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Aus der Sicht aus...

Begonnen von Mrs.Finster, 27. März 2017, 21:07:28

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Mrs.Finster

Hallo,

eine Sache, die mich schon lange beschäftigt, ist die Fähigkeit realistisch oder nennen wir es "gefühlsecht", aus der Sicht einer Person oder z.B. eines Fantasywesens zu erzählen. Dabei frage ich mich immer: Woher nehmen wir eigentlich die Erkenntnis, dass sich die Dinge so anfühlen bzw. die Dinge so sind, wie wir sie beschreiben?

Letztens habe ich eine Szene beschrieben, in der meine Protagonistin einen Rückfall erlitten hat. (Alkohol) Dabei weiß ich doch eigentlich gar nicht, wie sich das anfühlt. Und plötzlich war ich unsicher. Sicherlich kann ich nachlesen, was da im Körper passiert, aber so wirklich "fühlen" ist das ja nicht. Oder wenn mein Prota über den Himmel fliegt...ich bin weder Fallschirm gesprungen, noch habe ich eine Bungee Jump gemacht  ;D

Wie haltet ihr es damit? Erfahrungsberichte lesen, nüchterne Fakten oder einfach frei heraus?

Super interessant finde ich auch Autoren, die aus der Sicht eines Massenmörders erzählen. Das könnte ich nicht. Wobei das wurde hier doch bestimmt schon irgendwo diskutiert.  ;D
Glück ist, wenn die Katastrophen in meinem Leben endlich mal eine Pause einlegen :-)

Denamio

Es gibt das berühmte Bild von René Magritte. Darauf ist eine Pfeife zu sehen und unten drunter steht: "Ceci n'est pas une pipe (Dies ist keine Pfeife)". Und er hat Recht damit. Es ist "lediglich" ein Abbild der Pfeife. Ähnlich steht es mit dem Schreiben. Wir schaffen ein Bild von einer Sache, aber dies ist nicht die Sache selbst.

Wenn wir schreiben, dann setzen wir tausend kleine Referenzpunkte und diese Punkte verbinden sich im Kopf der Leser mit deren eigenen Erfahrungen zu einem Eindruck. Selbst wenn wir also das Bungeejumping nie erfahren haben, so können wir uns doch vorstellen wie da ein Gefühl von Schwerelosigkeit besteht, wie man erst einmal desorientiert ist und wie sich der Wind anfühlt.

Diese Referenzpunkte bringen wir in den Text. Bei uns lösen sie ein bestimmtes Gefühl aus. Vielleicht sind wir vom 10 Meter Brett gesprungen und haben deshalb eine grobe Idee wie sich das anfühlt. Ein Leser ist noch nie wo runtergesprungen - aber hat schonmal den Kopf aus dem Auto gesteckt und den Wind um die Nase gespürt. Und eine dritte Person hat weder noch, kennt aber das Gefühl starken Windes um die Nase.
Alle diese Personen verknüpfen die Referenzpunkte mit eigenen Eindrücken und bilden sich ein eigenes subjektives Bild der Szene. Die Details davon kannst du nicht wirklich kontrollieren, aber das macht es umso stärker. Wie das Monster was solange spannend ist, bis man es gesehen hat. Dann will man nur noch eine Schrotflinte.

Natürlich macht es Sinn sich gerade bei Krankheiten genau zu informieren. Besonders wenn man diese zu leicht nimmt, läuft man in böse Fallen rein. Also Krankheiten und Leid mit dem nötigen Respekt behandeln. Aber: Man muss nicht jedes Detail genau richtig hinbekommen, sondern geschickt andeuten. Empathie erledigt den Rest.

traumfängerin

Beim Schreiben erschaffen wir eine ganz eigene Welt. Dafür sind nicht nur Fakten unabdingbar, sondern auch Gefühle. Schließlich möchte man ja, dass der Leser in die Geschichte eintaucht, dass er mitfühlt, mitleidet und sich mitfreut. Fakten alleine helfen da nicht weiter. Authentische Gefühle darzustellen ist aber verdammt schwierig. Denn das Spannende daran ist, dass uns teilweise sogar unsere eigenen Erfahrungen nicht weiterhelfen.

