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Beschreibung aktuell existierender Orte in der Vergangenheit

Begonnen von Christian Svensson, 05. Juli 2014, 22:48:28

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Christian Svensson

Guten Abend.
Ich überarbeite zur Zeit eine Kurzgeschichte, die in der Ich-Perspektive und in der Vergangenheit geschrieben ist. Dabei ist ein Problem aufgetreten. Der Protagonist schildert einen Platz und Gebäude, die auch heute noch existieren. Muss diese Schilderung in der Vergangenheitsform oder in der Gegenwart erfolgen?

Beispiel:
ZitatDer Weg von der Bankfiliale zum Schlossparkcenter, zu dem Sabrina wollte, war nicht weit und führte quer über den Marienplatz, dem wohl zu jeder Tages- und Nachtzeit belebtesten Ort in Schwerin. Er hat noch immer viel Historisches zu bieten und weder die DDR-Machthaber noch die Marktwirtschaft haben ihm alles davon nehmen können. So ist er heute nicht nur ein zentraler Verkehrsknotenpunkt, sondern auch eine Erinnerung an die Zeit, als hier noch Pferdekutschen auf ihre Fahrgäste warteten und die Damen der Gesellschaft ihre neueste Mode ausführten.
Einige alte Fassaden sind renoviert erhalten geblieben und auch die Shoppingmeile versteckt sich gekonnt zwischen Gebäuden aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Wer aus einer der drei Straßenbahnlinien aussteigt, die sich hier kreuzen, hat die Wahl. Hundert Schritte sind es in die historische Altstadt mit ihren Läden und Kaffees und dem berauschenden Blick auf das Schweriner Schloss oder fünfzig Meter bis in ein modernes Shoppingcenter.
In Letzteres bahnte sich Sabrina den Weg durch die Menschenmenge mit mir, ...

Es hört sich für mein Sprachgefühl richtig an, aber fühlen und wissen sind ja oft ein Unterschied  ;)

Miezekatzemaus

#1
Also, für mein Sprachgefühl hört sich das falsch an, mein Kopf allerdings sagt mir, dass auch diese Variante funktioniert.
Ich hätte das Ganze in die Vergangenheit gesetzt, weil sich der Text für mein Empfinden so anhört, als würdest du Werbung für irgendetwas schreiben, aber das ist von Autor zu Autor unterschiedlich.
Wie gesagt, es gehen beide Variationen, aber ich finde die nicht genutzte schöner. (Wenn du dir darunter so noch nichts vorstellen kannst:
ZitatXYZ ging zu ZYX und fragte nach, wie es sein könnte, dass die Blumen, welche man schon vor Hunderten von Jahren angepflanzt hatte, noch immer lebten.
)

Wenn du allerdings in der Gegenwart schreibst, würde ich die Zeitform so belassen, aber laut Textprobe tust du das ja nicht.
Mein Gefühl schreit zwar nach der Vergangenheit, aber mein Kopf nicht auch zu deiner Variante.
Sicher bin ich mir allerdings nicht, möglicherweise wird deine Form nur in der Gegenwart eingesetzt.
Viele Grüße
Mieze

Malinche

Ich denke, wesentlich ist hier nicht, ob es die Orte heute noch gibt und ob sie außerhalb der erzählten Zeit noch immer so aussehen. Wichtig ist die Zeit im Roman. Du stellst die Orte ja aus der Sicht deiner Figur dar, und wenn die alles weitere in der Vergangenheitsform wahrnimmt, gehören für mich auch die Ortsbeschreibungen in diese Zeit gesetzt. Über alles andere würde ich als Leser stolpern.
»Be suspicious of the lemons.« (Roxi Horror)

Verwirrter Geist

ZitatDer Protagonist schildert einen Platz und Gebäude, die auch heute noch existieren. Muss diese Schilderung in der Vergangenheitsform oder in der Gegenwart erfolgen?

Der Fehler in dieser Denkweise ist das "heute". Dein Roman steht temporal gesehen in keiner Verbindung zu unserer Gegenwart, sprich: In der Perspektive deines Romans, auch wenn sie im Präteritum erzählt wird, existiert keine "Zukunft" die irgendetwas mit dem hier und jetzt zu tun hat.
Also wäre das Präteritum richtig.

