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[Praxis] Wie man eine verdammt gute (System-) Dystopie schreibt

Begonnen von Sorella, 30. April 2011, 13:39:58

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Farean

#30
Zitat von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58
(Wer gerne über die Genredefinition einer Dystopie diskutieren will - es gibt einen umfangreichen anderen Thread dafür, guckst du hier)
Der Link ist leider kaputt. Wo finde ich den Thread?

Zitat von: Sorella am 30. April 2011, 13:39:58
Was ist in Bezug auf den Protagonisten und die Charaktere zu beachten?
Wie sollte ein klassischer Dystopie-Plot strukturiert sein? An anderer Stelle im Forum wurde gesagt:
[...]
Sehr ihr das auch so? :hmmm:
Nö.

Ich sehe die Dystopie, genau wie Franziska, eigentlich eher als Merkmal des Weltenbaus, nicht des Plots. Eine Systemdystopie kann alle möglichen Charaktere hervorbringen und dementsprechend als Rahmen für alle möglichen Plots dienen.

Was Sorella in dem Zitat angeführt hat, wäre ein typischer "Erkenntnis-und-Rebellion"-Plot: die Erkenntnis, daß dein bisheriges Leben auf falschen Prämissen basierte, gefolgt vom Ausbruch aus dem System. Sehr beliebt, aber lange nicht der einzig mögliche Plot.

Zunächst einmal könnte "Erkenntnis und Rebellion" auch andersherum laufen: zu Beginn ist der Protagonist einer der Verlierer der Dystopie, der gegen das System kämpft. Dann winkt ihm plötzlich der Aufstieg in die "höheren Schichten", und er sieht sich mit der Verlockung konfrontiert, daß ihn das System ebenso korrumpieren kann wie die Herrschenden, die er bis dato bekämpft hat... oder mit der Möglichkeit, das System zu reformieren, anstatt es zu stürzen... oder mit der Erkenntnis, daß seine Rebellenkameraden auf ihre Weise genauso miese Dreckschweine sind wie die tyrannische Obrigkeit...

Ebenso sind völlig unpolitische Plots möglich, die nichts mit dem "Kampf gegen das System" zu tun haben, sondern nur mit dem "Überleben im System": ein Familiendrama etwa oder eine Liebesgeschichte um den Funken Menschlichkeit, den es inmitten der Stahlwüste des futuristischen Megaplexes zu bewahren gilt - ohne dabei am dystopischen "Großen Ganzen" was zu ändern oder auch nur zu kratzen. Charaktere, die sich pfiffig durch die Regeln des Systems durchwinden und sie verdrehen und ausnutzen, anstatt heroisch dagegen anzukämpfen. Auf diese Weise wäre sogar eine dystopische Komödie denkbar.

Zur rein handwerklichen Frage nach der Herangehensweise: ich würde erst einmal meinen dystopischen Weltenbau erstellen und gucken, welche Rollen "das System" seinen Bewohnern eröffnet. Ich würde exemplarisch für verschiedene Berufsgruppen und Subkulturen Charaktere erstellen und gucken, welche Hoffnungen und Ängste sich aus der Interaktion mit "dem System" für sie entwickeln. Und sobald eine(r) von ihnen eine alles beherrschende Sehnsucht oder Angst hat, taugt er/sie zum Protagonisten und die Jagd nach dieser Sehnsucht bzw. die Flucht vor dieser Angst zum Hauptplot. Irgendeine Aussage über das System wird dabei schon herauskommen. ;)

Nachtrag: was meiner Ansicht nach rein handwerklich wichtig ist, wäre, das System beim Entwurf nicht zu werten. Es ist nicht böse, es ist einfach da. Es ist aus irgendwelchen Notwendigkeiten heraus gewachsen und/oder war ursprünglich als Verbesserung gedacht, denn keine Gesellschaft stülpt sich freiwillig einen Unterdrückungsapparat über, ohne sich was davon zu versprechen.

Churke

Zitat von: Schommes am 04. Mai 2011, 15:54:57
Lieber Churke, Du erwähntest so was ähnliches bereits in dem anderen Thread. Aber hier geht es der Natur des Forums entsprechend meines Erachtens eben um die erfundene Dystopie. Solltest Du allerdings irgendwann einmal im Sinne haben, eine reale Dystopie aufzubauen (nach Schema oder ohne) sag mir bitte unbedingt Bescheid. Ich bin sofort dabei.

