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Wie der Protagonist zu sein hat

Begonnen von Jen, 22. September 2015, 20:49:14

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Jen

Aloha!

Aktuell besuche ich ein Dramaturgie-Seminar in der Uni, und obwohl es eigentlich um Protagonisten im Film geht, sehe ich doch etliche Parallelen zu geschriebenen Geschichten.
Heute haben wir einige Dinge "gelernt", die ich gleich mal in eigenen Worten aufliste. Ich möchte von euch wissen, ob ihr dem widersprecht - oder ob ihr Beispiele von Hauptfiguren habt, die atypisch sind. Oder, ob ihr etwas anzufügen habt. Einfach so, weil mir ein paar Filme eingefallen sind, bei denen es nicht so ist.  :vibes:

Der Protagonist
... steht im Fokus
... verfolgt ein Hauptziel
... trifft die Entscheidungen
... rackert sich für die Rezipenten ab
... darf beim Publikum keine emotionale Gleichgültigkeit auslösen, sonst ist er langweilig
... kann ruhig unmoralisch handeln, denn unser Interesse hängt lediglich damit zusammen, wie sehr der Protagonist sein Ziel erreichen will (Intensität)

Bei Filmen, in denen es zwei Hauptprotagonisten gibt (z.B. Bonnie und Clyde) ist die Person Hauptfigur, die entscheidet.

Wir orientieren uns übrigens an irgendeinem total wichtigen Buch für Filmmenschen, allerdings hab ich den Titel gerade nicht parat. Wir wollen ja auch ein wenig kritisch sein, hoffe das geht dann auch ohne Quellenangabe. ;)



Der Film, an den ich zuerst gedacht habe, ist Sucker Punch.
Babydoll ist zwar die Hauptfigur, aber tatsächlich wird die Geschichte von Sweet Pea erzählt. Geht das konform?
Bin gespannt!
Grüßle, Jen
Guilty feet have got no rhythm.

Fianna

#1
Hm, da muss ich direkt mal widersprechen bzw. eine Frage aufwerfen.

"The Novels of Tiger and Del" wird aus der Sicht des männlichen Schwertkämpfers erzählt. Er und seine Entwicklung stehen im Fokus der Handlung. Deswegen ist die zweite wichtige Person so rätselhaft, weil sie keine Perspektive bekommt und ihre Motive dem Protagonisten und Leser oft unklar sind.
In der amerikanischen Fantasy wird diese zweite Figur als wichtige Heroe gefeiert. Für diese Personen ist sicher die zweite Geige der "Protagonist". Nebenbei bemerkt, sie (die nicht perspektivtragende Figur) trifft in den ersten 4 Bänden die wichtigsten Entscheidungen. Ist sie also doch der Protagonist bzw. haben wir 2 gleich starke Handelnde?
Wer steht im Fokus - derjenige, dessen Entwicklung wir mitverfolgen, dessen Gefühle wir teilen und der im erzählerischen Fokus steht - oder die Person, um die der Perspektivträger kreist, weil sie ja Bestandteil seines Zieles ist und die wichtigsten handlungsbeeinflussenden Entscheidungen trifft?


Anderes Beispiel:
Wenn wir hingegen eine relativ schwache Figur haben, die Spielball der Mächte ist, die nur reagiert statt zu agieren - und deren "Entscheidung" nur an einem wichtigen Punkt der Handlung statt findet (vielleicht auch eher symbolischer Natur ist, im Sinne von "Wessen Seite unterstütze ich und sehe ich als gerechtfertigt an?") - ist das ein Protagonist? Es ist ein Perspektivträger, und den Zuschauer verbindet mit dem Perspektivträger, dass sie ahnungslos sind und Dinge herausfinden oder sich mit unbekannten Situationen arrangieren müssen - macht ihn das zum Protagonisten im Sinne der von Dir dargestellten These?


Ich finde, wie so meistens bei solchen Modellen, dass sie
a) viel zu stark vereinfacht sind
b) nicht allgemein anwendbar sind
und
c) sich an gängigen Erzähltypen orientieren, so dass ungewöhnliche, wirklich interessante Projekte (ohne dabei abseitig zu sein) schonmal nicht reinpassen - außer mit viel Biegen und Brechen (die Entscheidung zwischen Gut und Böse ist die wichtigste Entscheidung überhaupt und moralisch so wertvoll und so weiter und deshalb kann man argumentieren, dass diese Person doch "...die Entscheidungen trifft", obwohl sie eigentlich durchgängig nur reagiert).



Aber es mag durchaus viele Projekte geben, für die so etwas hilfreich und sinnvoll und eine Hilfe ist.

Zit

#2
Ich denke nicht, dass der Protagonist automatisch der Perspektivträger ist oder der, von dem die Geschichte handelt. Wikipedia sagt, dass Protagonist zusammen gesetzt ist aus der erste und ich handle, bewege, führe. Das gibt aber keine Auskunft darüber wie diese Person auftritt. Insofern würde ich die von Jen genannten Punkte anzweifeln.