Jeder Mensch ist ein Individuum. Das ist gut so, und stellt uns zugleich beim Schreiben vor riesengroße Probleme. Frag zehn schwangere Frauen danach, wie es sich angefühlt hat, als sich ihr Kind das erste Mal in ihnen bewegt hat. Jede wird anders davon erzählen. Weil jede es anders erlebt hat. Das heißt, um eine Geschichte mit Gefühlen anzureichen, genügt es nicht zu wissen, wie ich z.B. einen Bungeesprung erlebt habe, sondern ich muss mir vorstellen können, wie meine Figur diesen Sprung erlebt hätte. Einiges davon wird ähnlich sein, anderes jedoch wird meine Figur ganz anders erleben als ich.

Wenn ich, wie in deinem Fall, beschreiben würde, dass meine Figur einen Rückfall erleiden würde, würde ich vermutlich zunächst versuchen herauszufinden, was aus medizinischer Sicht körperliche Reaktionen eines Rückfalls sind. Dann würde ich mir Erfahrungsberichte durchlesen, damit ich verstehe, wie andere Menschen einen solchen Rückfall erlebt haben, würde versuchen herauszufinden, ob es einige Erfahrungen gibt, die sich überschneiden, und andere, die eher individueller sind. Ich würde mich fragen, was die Botschaft meines Buches sein soll, und ob es für diese Botschaft sinnvoll ist, eine extreme Reaktion darzustellen, oder ob ich eine eher gemäßigtere Reaktion darstellen möchte. Und ich würde mich fragen, welche Reaktion zum Charakter meiner Figur passt. Ich würde mir ihren Weg bis hierhin in diesem Buch ansehen und würde mir überlegen, welche Gefühle ihr Rückfall bei ihr auslöst: Erleichterung? Scham? Resignation? Dafür würden mir die Erfahrungsberichte eine Inspiration sein, aber wie gesagt, es muss nicht nur authentisch sein, sondern auch zur Figur passen. Tja, und dann muss man alles nur noch so zusammensetzen, dass weder zu viele noch zu wenige Fakten genannt werden, dass körperliche Reaktionen und Gefühle zusammenpassen, dass es so nah an den Erfahrungsberichten dran ist, dass es echt sein könnte und dennoch die ganz persönliche Erfahrung deiner Figur ist, die alleine sie auf diese Art und Weise machen kann und niemand sonst.

Und deshalb ist Schreiben so verflucht viel Arbeit - und macht gleichzeitig so unheimlich viel Spaß. Denn wenn ich eine solche Szene dann nach langer Arbeit geschrieben habe, fühlt sich das verdammt gut an.  :)

Faye

Wenn man ein Buch schreibt, hat man sich vorher mit dem Thema, mit dem sich die Geschichte auseinander setzt ebenfalls beschäftigt. Das Thema ist einem also nicht völlig fremd, man hat eine Ahnung wie dich die Charaktere in der einen oder anderen Situation fühlen könnten. Und diese Gefühle und Gedanken versuchen wir eben so gut es geht rüberzubringen. Wenn jemand einen Roman kauft, will er keine sachlichen Fakten hören und auch keine detaillierten Erfahrungsberichte. Er möchte eine Geschichte lesen, die in mitreißt, die spannend ist und er will sich in die Charaktere hineinversetzten. Dafür ist es einfach wichtig sich die Gefühle vorstellen zu können, ohne sie selber je erlebt zu haben. Da finde ich Denamios Beispiele sehr schön. Solange man sich selbst die Gefühle vorstellen kann, wird der Leser es durch deine Beschreibungen auch können.
In deinem Fall hast du wahrscheinlich Erfahrungsberichte gelesen, was bei diesem Thema meiner Meinung nach sinnvoll ist. Bei solchen Themen, die wirklich sehr viel in einem Menschen verändern ist es unmöglich einfach frei heraus zu schreiben, da man einfach zu viel falsch verstehen könnte, da man nie etwas ähnliches erlebt hat und sich so etwas schwierig vorstellen kann. Ein Rückfall ist schließlich etwas anderes als ein Fallschirmsprung, bei dem die Gefühle einfacher nachvollziehbar sind.
Aber wenn du dir dann noch unsicher bist, ob du etwas richtig beschrieben hast, würde ich an deiner Stelle jemanden als Beta-Leser suchen, der sich wenigstens annähernd mit dem Thema auskennt und dir weiterhelfen kann.

