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Literarische Formen und Gattungen: Traditionsbewusstsein in euren Texten

Begonnen von Spinnenkind, 04. September 2017, 23:31:08

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Spinnenkind

Hallo lieber Zirkel,

momentan beschäftige ich mich viel mit Fragen, die die Intentionalität beziehungsweise das "Zerdenken" (oder auch nicht Zer-Denken, sondern des eigenen Schreibens betreffen. Ein Beispiel:

In meinem Studium lerne ich viel über literarische Gattungen und Formen - so weiß ich, dass Novellen sich traditionell in einem Handlungsstrang auf eine einzelne Katastrophe hin entwickeln, die daraufhin eintritt und deren Folgen geschildert werden. Ich weiß, dass in Märchen moralische korrektes Handeln belohnt wird und der Protagonist sich nicht wundert, und dass in englischen Gothic Novels, vor allem mit weiblichen Protagonisten, das Räumliche und Grenzüberschreitungen eine große Rolle spielen. Es geht mir hier also mehr um Geschichtenstrukturen als um die darin enthaltenen Elemente.

Literarische Traditionen sind super spannend, und viele davon sind in unserem kulturellen Gedächtnis verankert, womöglich ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Viele gestandene Autoren haben mit dieser Tatsache gespielt und ihre Werke, mehr oder weniger offensichtlich, in den Kontext traditioneller literarischer Formen gestellt, um dem Leser damit etwas zu signalisieren. Ich denke, um ein Beispiel zu nennen, an Texte wie Kafkas "Kleine Fabel", in der er bewusst Verlauf und Ausgang der Fabel aufgreift und gleichzeitig pervertiert.

Man kann mit Gattungen und Formen also spielen und Rezeptionslenkung betreiben. Die Kehrseite ist, schätze ich, dass das auch in die Hose gehen und in der Erfüllung von Klischees enden kann.

Wie handhabt ihr es mit traditionellen literarischen Gattungen? Habt ihr euch vielleicht schon einmal an einem Drama oder einem stream-of-consciousness-Roman versucht? Wenn ja, was war der Gedanke dahinter?
Denkt ihr vielleicht sogar, es gibt keine Literatur, die sich nicht auf traditionelle Gattungen und Formen bezieht?
Denkt ihr, man verbaut sich mit einem solchen Vorgehen womöglich die eigene Kreativität?

Ich bin auf eure Antworten gespannt  :)

Jiela

Hallöchen,

vorab: ich hatte zwar Deutschunterricht, aber ich studiere sowas nicht, also hat, was ich hier sage keine wissenschaftliche Grundlage, sondern ist mein persönliches Gedankengerüst...

Ich verwende zum Plotten ein Gerüst an Plotpunkten, die ich in einem anderen Forum einmal kennenlernte und die viel mit den Punkten der Schneeflockenmethode gemeinsam hat. Irgendwann stellte ich (im Deutschunterricht) fest, dass es Gustav Freytags Model zum Dramenaufbau sehr ähnlich ist.
Also schreibe ich im Grunde durchaus nach literarischen Traditionen. Allerdings wie @Spinnenkind schon erwähnte: Ohne es überhaupt zu wissen.
Das mag daran liegen, dass diese Traditionen durchdacht sind. Mir helfen sie dabei, Spannung aufzubauen. Deshalb stelle ich die Behauptung auf, dass sich wahrscheinlich jeder in irgendeiner Weise bewusst, oder unbewusst an gewisse Traditionen hält, weil sie für ein funktionierendes Werk essentiell sind.
Ich sage nicht, dass man solche Traditionen nicht brechen kann. Ich halte mich ja auch nicht streng daran. Aber ich denke, dass jedes Buch auf irgend ein literarisches Konzept zurückgeführt werden kann, auch wenn der Autor das nicht beabsichtig hat. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus verschiedenen Konzepten. Aber ich denke, irgendetwas ist immer drin.

