• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Charakterentwicklung in Kurzgeschichten

Begonnen von Sturmbluth, 28. Juli 2016, 12:36:26

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Sturmbluth

Hallo zusammen,

bei Romanen ist es üblich, dass die Hauptfiguren eine charakterliche Entwicklung im Laufe der Geschichte durchmachen. Sie wachsen oder zerbrechen an einem Konflikt.

Soweit so gut. Das scheint Konsens unter Autoren und Erwartungshaltung von Lesern zu sein (Ausnahmen gibt es natürlich). Meine Frage nun ist, gibt es diese Konvention auch für Kurzgeschichten?

Ich frage deshalb, weil ich es schwer bis unmöglich finde, einen Charakter zu skizzieren, ihn ein Problem bewältigen zu lassen und dann auch noch eine Entwicklung durchmachen zu lassen, wenn der Umfang der Geschichte durch ihre Form begrenzt ist (ach ja, eine spannende Geschichte muss auch noch erzählt werden. Und sie muss logisch sein. Und ja nicht zu viel Tell! :) ). Vor allem, wenn man Kurzgeschichtenwettbewerbe betrachtet, bei denen der Umfang meist auf 20.000 - 25.000 Zeichen limitiert ist.


Sprotte

Ich wurde im Englischunterricht mit Hemmingway gequält. Seine Kurzgeschichten waren alle nach einem klassischen Schema (Short Story eben) aufgebaut: Held wird gezeigt, es gibt BÄMM das einschneidende Erlebnis, das den Helden unwiderruflich verändert.
Im deutschen Erzählraum sind Kurzgeschichten eher kleine Geschichten, die sich nicht an dieses Schema mit dem einschneidenden Erlebnis halten.
Aber grundsätzlich: Geht.

Churke

Zitat von: Sturmbluth am 28. Juli 2016, 12:36:26
Soweit so gut. Das scheint Konsens unter Autoren und Erwartungshaltung von Lesern zu sein (Ausnahmen gibt es natürlich). Meine Frage nun ist, gibt es diese Konvention auch für Kurzgeschichten?

Der Gag bei Kurzgeschichten ist, dass die Figuren keine Entwicklung durchmachen. Auf Englisch nennt man sie "flat characters", im Gegensatz zu den "round characters" des Romans.
Wenn du das schwer bis unmöglich findest, liegst du instinktiv richtig.  ;)

Dass man das natürlich auch anders machen kann, steht auf einem anderen Blatt.

Tintenteufel

Ich hab Kurzgeschichten auch so gelernt, wie Sprotte.
Für mich ist "der Gag" bei Kurzgeschichten auch nicht, einfach nur ein Ereignis zu beschreiben. In Kurzgeschichten gibt es Entwicklung, die ist nur nicht so stark kontextualisiert wie im Roman und auch nicht so lang. Aber das Hauptereignis, finde ich. Die ist kurz, prägnant und auf den Punkt gebracht, wohingegen man bei Romane öfter mal Abschweifungen diverser Art findet.
Der Protagonist einer Kurzgeschichte steht unmittelbar vor einem einschneidenden Erlebnis oder einer Entscheidung, die ihn verändern wird. Flach ist der Charakter dabei nicht, weil er keine Entwicklung durch macht, sondern weil es nur und ausschließlich diese eine Entwicklung gibt. Keinen großen Kontext dazu, keine langen Folgen, Analysen und Vorbereitungen. Eine Kurzgeschichte geht (meist) direkt auf den Kern der Sache zu und ein Roman staffiert noch etwas mehr aus.

Lieblingsbeispiel: Dostojewskis Schuld und Sühne.
Das eine große Hauptereignis des dicken Romans ist, wie Rodion eine alte Frau erschlägt. Davor hält er sich für eine Art Übermensch, der wertlose Leben nehmen darf, um sein volles Potential zu entfalten - in diesem Fall eine alte Wucherin töten und berauben, um sein eigenes Studium zum Anwalt und großen Menschenfreund zu finanzieren. Unmittelbar nach der Tat überkommt ihn aber ein starkes Schuldgefühl und nach einiger Zeit stellt er sich schließlich.
Im Roman werden diese Schuldgefühle auf knapp 400 Seiten weiter inspiziert und analysiert, es kommen Nebenplots und Facetten zu diesem einen Hauptthema dazu - das man aber auch gut als Kurzgeschichte hätte verpacken können:
Rodion steht mit der Axt schon vor der Tür, begründet seine Tat innerlich, spricht sich Mut zu, hackt die Alte in Stücke und versteckt wie im Roman aus Angst vor der Polizei sofort seine Beute - der Leser merkt, dass er sich seiner Sache doch nicht so sicher war und die Entwicklung ist skizziert.

