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Unterschiede deutscher zu angelsächsischer Fantasy

Begonnen von Kaipi, 16. Januar 2014, 19:23:15

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Kaipi

Bei den bekanntesten Fantasy-Werken aus dem englischen Sprachraum ist mir immer wieder (teils auch unangenehm) das Thema »Selbstopferung« aufgefallen. Die Helden müssen sich in angelsächsischen Werken offenbar pausenlos opfern, um an ihr Ziel zu gelangen, was mich sehr an Kriegsgeschichten erinnert.
Von Harry Potter (der in Band 7 ja sterben muss, um von Voldemort erlöst zu werden), Frodo (mit seiner Himmelfahrtsmission) bis hin zu Narnia wird ständig das Prinzip »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst« gepredigt. Auch in »His Dark Materials« muss Lyra am Ende ein großes Opfer bringen, um das Universum zu retten.
Ist das in deutscher Fantasy oder den klassischen Märchen anders?
In der Nibelungensage muss Siegfried sich meiner Meinung nach nicht »opfern«. Ich denke, hier überwiegen Themen wie Heldentum, Ehre, Kampf und Rache - aber nicht die Selbstaufgabe für »höhere Ziele«.
Und die Grimmschen Märchen? Es wird zwar brutal gemordet und gemetzelt, aber muss der Held in den Geschichten sich unbedingt opfern? Bei Hänsel und Gretel siegt letztlich die Verschlagenheit von Gretel, die die böse Hexe durch gespielte Dummheit austrickst.

Kennt ihr Beispiele für deutsche Fantasy, die sich an die angelsächsische »Opferpflicht« halten? Oder kennt ihr Beispiele für englische Fantasy, die mit dieser Regel brechen?

Und eine grundsätzliche Frage: Ist diese Regel zur Selbstopferung für ein höheres Ziel eventuell notwendig, um eine glaubwürdige Handlung hinzubekommen? Letztlich geht es ja bei vielen Fantasy-Geschichten um den ultimativen Kampf Gut gegen Böse. Was ist, wenn der Held bei der finalen Konfrontation plötzlich kneift? Dann gewinnt ja das Böse und die Heldenreise geht weiter, bis der Held sich seinen Ängsten stellt. Kommt man um das Opfer eventuell gar nicht herum?

Churke

Zitat von: Kaipi am 16. Januar 2014, 19:23:15
Oder kennt ihr Beispiele für englische Fantasy, die mit dieser Regel brechen?
Bei "Alan Burt Akers" war das nie so.
http://de.wikipedia.org/wiki/Kenneth_Bulmer

Bei Lois McMaster Bujold kann ich mich auch nicht erinnern.
http://de.wikipedia.org/wiki/Lois_McMaster_Bujold

Gibt noch jede Menge, ich bin jetzt zu faul, im Bücherregal zu stöbern.

ZitatUnd eine grundsätzliche Frage: Ist diese Regel zur Selbstopferung für ein höheres Ziel eventuell notwendig, um eine glaubwürdige Handlung hinzubekommen?
Was ist daran glaubwürdig? Ich halte das für amerikanischen Schmalz, nichts weiter.

Kaipi

Zitat von: Churke am 16. Januar 2014, 19:37:58
Was ist daran glaubwürdig? Ich halte das für amerikanischen Schmalz, nichts weiter.
Da stimme ich huntertprozentig zu  :)
Aber zumindest englische und amerikanische Leser / Zuschauer müssen ja darauf abfahren. Wieso nur?

Steffi

Bitte bedenke aber, dass sowohl die Nibelungen als auch die Grimmschen Märchen  weit vor der Zeit verfasst wurden, als die angelsächsischen Titel, die du anbringst und aus einem völlig anderen historischen Kontext stammen. Du vergleichst da meiner Meinung nach, schlicht gesagt, Äpfel und Birnen.


Sic parvis magna

Kaipi

Zitat von: Steffi am 16. Januar 2014, 19:45:07
Bitte bedenke aber, dass sowohl die Nibelungen als auch die Grimmschen Märchen  weit vor der Zeit verfasst wurden, als die angelsächsischen Titel, die du anbringst und aus einem völlig anderen historischen Kontext stammen. Du vergleichst da meiner Meinung nach, schlicht gesagt, Äpfel und Birnen.
Vielleicht kennst Du ja aktuellere Beispiele?

