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Verstrichene Zeit in der Handlung - wichtig oder eher nicht?

Begonnen von Thistle, 10. Februar 2017, 09:00:20

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wortglauberin

Das ist ein wirklich spannendes Thema, vor allem, weil mir in vielen Romanen auffällt, wenn ich finde, es wurde großartig umgesetzt oder eben eher suboptimal.
Ich bin tatsächlich eine Leserin, die Chronologien und Zeitsprünge, was beispielsweise Reisen angeht, ohnehin nicht durchsteigt- klar, grobe Logikfehler fielen mir vielleicht auf, ansonsten bin ich da aber recht naiv; es macht mir auch überhaupt nichts, wenn große Zeitblöcke übersprungen werden- es muss nur auf die Charakter- und Beziehungsentwicklung bezogen gut gemacht sind, sonst gehen mir Diskontinuitäten auf den Keks. Wie @Acrosen und @Czara gesagt haben, bleiben die Figuren charakterlich ja nicht stehen, nur, weil die Handlung aus- und wieder einsetzt, und ihre Beziehungen zueinander auch nicht.
Ich finde es unglaublich zufriedenstellend, wenn ich das Gefühl habe, dass Dinge während eines Zeitsprungs passiert sind und mir die Auswirkungen bei Wiedereinsetzung der Handlung elegant gezeigt werden; als eher unelegant empfinde ich persönlich dann solche Dinge wie "Nachdem fünf Wochen vergangen waren", @Fiannas Beispiele hingegen finde ich sehr schön.

Ein Roman, bei dem ich finde, Zeitsprünge und Veränderungen wurden sehr gut gehandelt, ist "Fire" von Kristin Cashore; es liegen teilweise mehrere Wochen zwischen den verschiedenen Perspektiven, aber man bekommt als Leser durch Dialoge und subtile Veränderungen der Figuren untereinander mit, dass und was sich zwischenmenschlich getan hat.

Generell schön sind diese Zeitraffer- Passagen, in denen beispielsweise Nachmittage auf einer Lichtung, ein bestimmter Duft oder ein Ritual als Sinnbild für einen Sommer oder so stehen; dann habe ich als Leserin das Gefühl, ich werde von den Figuren mitgenommen und bin immer noch nah an ihnen dran, ich war sozusagen dabei, als sich etwas verändert hat, und kann das nachvollziehen.

Antonia Assmann

Ein sehr schönes Thema, mit dem ich mich während meinem aktuellen Projekt dauernd rumschlage. Ich schreibe gerade an einem Mittelalterepos, dessen Handlung sich über vier Jahre hinzieht. Da des Öfteren nichts passiert, was zur Handlung gehört, respektive weiterführt, ich aber rein aus geschichtlichen Fakten heraus, diese Zeitspanne brauche, nehme ich große Kapitelüberschriften, in denen der Monat, respektive das Jahr aufgeführt wird.
Dank euch, wurde mir gerade vor Augen geführt, dass ich noch einmal nachprüfen muss, ob sich meine Personen in der verstrichenen Zeit verändert haben, oder sonstiges sich verändert hat. Danke.
Dazu frage ich mich immer, da es sich um einen Zeitraum handelt, in dem geschichtlich ziemlich was los war, ob ich ganz kleine zusammengefasste historische Fakten an den Anfang meiner Kapitel schreiben soll, um dem geschichtlich interessierten Leser noch mal vor Augen zu führen, was sich in der Zeit - auch in meinem Zeitsprung, abgespielt hat. Also nicht seitenlang, sondern in kursiv nur ein kurzer Abriss.  Das würde die zeitliche Zuordnung auch schön darstellen.
Mir als Leser ist es auch wichtig, dass alles nachvollziehbar ist und übersichtlich. Ich habe selbst nichts gegen große Sprünge, wenn man sich nur orientieren kann.

Mrs.Finster

Für mich ist das auch immer eine schwierige Kiste. Ich würde schon sagen, dass es mir als Leser wichtig ist zu wissen, wie viel Zeit vergangen ist. Als Autor versuche ich mich immer an Floskeln wie: Nach mehreren Wochen/ Tagen, es war bereits Frühling geworden etc. Schwierig ist dabei nur den logischen Ablauf zu bewahren. Letztens habe ich festgestellt, dass mein Prota Sommerferien hatte und danach die Abschlussprüfungen bevorstehen. Dabei ist es genau umgedreht  ;D

Zudem habe ich das Gefühl, dass bei bestimmten Erzählungen z.B. bei einer Lovestory immer Zeit vergangen sein MUSS, weil wer will nach einer Woche schon für den Geliebten sein Leben hergeben (übertrieben gesagt). Das finde ich etwas weit hergeholt. Das mag es geben, aber das muss dann schon gut erzählt sein. Sonst habe ich immer Angst, dass es beim Leser unrealistisch erscheint  :seufz:
Glück ist, wenn die Katastrophen in meinem Leben endlich mal eine Pause einlegen :-)

cryphos

#18
Wie Arulen bereits sagte, es kommt darauf an.  ;D
Als Leser möchte ich schon wissen, wie viel Zeit verstrichen ist, wenn es wichtig ist.