Angela

Ich habe das auch mal so gelesen, dass eher keine Entwicklung der Hauptfigur stattfindet, aber das kommt doch ganz auf die Art der Geschichte an, finde ich. Schreibe ich handlungsorientiert oder soll es eine Charakterdarstellung und -veränderung einer Person durch ein einschneidendes Erlebnis werden. Ich selbst konzentriere mich in der Regel eher auf Handlung. Durch die Geschichte erklärt sich der Jetztzustand der Hauptpersonen, was ja durchaus auch ganz schön verworren/überraschend sein kann. Ich spiele da gern mit sehr unterschiedlicher Außenwahrnehmung und Innenzustand.

Sturmbluth

Hey, es steht 2:2 (mit Entwicklung / ohne Entwicklung)  :D

Dämmerungshexe

Ich denke schon dass es eine Entwicklung gibt. Sie ist nur nicht so klar ausgearbeitet wie in einem Roman, wie Tintenteufel schon sagte. Der Autor gibt dem Leser ein paar Details, wie einen Ausschnitt aus einem Gemälde, und der Leser kann sich dann den Rest dazu ausmalen.

Wenn es keine Entwicklung geben würde, wovon handelt dann die Geschichte? Ein Ereignis im Leben des Protas, das wichtig genug ist um zu einer Geschichte gemacht zu werden, wird immer eine Entwicklung/Veränderung mit sich bringen.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Grummel

Ein großer Unterschied ist, dass in Kurzgeschichten ein Charakter eben diesen durch Handlung erhält. In Romanen geschieht das eher durch Beschreibung. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.
"Kaffee?"
"Ja, gerne."
"Wie möchtest du ihn?"
"Schütte ihn mir einfach ins Gesicht!"

Dämmerungshexe

Nein, ich fürchte ich verstehe nicht ganz, was du meinst, Grummel.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Grummel

#9
:) Okay, ich versuche es mit einem Beispiel aus einer meiner vielen Kurzgeschichten.

Da kommt ein Zwerg vor. Ein bärbeißiger, grummeliger, fieser kleiner Möpp, der sich zum Ende der Geschichte in einen warmherzigen Freund verwandelt.
In einem Roman hätte ich die "Verwandlung" immer wieder ausführlich beschrieben. Bis hin zum Aussehen und diverser Gebärden.
In meiner Kurzgeschichte beschreibe ich nicht einmal sein Aussehen. Ich erkläre auch nicht, was in ihm vorgeht.
Aber seine Handlungen;
zu Beginn der Geschichte ist er uninteressiert an den Aktivitäten seiner Kumpanen,
seine Äußerungen;
er spricht grummelig und abfällig,
beschreiben ihn ausreichend. Er ist ein Arschloch.
Im Laufe der Geschichte (ein kleines Tier, der Olm spielt eine wichtige Rolle) ändert sich seine Rolle.
Er wird hilfsbereit, er äußert sich freundlicher und zum Schluß ist er ein liebevoller kleiner Wicht.

Das ganze auf 14 Seiten. In einem Roman hätte man diese Entwicklung auch ohne eine einzige Handlung des Charakters in 30 Seiten beschrieben. Die Handlung kommt dort oben drauf.
"Kaffee?"
"Ja, gerne."
"Wie möchtest du ihn?"
"Schütte ihn mir einfach ins Gesicht!"

Fianna

#10
Ich plotte Kurzgeschichten grundsätzlich mit Konflikt & Lösung. (Eigentlich alles, was ich schreibe).
In der Regel ist es ein innerer Konflikt, bei dem der Charakter durch die Handlung (den äusseren Konflikt) zu einer Entscheidung (oder Handlungen) getrieben wird, die ihn verändern.
Manchmal habe ich auch zentraler einen äusseren Konflikt, der den Protagonisten durch seine Reaktion auf diese Ereignisse in innere Konflikte stürzt (manchmal kommen verdrängte Dinge auf, oder die Ängste/Probleme behindern ihn in der aktiven Lösung des Problems oder haben dieses hervorgerufen).
Manchmal werden diese inneren Konflikte erfolgreich gelöst, manchmal nicht, teilweise gibt es ein Unentschieden zwischen mehreren Figuren: aufgrund ihrer Erfahrungen und der Entwicklung, die sie im Laufe der Kurzgeschichte (zu Ende) mitgemacht haben, bewerten sie die Endsituation unterschiedlich. Einer positiv, einer negativ.
Oder es ist einfach eine komplett negative Endsituation, weil der Protagonist sich im Laufe der Handlung seinem Charakter entgegen verhalten hat oder seine Instinkte verleugnet (das war dann der innere Konflikte), und Sklaverei, Vernichtung, Tod sind die Quittung.
Oder alles. ;)