Der griechische Bildhauer Praxiteles wurde einmal gefragt, wer sein Lehrmeister sei. Praxiteles: "Die Natur."

Eine realexistierende Dystopie ist nicht nur Inspiration, sie ist das perfekte Unterrichtsmaterial. Man hat eine Vorlage, die bis in den letzten Winkel absolut fehlerfrei ist, weil sie eben real existiert(e).
Ich halte daher das Studium der realen Dystopien - über das Inspirationsmoment hinaus - für eines der wirkungsvollsten Werkzeuge auf dem Weg zu einer verdammt guten (System) Dystopie.

Ich reite auch deshalb so darauf herum, weil ich einen historischen Roman mit dystopischem Setting fabriziert und dabei sehr viel gelernt habe. 

Schommes

#32
Die Dramaturgie des Lebens hat mit der Dramaturgie des Unterhaltungsromans gleich gar nichts gemein. Sonst wäre eine historische Abhandlung über das Dritte Reich zugleich ein Spannungsroman. Da das ganz offensichtlich nicht so ist, kann die Realität vielleicht eine Inspirationsquelle, aber sicherlich kein dramaturgisches Modell sein. In diesem Thread geht es um den Aufbau einer Dramaturgie mit der Prämisse, dass am Ende eine Romandystopie dabei herausspringen soll.
Irgendwie kommt mir diese Diskussion bekannt vor. Déja vu. I guess it's just a glitch in the matrix. Wo ist das nächste Telefon?

Lomax

Zitat von: Schommes am 04. Mai 2011, 16:18:13Und außerdem halte ich es für einen relativen Anfänger für extrem schwierig einen Plot um eine gehaltvolle politische Botschaft herumzustricken. Ich hatte es glaube ich an anderer Stelle schon mal erwähnt: Wenn man in sowas nicht sehr geübt ist, gerät das ganze leicht krampfig und für den Leser unangenehm pädagogisch.
Nun ja, "politische Botschaft" und "realhistorische Inspiration" sind ja auch zwei paar Schuhe. Da läuft das eine nicht automatisch auf das andere hinaus. Ganz im Gegenteil halte ich es gerade für einen auch für Anfänger hilfreichen Hinweis, dass es bei der Konstruktion dystopischer Szenarien auch reale Vorbilder gibt, die man als Materiallager verwenden kann. Wo sonst findet man leichter Anregungen, die auch wirklich funktionieren und glaubwürdig sind?
  Wie dick man dann den realen Bezug einbaut und ob man explizit auch den Zeigefinger für sein Buch übernimmt - "sieh her, so ist es wirklich gewesen und das war ganz schlimm" -, das bleibt ja dem Autor dann selbst überlassen.

Wie "dystopisch" realweltliche Vorbilder dann in der Realität wirklich sind, ist dann auch wieder eine andere Frage. Da habe ich bedenken, ob die 1:1 als Setting einer Dystopie eignen, oder ob eine "richtige" Dystopie nicht immer zuspitzen und vereinfachen muss. Französische Revolution und die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses ist dafür ein gutes Beispiel. Sieht man in der Rückschau und geprägt durch die Rezeption der Vorgänge im monarchistischen Ausland und in späteren Generationen gerne als regelrecht "dystopisches Szenario", relativiert sich aber plötzlich sehr beim Vergleich mit anderen historischen Vorgängen und bei näherer Betrachtung der Zusammenhänge im Detail. Und bei anderen historischen Vorbildern mag es genauso sein.
  Da kann man dann höchstens sagen, dass historische Vorbilder für "Anfänger" womöglich darum mit Vorsicht zu genießen sind, weil plötzlich die dramaturgische Klarheit verloren gehen kann und man sich in ambivalenten Details verliert, wenn man zu genau auf diese "Realitäten" schaut anstatt dem theoretischen Konzept zu folgen.



Schommes

Eine reale Dystopie kann mir bei der Entwicklung des Bühnenbilds oder anderer Einzeldetails der Phänomenologie einer Romandystopie helfen (z.B. Zitat bestimmter Foltermethoden, Verhaltensweisen politischer Führer etc.).
Aber der Ablauf der realen Ereignisse ist im Regelfall keine sonderlich gute Grundlage für die dramaturgische Komposition eines Romandystopieplots um den es in diesem Thread gehen soll. Wie Lomax sagt: Die Wirklichkeit ist in aller Regel zu komplex und mitunter auch schlicht zu langweilig um daraus einen spannenden Roman zu komponieren. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.