Bei GoT nervt es mich, dass ich oft nicht weiß wann welcher Handlungsrahmen spielt. Was läuft parallel und was sequentiell ab. Oft ist das hier sehr undurchsichtig. Auch ob zwischen zwei Handlungen wenige Tage oder Wochen verstrichen sind, ist oft nicht ersichtlich. Wie lange benötigt Arya eigentlich um von Königsmund nach Bravos zu kommen? Und wie lange braucht Bran von Winterfell zur Höhle im Norden? Wie lange geht Robs Krieg gegen die Lannisters? Was passiert während Arya nach Bravos pilgert?

Wo ich auch gerne immer mal wieder Zeitangaben hätte ist in zeitkritischen Dingen, z.B. das Entschärfen einer Bombe mit Zeitzünder...

Dagegen finde ich es nervig wenn ein Schwertkampfduell stattfindet und man ständig daran erinnert wird, dass erst 10 Sekunden um sind, jetzt 12 und jetzt 30 ... und nach 5 Minuten ist der Spuk um. Da hätte es gereicht die Zeitinfo einmalig nach Ende des Kampfes einfließen zu lassen.

Beim kleinen Hobbit erfährt man ganz am Ende, dass ein Jahr um ist, dazwischen gibt es nur spärliche Zeitangaben. Da fand ich es gut gelöst.

Dämmerungshexe

Ich finde Jahreszeiten immer einen guten Indikator. Entweder als knappes "Es war Winter geworden." oder etwas szenischer dargestellt: "Die Blätter begannen gerade sich rot zu färben.", "Sie trafen immer wieder auf große Rotten von Schnabeltieren, die für ihren baldigen Winterschlaf nach Osten zogen." o.ä.

Besonders wenn man mehrere Handlungsstränge miteinander verflicht ist es für mich wichtig zu wissen, wie die einzelnen Plotpunkte zeitlich zueinander stehen. Ich merke es selbst gerade, dass ich ab und an chronologisch zurück springen muss, weil sich einfach gewisse Dinge gleichzeitig abspielen, ich sie aber wegen dem Spannungsaufbau nacheinander bringen muss.

In meinem derzeitigen Projekt nutze ich auch gerne mal die Mondphasen als Indikator - wenn zwei Leute in unterschiedlichen Handlungssträngen jeweils einen Vollmond sehen, darf man davon ausgehen, dass die beiden Szenen in der gleichen Nacht spielen. Auch der Übergang von einem Vollmond zu einem Neumond ist eine gute Zeiteinteilung, die sich textlich schön umsetzen lässt. Schwierig wird es in dem Fall nur dann, wenn man nicht die typischen Tages- Wochen und Monatslängen hat, sondern auf Grund des Settings andere Vorgaben. Das muss man dem Leser dann auch erstmal erklären bzw. ihm auch immer wieder in Erinnerung rufen.

Wie die meisten hier schon gesagt haben, kommt es auch stark auf die Geschichte selbst an, ob diese genauen Definitionen wichtig bzw. handlunsgrelevant sind. Manchmal möchte man als Autor ja ein gefühl der Zeitlosigkeit schaffen, oder eine Spannung aufbauen, in der der Leser jede Sekunde fieberhaft mitzählt.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Fianna

Zitat von: Antonia am 16. Februar 2017, 10:51:30
Dazu frage ich mich immer, da es sich um einen Zeitraum handelt, in dem geschichtlich ziemlich was los war, ob ich ganz kleine zusammengefasste historische Fakten an den Anfang meiner Kapitel schreiben soll, um dem geschichtlich interessierten Leser noch mal vor Augen zu führen, was sich in der Zeit - auch in meinem Zeitsprung, abgespielt hat. Also nicht seitenlang, sondern in kursiv nur ein kurzer Abriss.  Das würde die zeitliche Zuordnung auch schön darstellen.
Schreibst du denn im Stil einer Chronik, ist Dein Protagonist Chronist oder führt besondere Ereignisse in einer Familienbibel auf?
Wenn nicht, dann halte ich das für einen zu großen Stilbruch. Ich lese sehr gerne historische Romane, auch trockene und faktenbeladene. Aber das fände ich dann doch zu irritierend und aus dem Lesefluß reißend. Man kann diese wichtigen Ereignisse doch auch im Text darstellen. Diese Ereignisse haben doch Deine Figuren beeinflusst, Überzeugungen ins Wanken gebracht, Konflikte geschürt, Koalitionen gebildet oder sonstwas. Beim Ausspielen dieser Konflikte kannst Du als Hintergrund für neue Parteienbildung oder einen Umschwung von positiv eingestellt zu verbittert oder so diese Ereignisse einflechten. Wenn eine andere Person ganz anders auf diese Ereignisse reagiert hat oder einen anderen Blickwinkel hat, kann man das auch in eine vernünftige Unterhaltung bringen (kein "You know, Bob").