Churke

Zitat von: Kaipi am 16. Januar 2014, 19:44:15
Aber zumindest englische und amerikanische Leser / Zuschauer müssen ja darauf abfahren. Wieso nur?

Vielleicht, weil sie noch nie einen Krieg verloren haben, in dem mit solchem Geschwätz die Jugend verheizt wurde.

Steffi

Ich finde zum Beispiel nicht, dass Percy Jackson am Ende ein besonders großes Opfer bringen musste (auch wenn ihm das in der neuen Reihe droht)  - und Harry Potter wurde ja lediglich damit gedroht, am Ende hat er ja überlebt ;) Auch Neil Gaiman schreibt recht wenig über große Heldenreisen und Patrick Rothfuss hat zwar den großen Held, aber weder eine Prophezeiung noch sonstwas.

Den "Herr der Ringe" würde ich zum Beispiel auch nur begrenzt als Beispiel heranziehen. Was Tolkien da versucht hat war, England eine eigene Mythologie ähnlich der Ilias oder die Edda zu verschaffen, und vieles in den Büchern ist direkt der angelsächsischen (sprich: ca. bis zum 10. Jahrhundert) Tradition geschuldet. Wer z.B. Beowulf mal gelesen hat, den Tolkien ja auch übersetzt hat, findet eindeutige Parallelen zum Hobbit und Herr der Ringe. Auch die ganzen Lieder und Gedichte sind aus der angelsächsischen Kultur übernommen, denn damals galt es als hohes Ziel sich in den Schlachten so sehr zu beweisen, dass man in Liedern quasi weiterlebte und unsterblich wurde. Die Angelsachsen glaubten nicht an ein Leben nach dem Tod. Und der Held, der sich alleine auf eine Reise begibt, ist ja kein völlig neues Motiv (z.B. eben wie in der erwähnten griechischen Mythologie).

Die Narnia-Reihe hingegen ist bewusst als christliches Werk angelegt und enthält entsprechend viele Motive daraus.

His Dark Materials erfordert zwar von Lyra am Ende ein großes Opfer, aber die Trilogie zeichnet sich ja schon weitaus vorher durch die teilweisen doch schockierenden Wendungen aus, wenn z.B. nicht wie in jedem guten Hollywoodfilm das Kind am Ende heil aus der Sache rauskommt, sondern sogar sein Leben verliert. Von daher war ein Happy-End ja auch nicht zu erwarten und gerade das fand ich so grandios an den Büchern.

Ich finde es schwer, da eine pauschale Aussage zu treffen, halte es aber durchaus für legitim, den Held am Ende ein großes Opfer bringen zu lassen, damit das Ende nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen inklusive Regenbogen und Konfetti ist, sondern auch einen bitteren Nachgeschmack behält. Daran finde ich nichts verwerflich und auch als Handlungselement gibt das eventuell bevorstehende schlimme Schicksal des Protagonisten doch einiges her, damit er als Figur an sich wachsen kann.
Sic parvis magna

Judith

Zitat von: Kaipi am 16. Januar 2014, 19:23:15
In der Nibelungensage muss Siegfried sich meiner Meinung nach nicht »opfern«. Ich denke, hier überwiegen Themen wie Heldentum, Ehre, Kampf und Rache - aber nicht die Selbstaufgabe für »höhere Ziele«.
Äh .... wofür muss Siegfried sich nicht opfern? Für seinen Tod?
Wie Steffi denke ich, dass du da Äpfel mit Birnen vergleichst. Du stellst Fantasyhelden, die ein Opfer bringen müssen, damit am Ende das Gute triumphiert und das Böse besiegt werden kann, einem Helden gegenüber, der schon bei der Hälfte stirbt. Noch dazu gibt es noch nicht einmal ein Gut/Böse-Schema im Nibelungenlied und am Ende ... naja, sind alle tot.  ;)

Maja

Zitat von: Churke am 16. Januar 2014, 20:19:49
Vielleicht, weil sie noch nie einen Krieg verloren haben, in dem mit solchem Geschwätz die Jugend verheizt wurde.
Sie haben Kriege gewonnen, in dem mit solchem Geschwätz ihre Jugend verheizt wurde. Macht es das besser? Natürlich hast du in Großbritannien eine große Heldenverehrung, wenn es um die Veteraten des Ersten Weltkriegs geht, und doch ist sich die Mehrheit der Bevölkerung darüber im Klaren, dass dort eine ganze Generation letztlich für nichts ausgelöscht wurde. Dass der Krieg gewonnen wurde, macht es vielleicht im Vergleich zu Deutschland marginal besser, aber die Millionen von Toten (einschließlich Hunderttausender junger Briten) werden eindeutig als zu viele angesehen, und egal wie heldenmütig sie sich für ihr Vaterland geopfert haben (etwas, das auch in Deutschland immer wieder eine Plattform bekommt), ist der Krieg ein Gräuel und der Erste Weltkrieg nichts, das man mit Triumph assoziiert, sondern mit der großen Narbe, die in das Volk geschlagen wurde.