Ich denke, wer es ganz bewusst macht kann sich die Kreativität blockieren, oder er nutzt es als Gerüst um etwas neues zu schaffen. Das kommt auf den Autor an. Und ich halte das auch nicht für unoriginell, oder abgekupfert, ob mit oder ohne Absicht eine Tradition im Text versteckt ist, spielt keine Rolle.
Ich kann schließlich auch mit Archetypen arbeiten und muss dabei nicht irgendjemandes Figurenkonstellation übernehmen.

Churke

Ich denke auch, dass man aufgrund der dramatischen Logik und diverser Sachzwänge letztlich automatisch dort landet, wo andere schon waren. Da finde ich die Literaturtheorie auch etwas öde, weil sie das Pferd von hinten aufzäumt. Wenn du das Pferd reiten willst, merkst du, welchen Sattel zu brauchst.

Sich der Formalien bewusst zu sein, ist sicherlich eine Hilfe. Sie bewusst herauzuarbeiten, halte ich hingegen für reine Kür. Ruhm wird man damit eher nicht erlangen. Wenn ich nach meinen Rezensionen gehe, fallen die Bezüge vielleicht 10 % der Leser auf. Oft merken es nicht einmal die Lektoren. Wenn sie dann daran herumdoktern, geht das selten gut.  ::)

Trippelschritt

Über das eigene Schreiben denke ich ständig nach. Ich kenne ein paar literarische Formen, aber die haben nichts mit meinem Schreiben zu tun. Ich kenne auch ein paar Erzähltraditionen. Ich liebe beispielsweise den englischen Internatsroman, der in der Fantasy bei Ursula LeGuin, Rowling, Rothfuss und auch einem meiner eigenen Bücher aufgegriffen wurde. Bewusst greife ich so etwas allerdings nicht auf.
Ich stimme Churke zu, wenn er sagt, dass man mit diesem Vorgehen das pferd von hinen aufzäumen würde, weil am Anfang immer die Idee zur Geschichte und nicht die Form stehen sollte. Etwas anderes ist allerdings der Umgang mit einem Genre. Wenn ich High Fantasy schreibe, gehe ich gleichzeitig einen Vertrag mit dem Leser ein, den ich erfüllen muss. Ich kann die Grenzen etwas dehnen, sollte sie aber nicht zerreißen. Beengend finde ich das nicht. Erst wenn man in eingeschweißten Bahnen entlangrollt, Klischees und Stereotype bedient, hat man es vermasselt Ich persönlich tobe mich innerhalb der gestzten gRenzen gerne aus, und wenn ich etwas anderes schreiben möchte, dann wechsele ich das Genre. Bleibe allerdings immer im Bereich Fantastik. Andere Romane zu schreiben, reizt mich nicht. Da reicht mir das Lesen. Exzellente Autoren gibt es da genug.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Soly

Ich würde auch sagen, dass es grundsätzlich von alleine passiert, wenn man alte Traditionen bedient. Mein aktuelles Projekt habe ich einfach so drauflos geplottet und dann gemerkt, dass es recht stark dem aristotelischen Drama mit seiner Fünf-Akt-Struktur entspricht (Exposition, steigende Handlung, Höhe-/Wendepunkt, fallende Handlung, Katastrophe). Daraufhin habe ich im Feinplot dafür gesorgt, dass erregendes und reatardierendes Moment noch ein wenig stärker bzw offensichtlicher ausfallen, damit das Schema besser verdeutlicht wird und es hat dem Roman - bis jetzt - nicht schlecht getan.

Etwas anderes ist das bei Kurzgeschichten. Da versuche ich schon, die wesentlichsten Merkmale aus dem Deutschunterricht beizubehalten, wie z.B. abrupter Einstieg, offenes Ende, kaum charakterisierte Handlungsträger... einfach weil das fast unumgänglich ist, wenn man eine Geschichte in dreißigtausend Zeichen runterreißen will. An dieser Stelle halte ich mich bewusst an die Traditionen, weil es tatsächlich einfacher ist.
Ansonsten schreibe ich nach Gefühl und freue mich einfach, wenn im Nachhinein ein literarische Gattung daraufpasst. Tatsächlich aber ist es relativ einfach, eine bestehende Geschichte auf irgendein Schema einer literischen Gattung zu schmieden, ohne dass der Autor das jemals so wollte.
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