Ich finde, es gibt in Kurzgeschichten vielfältige Möglichkeiten, Entwicklungen eines Charakters darzustellen, die von der Handlung beeinflusst worden oder diese beeinflussen oder beides.
Man muss "nur" dabei Weltenbau und Beschreibungen klein halten, darf sich nicht in Details verlieren, muss mit wenigen Ereignissen die Figur und ihre Konflikte charakterisieren - und bei allem Schreiben, Schrauben und Kürzen immer noch den Leser abholen. Also, die Motivationen und Entscheidungen müssen beim ersten Lesen verständlich sein. Je länger man an einer Kurzgeschichte schraubt, desto mehr geht einem der Blick dafür verloren.
Aber dann findet man vielleicht ja noch einen Betaleser, der drüber guckt.

Trippelschritt

Nach meiner Kenntnis gibt es keine entsprechende Konvention. Wie sollte es auch, wenn es keine allgemeinverbindliche Aussage darüber gibt, was eine Kurzgeschichte überhaupt ist. außer eine Geschichte und nicht allzu lang. Die "short story" hatte einmal eine allgemeine Form. Heute auch nicht mehr, und die deutsche Kurzgeschichte ist nur noch in der Übersetzung eine short story. Du kannst es also halten, wie Du möchtest. In meiner liebsten Form, kleiner 10 000 Zeichen, tut sich wenig mit Charakterentwicklung, es sei denn sie ist genau das Thema. Im Kurzroman/lange Kurzgeschichte - du siehst die Eierei geht schon los - kannst du es halten wie im Roman.
Mein Vorschlag ist deshalb: orientiere Dich an Deiner Geschichte, die Du schreiben möchtest.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Lothen

Zitat von: Dämmerungshexe am 28. Juli 2016, 14:56:09Der Autor gibt dem Leser ein paar Details, wie einen Ausschnitt aus einem Gemälde, und der Leser kann sich dann den Rest dazu ausmalen.
So sehe ich das auch.

Ein Element der Kurzgeschichte kann ja auch das offene Ende sein, d.h. unter Umständen ist die Entwicklung des Charakters gar nicht mehr Teil der Geschichte, sondern wird ausgelagert. Das heißt, innerhalb der Geschichte kommt es zum Konflikt, zur Katastrophe, aber wie der Charakter das verarbeitet, wie er sich verändert, das wird höchstens angedeutet und ist der Fantasie des Lesers überlassen.

Aber wie schon einige Mal anklang, ich sehe darin keine Konvention. Das hängt von der Kurzgeschichte, ihrem Umfang und der Intention dahinter ab.

Sturmbluth

#13
Hallo Trippelschritt,

Zitat von: Trippelschritt am 28. Juli 2016, 15:41:31Die "short story" hatte einmal eine allgemeine Form. Heute auch nicht mehr, und die deutsche Kurzgeschichte ist nur noch in der Übersetzung eine short story.
Wie sah denn die allgemeine Form der "Short Story" aus?


Zitat von: Trippelschritt am 28. Juli 2016, 15:41:31In meiner liebsten Form, kleiner 10 000 Zeichen, tut sich wenig mit Charakterentwicklung, es sei denn sie ist genau das Thema.
Genau, bei der Kürze kann man gar nichts machen. Und in meiner Frage ging es ja genau darum: Kurzgeschichten mit limitierter Länge (z.B. wegen Wettbewerb) Ich bin auch der Meinung, dass man die Charakterentwicklung da höchstens am Rande andeuten kann.

Churke

Zitat von: Dämmerungshexe am 28. Juli 2016, 14:56:09
Wenn es keine Entwicklung geben würde, wovon handelt dann die Geschichte? Ein Ereignis im Leben des Protas, das wichtig genug ist um zu einer Geschichte gemacht zu werden, wird immer eine Entwicklung/Veränderung mit sich bringen.

Die Frage ist, was versteht man unter Entwicklung?
Im Roman entwickelt sich die Figur oft in ihr Gegenteil.
Vom Verfemten zum Helden, vom Volkstribun zum Tyrannen, vom Senkrechtsstarter zum Bankrotteur, vom Menschenfreund zum Zyniker.
Die KG ist eine Momentaufnahme, sie zeigt die Figur als Verfemten, als Helden, als Volkstribun, als Tyrannen ect....