Und natürlich kann ich meinen Vorrednern nur zustimmen, dass man jeweils nur Werke aus einer Epoche miteinander vergleichen kann. Nibellungenlied, Grimms Märchen, Beowulf, Harry Potter, Die Orks - das sind lauter verschiedene Dinge, die man nicht über einen Kamm scheren kann. Grundsätzlich denke ich, der Unterschied zwischen Angelsächsischer und deutscher Fantasyliteratur ist der, dass der englischesprachige Markt so viel größer ist, dass auch ein speziellerer Titel noch genug Exemplare verkaufen kann, um seine Erzeuger zu ernähren, und darum auch von Verlagsseite mehr riskerit wird. Davon merkt man aber wiederum wenig, wenn man sich nur diejenigen Titel ansieht, die dann auch in Deutschland Erfolg haben - weil den Sprung eben nur diejenigen Titel schaffen, bei denen dieses Risiko minimiert und den deutschen Lesegewohnheiten angepasst werden kann. Mit einer Häufung von Selbstopferungen hat das hingegen nichts zu tun.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Debbie

#9
Generell ist das "Selbstopfer" beziehungsweise das Risiko um Leib und Leben ja ein Teil der klassischen Heldenreise - und die meisten Fantasy Werke halten sich mehr oder weniger an diesen Ablauf (nicht nur Fantasy und oft auch noch nicht einmal bewusst). Und natürlich mag der Leser so etwas, denn das gibt ihm das Gefühl, dass es um etwas geht, dass es einen Grund gibt, um mitzufiebern. Natürlich immer vorausgesetzt, dem Autor ist es vorher gelungen, dem Leser einen Zugang zum Protagonisten zu ermöglichen ...

ZitatUnd eine grundsätzliche Frage: Ist diese Regel zur Selbstopferung für ein höheres Ziel eventuell notwendig, um eine glaubwürdige Handlung hinzubekommen?

Für Glaubwürdigkeit ist das sicher keine Voraussetzung und hat damit m. E. auch nichts zu tun. Es befriedigt ein Bedürfnis. Das Bedürfnis nach Tiefgründigkeit, das Bedürfnis auf Antworten nach den essentiellen Fragen des Lebens: Was ist der Sinn des Lebens? Wofür lohnt es sich zu kämpfen? (Stichwort: Katharsis)
Und es ist keine neuezeitige Erfindung, sondern ein Teil der Menschheitsgeschichte. Den Kriegern wurden Heldengeschichten erzählt, damit sie einen Sinn sahen, in dem was sie taten. Den Anderen wurden sie erzählt um einen gewissen Ehrenkodex zu vermitteln und aufrechtzuerhalten, der durch moralische Wertvorstellungen das Miteinander ermöglichte und vereinfachte - die ersten Gesetze sozusagen.

All diese Geschichten haben einen philosophischen Hintergrund, der uns jedoch nicht mit einem Holzhammer eingetrichtert wird, sondern eben durch Spannung vermittelt wird. Und je höher das Risiko, desto höher die Spannung.

Warum dieses Thema gerade in amerikanischen Büchern und Blockbustern immer wieder zu finden ist, liegt sicherlich auch begründet in dem andersartigen Selbstverständnis der amerikanischen Bevölkerung. Heldenverehrung hat dort keinen negativen Beigeschmack. Für Patriotismus muss man sich nicht schämen. Selbstaufopferung mit Todesfolge ist nicht verpönt oder wird als einfältig und dumm angesehen. Auf Ehre legt man dort noch wert, Feigheit ist eine der größten Sünden. Natürlich gibt es auch dort bereits einige Intellektuelle, die etwas weniger leidenschaftliche Ansichten vertreten - aber der Großteil der Durchschnittsbevölkerung denkt so.

Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum unsere oftmals vernunftsorientierten, intellektuell angehauchten Bücher auf diesem Markt keine wirkliche Chance haben. Die Deutschen sind nun einmal ein vernunftsorientiertes, vorsichtiges Volk mit einem intellektuellen Büchermarkt, der mehr Wert legt auf blumige Sprache und reale Darstellung als auf Spannung - und Amerikaner empfinden uns oftmals als gefühlskalt, bzw. leidenschaftslos. Die Ansprüche amerikanischer Leser sind einfach anders - bzw. die Ansprüche der Masse sind einfach anders. Selbst bei uns, sonst würden die amerikanischen Bücher bei uns ja nicht so einen reißenden Absatz finden ...

Churke

Zitat von: Maja am 16. Januar 2014, 23:48:59
Natürlich hast du in Großbritannien eine große Heldenverehrung, wenn es um die Veteraten des Ersten Weltkriegs geht, und doch ist sich die Mehrheit der Bevölkerung darüber im Klaren, dass dort eine ganze Generation letztlich für nichts ausgelöscht wurde.
Aber kennst du nicht den klassischen Satzaus amerikanischen 08/15-Serien und Filmen: "Er ist umsonst gestorben!" Oder das bewundernde: "Er starb für uns!"?
Das sind Motive, die sich irgendwo im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft finden. Bei den Briten begegnet mir das weniger. Vielleicht, weil sie zwar beide Weltkriege offiziell gewonnen haben, aber anschließend wg. Bankrotts von der Weltbühne abtreten mussten. Die Amerikaner dagegen sind seit 100 Jahren erfolgreich (Selbstauskunft) im Namen des Guten unterwegs, das engt den Horizont ein.

Zitat von: Debbie am 17. Januar 2014, 10:27:10
Und es ist keine neuezeitige Erfindung, sondern ein Teil der Menschheitsgeschichte. Den Kriegern wurden Heldengeschichten erzählt, damit sie einen Sinn sahen, in dem was sie taten. Den Anderen wurden sie erzählt um einen gewissen Ehrenkodex zu vermitteln und aufrechtzuerhalten, der durch moralische Wertvorstellungen das Miteinander ermöglichte und vereinfachte - die ersten Gesetze sozusagen.

Mythen und Sagen, selbst die historische Überlieferung, begreifen den Heldentod als Schlusskapitel eines Dramas. In aussichtsloser Lage legt der Held einen starken Abgang hin. Die Amerikaner hingegen banalisieren den Heldentod als Auftakt eines Happy Ends. Ich halte das sowohl intellektuell als auch dramaturgisch für eher fragwürdig.


canis lupus niger

#11
Zitat von: Judith am 16. Januar 2014, 23:34:57
Äh .... wofür muss Siegfried sich nicht opfern? Für seinen Tod?
Wie Steffi denke ich, dass du da Äpfel mit Birnen vergleichst. Du stellst Fantasyhelden, die ein Opfer bringen müssen, damit am Ende das Gute triumphiert und das Böse besiegt werden kann, einem Helden gegenüber, der schon bei der Hälfte stirbt. Noch dazu gibt es noch nicht einmal ein Gut/Böse-Schema im Nibelungenlied und am Ende ... naja, sind alle tot.  ;)

Siegfried hat sich als Charakterschwein verhalten. Um die Schwester von König Gunther heiraten zu können, wirbt er in dessen Namen um die isländische Königstochter Brunhilde, besteht für den Schwager die vom Bräutigam zu bestehenden Prüfungen. Die enttäuschte Brunhilde wird nicht an den strahlenden Helden verheiratet, sondern an dessen Auftraggeber. Als sie diesem immer wieder den Sex verweigert, springt auch hier der gute Siegfried ein, bricht Brunhildes Widerstand im Bett mit Gewalt und lässt dann den königlichen Ehemann über das besiegte Weib steigen. Als Trophäe nimmt er Brunhildes Gürtel mit, um ihn seiner eigenen Frau Kriemhild zu schenken. Die betrogene und vergewaltigte Brunhilde wird beim darauf folgenden Kirchgang noch weiter gedemütigt. Als Ehefrau des Königs hätte sie eigentlich den Vortritt vor dessen Schwester. Aber ihre Schwägerin Kriemhild verweigert ihr diesen mit dem Hinweis darauf, dass ihr eigener Ehemann Siegfried dem König überlegen sei, denn er hätte dessen Ehefrau ja im Bett für diesen zähmen müssen. Somit hätte sie als Frau des besseren Mannes auch Vortritt vor der Frau des unterlegenen. Dabei zeigt sie auf Brunhildes Gürtel, den sie demonstrativ trägt. Ganz ehrlich, für meinen Geschmack hat "sich" Siegfried nicht für ein höheres, gemeinsames Ziel geopfert, sondern bekam das, was er verdiente, von Hagen im Auftrag der gedemütigten Brunhilde: Kein Opfer, sondern eine verdiente Strafe.