Trippelschritt

Du musst nichts wissen, nur glauben, es zu wissen (fühlen, spüren etc.) und in der Lage sein, es in die richtigen Worte zu packen. Es ist in der Tat eine Fähigkeit und es ist beinahe auch schon alles. Das "beinahe" bezieht sich darauf, dass es helfen kann zu recherchieren oder einige Erfahrungen anzuprobieren. Wer wissen will, wie sich Hunger anfühlt, kann es mal mit Fasten probieren und den Rest extrapolieren.
Es ist klar, dass Fehler passieren können, aber meistens sind die Fachleute rar gesät und Fehler fallen nicht auf. Wenn man Konzepte für etwas hat, geht es meistens gut aus. Wie viele Helden sind bereits in Geschichten gestorben, wie viel ist darüber geschrieben worden und wie viele Nahtoderfahrungen stehen dem gegenüber.

Liebe Grüße
Trippelschritt

HauntingWitch

Ich sehe das wie Denamio. Denk nur mal an Method Acting (https://de.wikipedia.org/wiki/Method_Acting). Das ist eine Schauspieltechnik, bei der der Schauspieler auf eigene Erinnerungen/Erfahrungen zurückgreift, um bestimmte Gefühle darzustellen. Die können ja auch unmöglich alles, was sie spielen müssen, genau so erlebt haben. Und einigen von ihnen wird nachgesagt, die glaubwürdigsten Darstellungen ihrer Zunft überhaupt abzuliefern. ;) Ich glaube, als Autor sollte man es ähnlich halten und das nehmen, was man zur Verfügung hat. Wir schreiben ja auch über Mörder, Ärzte, Gerichtsmediziner, über Menschen, die eine Leiche finden... Woher wissen wir, wie sich diese Dinge sich tatsächlich anfühlen? Wir wissen es nicht, aber wir stellen es uns vor und hoffen, eine glaubhafte Darstellung hinzubekommen.

In deinem speziellen Fall @Mrs.Finster halte ich das Lesen von Erfahrungsberichten ebenfalls für sinnvoll. Plus ich würde etwas über noch nicht trockene Leute herausfinden, um ein grösseres Gesamtbild zu bekommen. Das macht es einfacher, so einen Rückfall nachzuvollziehen, denke ich. Es trifft sich, dass ich gerade an etwas ähnlichem arbeite (eine Hauptfigur in meinem einen Projekt ist ebenfalls eine trockene Alkoholikerin) und da sind durchaus solche Szenen geplant. Ich bilde mir ein, mittlerweile nicht schlecht ausgerüstet zu sein, aber mir fehlt auch noch etwas Recherche. Wenn du magst, können wir uns auch gerne per PM weiter austauschen.

canis lupus niger

#6
Hab mich vor einer Weile mal an einer Novelle über die Erstbegegnung eines jungen Ork mit Menschen versucht, aus Sicht des Ork geschrieben. Ein bisschen Selbstkritik an der Menschheit, ein  bisschen Hintergrund über die Historie des Settings, ein bisschen Einfühlungsvermögen in die Sichtweise des Perspektivträgers und ganz viel Phantasie haben das zu einem unterhaltsamen Experiment gemacht.   ;D

Die Geschichte ist sogar in einer Anthologie veröffentlicht. Ich meine, es macht doch die Fantasy-Literatur aus, das zu erschaffen, was nicht real vorhanden ist, was nicht jeder andere sehen kann. Hat irgendwie was göttliches ...

Aber man muss auch im Auge behalten, dass der Leser die Darstellungen des Autors nachvollziehen können soll, also muss man ihm Bezugspunkte aus einer allgemein zugänglichen Erfahrungswelt bieten, idealerweise der eigenen, weil man die besonders gut kennt.

Mrs.Finster

Danke für eure Antworten  :)

@ Denamio: Ein wirklich sehr schönes und vor allem passendes Beispiel mit der Pfeife.

@ Witch: Sehr gerne.  ;)
Glück ist, wenn die Katastrophen in meinem Leben endlich mal eine Pause einlegen :-)