Sorella

#37
Zitat von: Churke am 04. Mai 2011, 17:00:28
Der griechische Bildhauer Praxiteles wurde einmal gefragt, wer sein Lehrmeister sei. Praxiteles: "Die Natur."

Eine realexistierende Dystopie ist nicht nur Inspiration, sie ist das perfekte Unterrichtsmaterial. Man hat eine Vorlage, die bis in den letzten Winkel absolut fehlerfrei ist, weil sie eben real existiert(e).
Ich halte daher das Studium der realen Dystopien - über das Inspirationsmoment hinaus - für eines der wirkungsvollsten Werkzeuge auf dem Weg zu einer verdammt guten (System) Dystopie.

Ich reite auch deshalb so darauf herum, weil ich einen historischen Roman mit dystopischem Setting fabriziert und dabei sehr viel gelernt habe. 


Könntest du mir bitte daraus einen kurzen Satz formulieren, den ich für die praktischen Ansätze verwenden kann? Mir gelingt es leider nicht, aber ich möchte dich nicht vor den Kopf stoßen, Churke.
Also bitte nicht falsch verstehen, dieser Post gehört für mich in die Diskussion.

Zitat von: Lomax am 04. Mai 2011, 17:51:47
Nun ja, "politische Botschaft" und "realhistorische Inspiration" sind ja auch zwei paar Schuhe.

...

in ambivalenten Details verliert, wenn man zu genau auf diese "Realitäten" schaut anstatt dem theoretischen Konzept zu folgen.

Für diesen Post gilt das Gleiche. Ich bitte dich, Lomax mir daraus einen praktischen Ansatz als Satz zu formulieren, ich werde ihn in den Baukasten einfügen. Wenn es nicht gelingt, gehört dieser Post in die Diskussion.

@all  Bitte um Verständnis, das wir die Themenbereiche Praxis+Diskussion scharf abgrenzen müssen, sonst führen wir dies hier weiter, was an anderer Stelle für Magenschmerzen gesorgt hat.
Ich werde Schommes bitten, seinen Thread als [Diskussion] zu kennzeichnen, ich werde diesen hier mit [Praxis] kennzeichnen.

EDIT: @ Farean, den Link habe ich repariert, danke für den Hinweis  :)

Lomax

Zitat von: Sorella am 04. Mai 2011, 19:00:07Könntest du mir bitte daraus einen kurzen Satz formulieren, den ich für die praktischen Ansätze verwenden kann?
Zu dem von Churke genannten Ansatz fällt es mir leichter, praxisorientierte Sätze zu generieren. Zu dem, was du aus meinem Post zusammengefasst hast, geht das naturgemäß nicht, weil ich da ja nichts anderes festgestellt habe, als dass Churkes Ansatz durchaus einen praktischen Nutzen haben kann, aber man sich unter Umständen in der Historie auch verzetteln kann. ;)

Aber gut, praktischer Nutzen aus der Historie für die literarische Dystopie, der erste Ansatz für die Praxis: Wenn du in deiner Dystopie etwas verwendest und Zusammenhänge einer dystopischen Gesellschaft darstellst, und wenn du Figuren in dieser Gesellschaft zeigst und ihre Interaktion mit den Verhältnissen, dann schau ruhig mal in der Geschichte nach, ob es so was schon mal gab, und wie es in der Realität abgelaufen ist. Damit vermeidet man allzu offensichtliche Fehler oder naive Kurzschlüsse, die sich leicht einschleichen können, wenn man seine Dystopie rein theoretisch zusammenreimt, und man macht seine Geschichte damit glaubwürdiger.
  Ich denke mal, das wäre ein praktischer Ansatz.