Als Beispiel aus deinem Text:
Zitat"So war er heute nicht nur ein zentraler Verkehrsknotenpunkt,[...]"

Maja

Die Frage ist, was für den Erzähler die Erzählzeit ist. Bei Ich-Erzählungen gibt es im Weitesten zwei Varianten: Das eine (ich nenne das die Noir-Perspektive, weil ich es vor allem von Raymund Chandler kenne) erzählt diese Geschichte, als ob sie gerade in diesem Moment passiert. Wenn Philip Marlowe sagt "Ich trat in das Studierzimmer des Colonels", dann sagt er es in dem Moment, in dem er tatsächlich gerade zur Tür hereingekommen ist, er kommentiert die Handlung in dem Moment, in dem sie passiert. Da alles in der Vergangenheitsform geschrieben ist, würde das auch für die Beschreibung des Marienplatzes gelten. Handlungszeit und Erzählzeit sind identisch.

Das andere ist die "Had I but known!"-Schule, in welcher der Ich-Erzähler von Ereignissen, die für ihn selbst in der Vergangenheit liegen, berichtet. Man erkennt das an Andeutungen, was noch passieren würde, am berühmten "Wenn ich damals schon geahnt hätte ...", und in diesem Fall liegen Erzähl- und Handlungszeit klar auseinander. Der Erzähler würde uns also berichten, wie er auf den Marienplatz tritt, dann aber - es sei denn, in der Zwischenzeit ist eine Bombe eingeschlagen und hat alles dem Erdboden gleich gemacht - das Aussehen dieses Platzes in der Gegenwart beschreiben, denn er weiß ja (und der imaginäre Zuhörer soll es auch ruhig wissen), dass der zum Erzählzeitpunkt noch genauso aussieht.

Tatsälich sind solche Beschreibungen ein gutes Unterscheidungsmerkmal, wenn es darum geht, ob und wie Erzähl- und Erlbniszeit zusammenliegen. Richtig und falsch gibt es in diesem Zusammenhang nicht.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen.
Robert Gernhardt

Klecks

Mir hat bei meinem Zweitling mal jemand empfohlen, mich für die Immer-Präteritum-Variante zu entscheiden, weil das einfach besser und richtiger klingt. Ich finde beim Lesen auch, dass plötzliches Präsens aus dem Lesefluss reißen kann. Man kommt als Leser mit der Erzählzeit durcheinander.

Manchmal fühlt man sich zwar doof, wenn man zum Beispiel eine existierende Stadt in der Vergangenheitsform beschreibt, aber genau wegen der im Roman nicht vorhandenen Zukunft, die Verwirrter Geist erkärt hat, bleibe ich inzwischen im Präteritum. Auch, wenn es sich manchmal ein bisschen komisch anfühlt.  ;D

Sascha

Aus dem Bauch:
Wenn die Geschichte aus der Gegenwart heraus erzählt wird, also z.B. am Anfang Opa mit seinen Enkeln dasitzt und zu erzählen anfängt (wobei er dann ins Präteritum wechselt), dann können solche Rücksprünge schön passen. Denn dann spricht er gezielt Menschn in der Gegenwart an, die mit dem aktuellen Aussehen des Schauplatzes auch was anfangen können.
Wenn aber keinerlei Rahmenhandlung (wenigstens ein paar Sätze am Anfang und evtl. Ende) in der Gegenwart spielt, fühlt sich's für mich komisch an, daß plötzlich in selbige gesprungen wird.

Churke

Zitat von: Klecks am 06. Juli 2014, 10:02:02
Mir hat bei meinem Zweitling mal jemand empfohlen, mich für die Immer-Präteritum-Variante zu entscheiden, weil das einfach besser und richtiger klingt.

Nein, tut es nicht. Präteritum ist aber nie falsch, und deshalb ist der Tipp gut.

Vielleicht kann ich Majas Ausführungen zur Erzählzeit etwas prägnanter gestalten. Durch das Präsens nimmt der Erzähler eine Perspektive ein, die außerhab der Geschichte steht. In diesem Fall gibt er den klassischen allwissenden Erzähler und das Präsens fungiert hier als wichtiges Stilmittel. Wenn du das beabsichtigst, Bardo, würde ich es unbedingt drin lassen!