Aber wie Steffi auch, finde ich, dass man historische Heldensagen und Volksmärchen keinesfalls mit Fantasy in einen Topf werfen darf, die ja reine Unterhaltungsliteratur ist. Natürlich sind ähnliche Motive vorhanden und oft genug wurden Sagen und Märchen als Grundlage neuerer Fantasy verwendet. Tolkien entlehnte die Vorlagen für seine Kunstwelt Mittelerde den Mythen verschiedener nordeuropäischer Kulturen. Und viele spätere Autoren schöpfen aus Tolkiens Werken. Aber moderne Unterhaltung wie Percy Jackson und Harry Potter mit der Sigurdsaga oder Grimms Märchen zu vergleichen, finde ich verfehlt. Die Zielgruppen und die Aussagen sind einfach viel zu verschieden.

Sagen und Märchen sollten Vorbildwirkung auf ihre Zuhörer haben, begeistern und moralisieren. Deshalb werden solche Tugenden wie Heldenmut und Ehre besonders idealisiert. Fantasy-Romane sollen unbterhalten, und das tun sie oftmals, indem sie dem Leser ermöglichen, sich mit dem "Helden" zu identifizieren, mit ihm mitzuleiden und mitzusiegen.

Dass die Briten und US-Amerikaner hier "opferbereiter" sind als wir, ist meiner Meinung nach tatsächlich darin zu sehen, dass ihre "Opfer" bisher fast immer erfolgreich waren, sich gelohnt haben. Der Schmerz der Familien, die Angehörige verloren hatten, wurde mit pompösen Paraden und Siegesfeiern übertönt. Die Amerikaner haben noch nie einen Verteidigungskrieg in ihrem eigenen Land führen müssen. Den Völkermord an den Indianern rechne ich nicht als Krieg, und der Bürgerkrieg fand ja gegen die eigenen Landsleute statt. Krieg und Opfer fanden vorzugsweise woanders statt, und hinterher konnte siegreich heimgekehrt und gefeiert werden.  Vietnam war die erste echte Niederlage der Amerikaner, und hat eine tiefe Wunde in der Volksseele hinterlassen. Die Briten haben eine etwas andere Geschichte, aber auch deren Kriege fanden seit Jahrhunderten woanders statt (Stichwort: beautyful isolation) und "lohnten" sich im Grunde, denn sie waren ertrag- und erfolgreich. Man gewann und verteidigte Kolonien und Weltmacht, bzw. gewann die beiden Weltkriege. In beiden Staaten sorgte die Propaganda während und nach den Kriegen dafür, dass das Kämpfen und der Opfertod in der Bevölkerung zumindest auf Zustimmung traf. In Deutschland war Krieg immer etwas, das das Land überrollte, die Bevölkerung dezimierte und wirtschaftlich ruinierte, und hinterher (zumindest soweit es die beiden Weltkriege betraf) das Selbstverständnis und -bewusstsein völlig zerstörte. "Wir" waren die Schuldigen, die Bösen. Krieg von deutschem Boden ausgehend war ein Verbrechen und unsere Soldaten, unsere Brüder, Väter und Großväter angeblich alle Kriegsverbrecher. In diesem Bewusstsein sind wir Nachkriegskinder aufgewachsen. Wie sollen "wir" denn einem "heroischen" Opfer etwas Positives abgewinnen? 