Oh, eine Ausnahme: bei einer besonderen Erzählstimme fände ich das nicht schlimm. Lindsey Davis lässt ihren römischen Falco die geschichtlichen Hintergründe oft sehr zynisch oder vereinfacht kommentieren (nicht immer historisch korrekt oder differenziert, aber man merkt, dass er als ein paar Jahrzehnte zu spät geborener Republikaner einfach eine sehr voreingenommene negative Einstellung hat).
Bei entsprechend starker Hauptfigur (eine zentrale Figur) mit entsprechendem Sprachduktus könnte ich mir das auch am Anfang vorstellen.
Wenn dagegen mehrere Erzählperspektiven gleichermaßen vertreten sind und keine davon eine Art chronikschreibenden Zug hat, fände ich es sehr irritierend, so eine Zusammenfassung am Kapitelanfang zu lesen.

Antonia Assmann

Zitat von: Fianna am 17. Februar 2017, 13:21:04
Schreibst du denn im Stil einer Chronik, ist Dein Protagonist Chronist oder führt besondere Ereignisse in einer Familienbibel auf?
Wenn nicht, dann halte ich das für einen zu großen Stilbruch. Ich lese sehr gerne historische Romane, auch trockene und faktenbeladene. Aber das fände ich dann doch zu irritierend und aus dem Lesefluß reißend. Man kann diese wichtigen Ereignisse doch auch im Text darstellen. Diese Ereignisse haben doch Deine Figuren beeinflusst, Überzeugungen ins Wanken gebracht, Konflikte geschürt, Koalitionen gebildet oder sonstwas. Beim Ausspielen dieser Konflikte kannst Du als Hintergrund für neue Parteienbildung oder einen Umschwung von positiv eingestellt zu verbittert oder so diese Ereignisse einflechten. Wenn eine andere Person ganz anders auf diese Ereignisse reagiert hat oder einen anderen Blickwinkel hat, kann man das auch in eine vernünftige Unterhaltung bringen (kein "You know, Bob").

Danke für die Anmerkung, Fianna! Ich habe es auch noch nicht geschrieben, sondern nur darüber nachgedacht, ob das eine Möglichkeit wäre, die zeitliche Einteilung genauer hinzubekommen ... Ich finde es nämlich auch schwierig, wenn einer meiner Figuren, die sich in der Zeit aufzuhalten, einen Kommentar zur politischen Lage sagt, den ein nicht bewanderter Leser vielleicht überhaupt nicht versteht. Wenn ich dann Verweise lege, finde ich das wiederum als Leser nervig ... Allerdings sind die Personen zwar aus der Zeit, haben aber mit der Politik nicht eng was zu tun, außer natürlich, dass die Auswirkungen die ganze Bevölkerung trifft.
Dann werde ich mir mal zeitlich noch was anderes ausdenken ... Also die Daten habe ich als Kapitelüberschriften sowieso ...

Fianna

#22
Ich habe dasselbe "Problem", dass ich sehr viele und komplexe Sachverhalte irgendwie einspinnen muss. Bei mir sind das allgemeine Hintergründe, durch Schauplatz- und Milieu-Wechsel habe ich aber auch für den Leser immer etappenweise eine grosse Menge unbekannter Informationen.
Ich versuche mich zu begrenzen und mache den Verständnis-Test, andere Sachen möchte ich aber als Hintergrund einschmuggeln. Über Konflikte etc, deswegen fällt es mir schwer den Umfang zu schätzen. Diese Art der Informationsvermittlung bläht die Seitenanzahl auf.

(Wieso haben wir noch keine historische-Setting-Fakten-Schmuggel-Plotgruppe? ;D )


EDIT: Mein Protagonist ist Waliser. Die walisisch-englische Situation ("gesellschaftliches Gefälle", Ansehen) wollte ich z.b. durch anti-walisische Witze einführen. Das wäre sicher die unaufdringlichste Methode. Die waren damals auch beim englischen Adel verbreitet. Leider habe ich nur ein kompliziertes Beispiel gefunden, vermutlich muss ich mir also selbst welche ausdenken.