Kadeius

Mir wurde bei meinem Erstling ebenfalls davon abgeraten, außerhalb der wörtlichen Rede und Infintivformen das Präsenz zu verwenden. Ich war mir aber sicher, dass meine Vorbilder wie Martin und Abercrombie auch den Erzähler im Präsenz haben sprechen lassen, wenn eine Aussage sentenzenhafte oder gnomische Gültikeit besaß oder innerhalb der Welt zeitlos ist. Das liest sich erstmal merkwürdig, zeugt aber von abwechslungsreichem Stil und ist in jedem Fall ein Eyecatcher, wenn man 400 Normseiten Präteritum gelesen hat und plötzlich ein Präsens auftaucht, wo man es zunächst mal nicht vermutet hat.

Norrive

Also ich habe durch das Präsenz das Gefühl, dass du dich aus der Nähe zu deinen Figuren reißt. Du beschreibst einen Weg, den sie nehmen möchten und bist generell nah an ihrer Gedankenwelt dran, wie sie sich ihren Weg überlegen und dabei an die bekannte Umgebung gedacht wird.

Durch das Präsenz entfernt man sich davon stärker. Wäre es ein Film, würde im Präteritum die Kamera dem Blick von deiner Figur folgen, im Präsenz gibt es eine Totale aus der Vogelperspektive und Sabrina und der Ich-Erzähler verschwinden.

Kommt also darauf an, was du damit erreichen willst.

So fühlt sich das zumindest für mich an.

Grüße
Norrive

Klecks

Ich habe genau das gegenteilige Gefühl, nämlich dass ich bei Präsens - was ich aber selten durchgehend schreibe - näher an den Figuren bin als im Präteritum.  :hmmm:  Präsens ist Gegenwart, Präteritum Vergangenheit - das überträgt sich irgendwie auf mich, wenn ich schreibe. Ich habe zu einem Präteritum-Text mehr Distanz als in einem Präsens-Text.

Norrive

Ja, deswegen ist das ja ein Problem hier: Er will den Figuren folgen, die in der Vergangenheit agieren. Da man im Präsenz, wie du schon sagst selbst betroffener und näher dran ist, reißt er sich von den Figuren weg und der Handlung weg. Aber das ist auch nur Gefühlssache :)

Patricia

Zitat von: Churke am 06. Juli 2014, 11:33:57
Durch das Präsens nimmt der Erzähler eine Perspektive ein, die außerhab der Geschichte steht. In diesem Fall gibt er den klassischen allwissenden Erzähler und das Präsens fungiert hier als wichtiges Stilmittel. Wenn du das beabsichtigst, Bardo, würde ich es unbedingt drin lassen!

Ich denke auch, dass es auf die Perspektive ankommt: Wird die Geschichte konsequent aus dem Blickwinkel einer der Figuren (also in diesem Fall Sabrinas) erzählt, sollte auch die Beschreibung des Platzes im Präteritum stehen. Lässt Du dagegen auch an anderer Stelle den auktorialen Erzähler sprechen, Bardo, kannst Du die Beschreibung im Präsens stehen lassen.

Tanja

Hallo Bardo,

ich würde nach meinem Gefühl für eine Ortsbeschreibung nicht die Zeit wechseln. Einfach aus dem Grund heraus, dass der Ich-Erzähler von einer Zeit in der Vergangenheit erzählt, die er selber erlebt hat, also ein ganz subjektives Empfinden für diesen Ort hat. Ein anderer Mensch würde denselben Ort vielleicht ganz anders beschreiben. Um das (noch) deutlicher zu machen, würde ich bei einer einheitlichen Zeit bleiben.
Denn wie ein Ort auf deinen Ich-rzähler wirkt, hängt ja auch stark von seiner damaligen Situation ab.
Anders wäre es ggfs. wenn es einen allwissenden Erzähler gäbe, der zwischendurch in Einschüben Sachinformationen gibt. Da würde ich die Zeit wahrscheinlich wechseln.
Aber so wie in deinem Beispiel würde ich auch aus Gründen der Lesbarkeit bei einer Zeitform bleiben, denn zumindest mich irritiert der Zeitenwechsel beim Lesen.

Viele Grüße
Tanja