   

Kati

#12
Wenn du mit dem Nibelungenlied vergleichen möchtest, musst du nicht zu Siegfried gucken, sondern zu Kriemhild. Opfert sich Siegfried? Nein, er benimmt sich wie Canis schon sagte, wie die Axt im Walde und wird daraufhin getötet. Opfert sich Kriemhild? Sie nimmt den eigenen Tod in Kauf um Siegfried zu rächen. Da haben wir, finde ich, durchaus ein großes Opfer, was sie erbringt. Du musst da halt schauen, welche Figur du dir anguckst. Wenn du natürlich Siegfried nimmst, findest du kein Opfer. Zu den Märchen der Grimms sollte man vielleicht auch sagen, dass das keine typisch deutschen Geschichten sind. Die Grimms haben sich die Märchen ja nicht ausgedacht, sondern überall zusammengesammelt und umgeschrieben: Viele Märchen sind eigentlich französische oder italienische, skandinavische und sogar welche aus dem asiatischen Raum sind dabei. Die Grimms haben Märchen gesammelt und für ihr deutsches Publikum angepasst, aber die Geschichten selbst sind nicht deutsch. (Dornröschen zum Beispiel gilt übrigens als entschärfte Version von Brunhilde aus dem Nibelungenlied, da schließt sich der Kreis.)

An sich muss man bei sehr alten Geschichten immer darauf achten, ob der Ursprung der Sage wirklich der Raum ist, in dem sie aufgeschrieben und bekannt gemacht wurde. Oft sind das ja mündlich überlieferte Sagen, die sich über Jahrhunderte mit anderen vermischt haben und ein wirkliches Ursprungsland ist gar nicht mehr herauszufinden. Zu Zeiten von Beowulfs Entstehung sah es in der Welt ja auch noch ein wenig anders aus, als heute, das kommt auch noch dazu. Das war ja knapp nach der Völkerwanderung und die Angelsachsen im heutigen England waren Sachsen und Angeln aus dem heutigen deutschen Raum, also auch so gesehen gar keine Engländer (an heutigen Begriffen festgemacht.) Beowulf zum Beispiel wurde wahrscheinlich von den Gauten (heute skandinavischer Raum) nach East Anglia gebracht, ist also auch nur halb ein angelsächsischer Mythos.

Ansonsten denke ich, sind diese Opfergeschichten kein Merkmal der modernen Literatur aus dem englischen Raum an sich. Meist wird so etwas ja herangezogen um Charakterentwicklung zu schreiben, in den seltensten Fällen sind diese Opfer wirklich schädlich für die Figur und die Figur wächst daran und hat trotzdem ein halbwegs glückliches Ende. Siehe Harry Potter, Frodo etc. Das gibt es in vielen deutschen Geschichten auch, weil es einfach ein leichter Weg zur Charakterentwicklung hin ist und auch nicht unbedingt der schlechteste. Ob man heute noch unbedingt englischsprachige und deutschsprachige Literatur auf Unterschiede untersuchen kann, sei mal dahingestellt. Ich denke, durch die Globalisierung und den Umstand, dass es so einfach ist, Literatur aus anderen Ländern zu bekommen, hat sich zumindest das ziemlich angegleicht, bis auf vielleicht kleine regionale Unterschiede (südenglischer Charme, Südstaatenflair, raue Nordseeküste etc.).

Kaipi

Okay, Nibelungen und Harry Potter in einen Vergleich aufzunehmen, war doch etwas zu krass.  ;) Aber die Diskussion verläuft jetzt sehr interessant und es macht Spaß, Eure teils sehr fundierten Antworten zu lesen. Mir wird jedenfalls klar, dass ich mir dieses Selbstopfer-Muster nicht ganz einbilde.

Ich finde das übrigens - insbesondere in Kinder- und Jugendliteratur - unangebracht. Kinder sollten erst einmal lernen, sich selbst zu schützen und nicht, sich für eine höhere Sache zu opfern. Als deutscher Kinderbuchautor verblüfft es mich, dass bei der angelsächsischen Literatur dieses Thema offenbar so hoch angesehen ist. In den deutschen Übersetzungen und Filmen schwappt das ja auch in unsere Kinderzimmer und als Eltern ist man plötzlich mit seltsamen Fragen konfrontiert. Wie erkläre ich kindgerecht das eigenartige Verhalten einer fiktiven Figur, deren Verhalten nur mit der anderen Kultur des Autors zu begründen ist?

Ich habe mit meinem 6-jährigen Sohn kürzlich »Star Wars 4« gesehen, und da »opfert« sich ja schon zu Beginn der nette Opa Obi Wan. Diese Szene musste ich meinem Sohn mehrmals am Tag erklären. »Warum hat er nicht weiter gekämpft?«, fragt er. »Warum haben ihm seine Freunde nicht geholfen?«
Was soll ich antworten? »Er hat sich für das höhere Ziel, der Rettung der Galaxis, geopfert. Hätte er weiter gekämpft, wäre Luke niemals geflohen, also musste er sterben.« Ist doch logisch, oder?