Vic

Da ich zu den Leuten gehöre die immer den gleichen Fehler begehen - nämlich nach 40.000 Wörtern merken, dass alles an zwei Tagen spielt weil die Charas dazwischen nur einmal schlafen gegangen sind  ::) - bin ich ein großer Fan davon, wenn in Geschichten Zeit vergeht.
Ich finde es reicht an einigen zu Stellen sowas zu schreiben wie "auch nach Wochen der Suche waren sie noch nicht fündig geworden" oder "der drückende Sommer wurde abgelöst von einem stürmischen Herbst" oder "sie verbrachten den Rest des Winters mit Warten und Hoffen" etc.
Also ich finde es immer schön wenn Zeit vergeht, a.) weil viele Fähigkeiten oder Erkenntnisse die ein Chara erlangen soll seine Zeit brauchen und b.) weil es ja auch realistisch ist. In einer Fantasywelt dauert allein schon eine Reise von  A nach B häufig viele Wochen, also vergeht da natürlich auch Zeit. Und damit sich das plausibel anfühlt, würde ich das auch erwähnen.
Man muss nicht jeden wachen Moment der Protagonisten ausführlich beschreiben, ich denke bei vielen Sachen kann man auch skippen.

wortglauberin

#24
Aber genau das Problem kenne ich auch, @Vic. Vor allem, wenn man character- driven schreibt, ist das glaube ich häufig das Problem- weil in zwei Tagen eben so viel innerhalb der Figuren passiert, aber das alleine noch keine Geschichte trägt, beziehungsweise eine Geschichte, die sich in diesem Schreibstil über Wochen hinzieht, eben ein echter Wälzer wird. Die Alternative, alles im Zeitraffer zu beschreiben, ist ja aber auch nicht das Wahre...
Ich habe da für mich noch nicht wirklich eine Lösung gefunden, das auszubalancieren, also wenn jemand Tipps hat, nur her damit  ;)

der Rabe

Zitat von: Vic am 12. April 2017, 13:27:01
Man muss nicht jeden wachen Moment der Protagonisten ausführlich beschreiben, ich denke bei vielen Sachen kann man auch skippen.

Das ist ein Fehler, den ich besonders am Anfang ausführlich gemacht habe. Meistens stockte meine Geschichte nach wasweißich ja, 40k Wörtern, weil mir nichts mehr einfiel, womit ich die nächsten fünfzig Tage füllen sollte. Sonst hätte sich alles endlos wiederholt  und wäre langweilig geworden. Das war ein Prozess, den ich sehr schwierig fand zu überwinden. Aber immerhin ist mir irgendwann aufgefallen, dass es tatsächlich notwendig ist, Zeitsprünge zu machen, auch weil man nicht jeden Gang zum Klo, jede Mahlzeit und jedes Kratzen oder Schweigen aufschreiben kann. Meine Lösung war, ein paar meiner Lieblingsbücher danach zu scannen, wie es dieAutorin/derAutor gemacht hatte. Das hat mir ziemlich geholfen, ein erstes Gespür dafür zu bekommen, wie und wo man die Zeitsprünge einsetzen kann. (wie weiter oben schon erwähnt, Reisen zusammenfassen, Entwicklungen beim Lernen oder Training mit den Jahreszeiten zusammenfassen und dann wieder einsetzen, wenn etwa eine Prüfung ansteht oder ein anderes größeres Ereignis ansteht. Bzw. nach Gelegenheiten suchen, ein solches einzufügen.

Perfekt bin ich bestimmt nicht darin, aber es war ein Anfang. :)
Bist du erst unten im Tal angekommen, geht es nur noch bergauf. (C) :rabe:

Trippelschritt

In einem Roman ist die Zeit und deren Ablauf ein zentrales Strukturelement, das der Autor beherrschen muss. Das gilt vor allem dann, wenn Figuren in der Geschichte altern. Der Autor ist also klug beraten, wenn er die objektive Zeitlinie niemals aus den Augen verliert. Aber die objektiv verstrichene Zeit ist nicht die Zeit der Geschichte. Dort wird sie gedehnt, gestrafft, Zeitabschnitte übersprungen, Zeitlinienen gekreuzt, oft wird auch in der Zeit vorwärts und rückwärts hin und her gesprungen. Es ist alles erlaubt, was der Geschichte dient. Handwerklich ist es nicht immer einfach, denn der Leser sollte der Handlung folgen können. Und nicht vergessen: Der Umgang mit der Zeit ist ein wichtiges Spannungselement.

Liebe Grüße
Trippelschritt