinen Rückgriff auf irgendeine traumatische Vergangenheit. Für mich ist das - sorry, das klingt jetzt vermutlich hart - lazy writing. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, die Person nachvollziehbar zu schildern. Nein, ich zaubere einfach ein Trauma aus dem Hut. Zack, das erklärt ja wohl alles, oder? In der Realität weiß ich auch nichts über die Vergangenheit der meisten Menschen. Kann ich erst Mitgefühl für jemanden aufbringen, wenn ich von seiner traumatischen Vergangenheit weiß? Und haben Leute, die keine Traumata erlebt haben, kein Mitgefühl verdient?

Sorry für den rant, Leute. Ich meine natürlich nicht, dass es keine Geschichte über traumatisierte Menschen geben soll. Das schon, natürlich, aber niemand soll Traumata und/oder traumatisierte Leute _benutzen_, um einer Geschichte mehr Tiefe zu geben oder irgendetwas zu erklären. Mich macht das sauer. Das ist nämlich keine echte Tiefe, das ist nämlich nur eine Illusion von Tiefe.

*rant off


Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
Walt Whitman

Sanjani

@Fluite:
ZitatWas ich in Romanen lesen will, sind Menschen, deren Handlungen Sinn ergeben, weil die Autor:innen sie gut vorstellen und einführen und darstellen. Dann kann ich sagen: Ah ja, das ist so und so ein Mensch, das und das fällt dem schwer oder leicht und ich habe Mitgefühl, wenn der blöde Entscheidungen trifft, die blöde Konsequenzen haben, einfach weil der:die Autor:in das für mich nachvollziehbar geschildert hat und ich in der Person und ihrem Sosein eben das allgemeine (und damit auch mein eigenes) Menschsein wiedererkenne. Dafür brauche ich keinen Rückgriff auf irgendeine traumatische Vergangenheit. Für mich ist das - sorry, das klingt jetzt vermutlich hart - lazy writing. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, die Person nachvollziehbar zu schildern. Nein, ich zaubere einfach ein Trauma aus dem Hut. Zack, das erklärt ja wohl alles, oder? In der Realität weiß ich auch nichts über die Vergangenheit der meisten Menschen. Kann ich erst Mitgefühl für jemanden aufbringen, wenn ich von seiner traumatischen Vergangenheit weiß? Und haben Leute, die keine Traumata erlebt haben, kein Mitgefühl verdient?
Sorry für den rant, Leute. Ich meine natürlich nicht, dass es keine Geschichte über traumatisierte Menschen geben soll. Das schon, natürlich, aber niemand soll Traumata und/oder traumatisierte Leute _benutzen_, um einer Geschichte mehr Tiefe zu geben oder irgendetwas zu erklären. Mich macht das sauer. Das ist nämlich keine echte Tiefe, das ist nämlich nur eine Illusion von Tiefe.
*rant off

Grundsätzlich volle Zustimmung.
Aber: Es kommt immer auch ein bisschen darauf an, was für eine Person man entwerfen möchte. Wenn ich beispielsweise jemand haben will, der oft überschießend emotional ist, dann würde ich als Psychologin es eher unglaubwürdig finden, wenn die Person eine Lebensgeschichte hat, wo alles geradlinig verlaufen ist und sie bis zum Abenteuer, über das ich schreibe, noch nie eine Krise gehabt hat. Denn Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation können auch genetisch sein, lösen aber oft auch Interaktionsprobleme zwischen dem Kind und der Familie aus. Deshalb müssen nicht die schweren Traumata am Werk sein, da gebe ich dir voll Recht, aber irgendwas war am Werk.

LG Sanjani
Die einzige blinde Kuh im Tintenzirkel :)