Zitat von: canis lupus niger am 17. Januar 2014, 11:59:41
Dass die Briten und US-Amerikaner hier "opferbereiter" sind als wir, ist meiner Meinung nach tatsächlich darin zu sehen, dass ihre "Opfer" bisher fast immer erfolgreich waren, sich gelohnt haben.

Meist Du wirklich, die »gewonnenen« Kriege der Amerikaner und Briten haben zu dieser verklärten Heldentod-Verehrung geführt? Ich denke, dass die letzten Kriege auch in der amerikanischen Literatur große Spuren hinterlassen haben.

Trotzdem kommen in aktuellen Jugendbüchern wieder die alten Muster und Klischees durch, das hat mich ganz besonders bei Harry Potter genervt. Bis Band 4 fand ich die Reihe richtig schön, aber als dieser Criminal Minds Psychopath und Serienmörder Voldemort Harrys Gedanken verseuchte und Harry am Ende noch sterben musste und Hoghwarts wie damals London bombardiert wurde, war für mich der alte Zauber verschwunden. Jetzt befand man sich in einer - durchaus gut durchdachten und spannenden - Kriegsgeschichte.

canis lupus niger

#14
Zitat von: Kaipi am 17. Januar 2014, 12:48:43
Meist Du wirklich, die »gewonnenen« Kriege der Amerikaner und Briten haben zu dieser verklärten Heldentod-Verehrung geführt? Ich denke, dass die letzten Kriege auch in der amerikanischen Literatur große Spuren hinterlassen haben.

Ich meine, dass die Sieger eine andere Vergangenheitsbewältigung betreiben, als die Verlierer. Für die Amerikaner und Briten waren ihre gefallenen Soldaten Helden. Ihr Opfer war tragisch, aber richtig. Uns dagegen wurde erklärt, dass unsere gefallenen Soldaten Kriegsverbrecher und Nazis waren. Sie waren keine Helden, sondern zu dumm, Hitlers Propaganda, bzw. die des Kaisers zu durchschauen.

Der Hintergrund ist, dass die Briten und Amerikaner gelegentlich wieder Soldaten rekrutieren wollten, und deshalb in ihren Bevölkerung keine negative Stimmung zum Thema Krieg erzeugen wollten. "Von deutschem Boden darf" dagegen "nie wieder ein Krieg ausgehen", deshalb fand hier nach dem Krieg (den Kriegen) eine ganz andere Art der Vergangenheitsbewältigung statt.

Zitat von: Kati am 17. Januar 2014, 12:34:57
Die Grimms haben Märchen gesammelt und für ihr deutsches Publikum angepasst, aber die Geschichten selbst sind nicht deutsch. (Dornröschen zum Beispiel gilt übrigens als entschärfte Version von Brunhilde aus dem Nibelungenlied, da schließt sich der Kreis.)
Na ja, einige waren schon deutsch. Schneeweißchen und Rosenrot zum Beispiel beinhaltet viele Motive germanischen Volksglaubens. Andere natürlich nicht, wie du sehr richtig sagst. Man muss aber auch bedenken, dass Staatsgrenzen sich damals sehr stark vierschieben konnten. "Deutschland" in dem Sinne gab es im Mittelalter noch gar nicht. Der "deutsche" Kaiser Freidrich Barbarossa hat sich so gut wie nie in (heutigen) deutschen Gebieten aufgehalten, sondern fast ausschließlich in Italien. Das "Heilige römische Reich deutscher Nation" umfasste wirklich Gebiete von der Maas bis an die Memel und so weiter. Dabei waren das vom kulturellen Hintergrund her eigentlich Länder in halb Europa, die heute zu den Niederlanden, zu Frankreich, Italien, Serbien, Slawonien, Osterreich, Ungarn, Polen, Russland, Litauen, und etlichen anderen Ländern gehören. Noch fünfhundert Jahre zuvor dagegen gehörte fast ganz Deutschland zum Frankenreich Karls des Großen, der gebürtig ganz bestimmt kein Deutscher war. Staatsgrenzen haben eigentlich nichts mit regionaler Kultur und Volksglauben zu tun. Auch haben sich beliebte Märchen und Sagen auch durch Weitererzählen weiter verbreitet.