Ansonsten denke ich, trifft Schommes Post es ganz gut: Die Historie kann vor allem nützlich sein fürs "Bühnenbild", für den Plot liefert sie selten brauchbare Vorlagen.
  Aber (und das wäre dann der zweite praxisorientierte Satz aus Churkes Einwand): Wenn man reale, historische Gesellschaften mit dystopischen Zügen studiert, dann findet man darin durchaus auch reale Einzelschicksale und Begebenheiten, die sich ganz hervorragend für die literarische Fiktion adaptieren lassen. Und die einem dabei helfen, glaubwürdig zu erzählen und Fehler zu vermeiden, die sich leicht einschleichen, wenn man seinen Plot zu theoretisch konzipiert - ganz einfach weil man an Beispielen sieht, was möglich ist und wo die Realität schon mal bewiesen hat, dass es so nicht funktioniert.
  Ich denke mal, das sind gute Gründe und genug praktischer Nutzen, um nicht nur das Studium realer Gesellschaften als notwendige praktische Vorbereitung beim Abfassen einer literarischen Dystopie anzusehen, sondern auch um gezielt nach passenden historischen Gesellschaften für dieses Studium zu suchen.

Sorella

Ich kann mit Mühe folgende Quintessenz bilden:

"Man kann zu Recherchezwecken auch Systeme und Szenarien aus der Geschichte oder Gegenwart analysieren und vergleichsweise heranziehen."

Wenn ihr das wollt, kann ich das mit hinschreiben, zufriedenstellend finde ich das nicht.  :-\ (schaden tut es aber auch nicht, also kann ich damit leben)

Schommes

Upps. Mich quält gerade eine Frage: Gehört Fight Club auch auf meine Liste?

Sorella

Ich kenne Fight Club leider nicht.
Wenn es eine Dystopie ist müsste er über eine Grund-Utopie verfügen. Hat er die?

Farean

Hat er. Und zwar das derzeit in diversen Verfassungen festgeschriebene (und weitgehend im Alltag gelebte) Recht auf Unantastbarkeit der Person.

"Fight Club" interpretiert dies so, daß wir in unserem Alltag "in Watte gepackt" umherlaufen und uns ständig zusammenreißen und lieb und nett sind, obwohl wir uns viel lieber manchmal ordentlich prügeln wollen. Die Dystopie besteht schlichtweg in einem einseitigen/verzerrten Blick auf unsere aktuelle Realität. Das Aufbegehren gegen die Dystopie besteht in der Gründung der illegalen Boxclubs, die letzten Endes als breite Massenbewegung zum -- als erstrebenswert dargestellten -- Rückfall in Chaos und Anarchie führen.

Schommes

Ich wollte das eben gerade so ähnlich beschreiben:

Das ist eben das Schwierige. Das Buch ist übrigens genauso lesens- wie der Film sehenswert.

Das Interessante ist, dass das Buch in einer unveränderten Jetztwelt spielt, die aber aus der Perspektive des Helden dystopisch erscheint (Konsumkritik, Bindungslosigkeit, Sinnlosigkeit der Arbeitswelt). Der Antagonist ist daher in einen extremen Widerstand verfallen, der auf die Philosophie der Neo-Ludditen aufbaut (Utopie???).
Das Buch ist wahrscheinlich ebenso ein Sonderfall, weil es nicht ganz ins Normalschema passt, aber generell schon dystopisch.

Ich bitte ergebenst um weitere Meinungen  :bittebittebitte: aber wohl besser in dem Listenthread http://forum.tintenzirkel.de/index.php/topic,7774.0.html wenn das geht. 

Sorella

[EDIT] 06.05.11 Grundbaukasten einer klassischen Dystopie mit Archeplot im ersten Post erweitert

Ich bin gefrustet, soviel Zeitaufwand für so wenig Ergebnis  :seufz: Tut mir leid Leute, wenns nur zäh vorwärts geht. Ihr könnt ja zwischenzeitlich Filme und Bücher analysieren  ;D

Während der Zusammenstellung sind mir aber ständig Paralellen zu mir bekannten Dystopien aufgefallen. Die Abgrenzung zur Gegenwelt ist z. B. in Tribute von Panem der überwachte Zaun. Die Technologie bei Panem wirkt teilweise mangelhaft (in den Distrikten), im Kapitol dagegen findet man hochentwickelte fiktive Technik. Die Kommunikation zwischen den Distrikten ist gestört, bzw. gar nicht vorhanden.

Schön langsam verinnerliche ich die Prinzipien einer klassischen Dystopie. Vorher hatte ich es nur für ein extrem spannendes Buch gehalten.  :hmmm: Fortsetzung folgt.