In Pirates of the Caribbean ist der Mainplot/ Aufhänger die Errettung von Elizabeth Swann. Handlungstreibende Figuren sind allerdings Jack Sparrow und Hector Barbossa und nicht Liz und William Turner, die in meinen Augen sogar in erster Linie nur reagieren. Protagonisten sind also Jack und Hector. Auch im Lord of the Rings trifft Frodo nicht alle Entscheidungen oder steht im Fokus, er ist lediglich nur der Ringträger. Auch hier gibt es keinen eindeutigen Protagonisten, weil letztlich jeder seinen Teil dazu beiträgt. In Rollenspielen von Telltale Games ist das u.U. eindeutiger gelöst, einfach weil der Spieler selbst der Protagonist ist, auch wenn er z.T. verschiedene Figuren spielt.

Ein Perspektivträger, der nicht Protagonist ist, ist für mich ganz klassisch Dr. Watson. Es gibt natürlich Geschichten, in denen er mehr Entscheidungen trifft als in anderen, dennoch ist der Star der Erzählungen immer noch Sherlock Holmes und seine Intelligenz (weswegen die Perspektive ganz gut gewählt ist, da es sonst wenig spektakulär wäre, würde man Holmes Gedankengängen immer sogleich folgen können).

Andere Beispiele fallen mir gerade nicht ein, dafür ist es schon zu spät. Ich gehe morgen mal mein Filmregal durch und überlege wie es da gelöst ist. Vll. fällt mir noch ein Film auf, bei dem das Muster nicht vorkommt.

ZitatWir orientieren uns übrigens an irgendeinem total wichtigen Buch für Filmmenschen

Syd Field (Das Drehbuch) oder Robert McKee (Story)? Ansonsten fällt mir noch Lajos Egri (Dramatisches Schreiben) ein. Gelesen habe ich aber von allen dreien noch nichts, wenngleich mich Story schon reizt.
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

Dämmerungshexe

Ich denke auch als Modell und dmait Orientierungshilfe kann man das durchaus so dastehen lassen. Wenn es aber um die Umsetzung geht würde ich mich mehr von den Bedürfnissen der Geschichte und ihrer Figuren leiten lassen, als von solchen Vorgaben.

Also für mich kann ein Protagonist auch jemand sein, der vor allem reagiert - insofern er damit die Handlung mitträgt und den Rezipienten emotional anspricht und bindet. Und er muss auch nicht die Erzählperspektive innehaben. Wobei es schwer wird, wenn man diese beiden "Kriterien" miteinander mischen will. Wie gesagt: es kommt auf die Handlung und die Figuren an, ob die Geschichte am Ende so funktionieren kann.

Dass es solche Modelle und Kategoriesierungen gibt liegt glaube ich daran, dass der Mensch (oder zumindest viele Menschen) einfach einen Hang zu Analyse und Strukturiesierung hat - man will ja wissen warum etwas funktioniert (oder auch nicht). Dabei wird manchmal übersehen, dass das Rezept nicht auf alles passt und Leute, die daraus ausbrechen wollen, haben es schwer, wenn das ganze erst einmal etabliert ist. In Hollywood war es wohl eine zeitlang ziemlich schwer irgendein Drehbuch unterzubringen, das nicht die Plotpoints zum genau richtigen Zeitpunkt hatte.

PS: Lajos Egri kann ich empfehlen - klingt beim Lesen etwas "alt" aber die Ansätze sind gut nachvollziehbar und interessant.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

Trippelschritt

Zitat von: Jen am 22. September 2015, 20:49:14
Der Protagonist
... steht im Fokus
... verfolgt ein Hauptziel
... trifft die Entscheidungen
... rackert sich für die Rezipenten ab
... darf beim Publikum keine emotionale Gleichgültigkeit auslösen, sonst ist er langweilig
... kann ruhig unmoralisch handeln, denn unser Interesse hängt lediglich damit zusammen, wie sehr der Protagonist sein Ziel erreichen will (Intensität)

Diese Liste ist für mich eine Art Empfehlungsliste, an der man sich tunlichst orientieren sollte oder kann, wenn man möchte. Dass solche Listen in einigen Punkten Ausnahmen zulassen, versteht sich für mich von selbst. Gefährlich ist für mich nur die verkürzte Darstellung der Punkte. Deshalb versuche ich mich mal an einer ersten Erweiterung.
- steht im Fokus: Definitiv nein. Er ist eine der beiden wichtigsten Personen. Die andere ist der Antagonist. Und was im Fokus der Geschichte steht, entscheidet der Autor. Der Fokus kann auch die Prämisse sein oder eine Gefahr/Belohnung. Ich habe mal gelesen (Orson Scott Card???), dass die wichtigste Person die ist, über die man am meisten redet. Das ist nicht notwendigerweise der Protagonist.
- verfolgt ein Hauptziel: ja, das stimmt. Der Protagonist sollte möglichst nur ein Ziel haben, aber was heißt das schon? Andere Figuren haben auch Ziele und einige davon auch nur eines, z.B. der klassische Antagonist im Thriller, an dem der Prota wächst.
- trifft die Entscheidungen: Ja, das mögen die Leser. Selbst bei einem Antihelden sind Figuren, die nur reagieren wenig beliebt und sorgen auch nicht für Empathie. Ich habe das früher anders gesehen, habe mich aber in einem Schreibkurs sowohl von den Dozenten als auch den anderen Teilnehmern damals überzeugen lassen, zumal ich einen solchen schwachen Helden hatte, was mir nichts wie Ärger einbrachte. Ich will aber nicht behaupten, dass es nicht doch jemandem gelingen könnte diesen Typ von Prota zum Erfolg zu führen. Ich probiere es jedenfalls kein zweites Mal.
- rackert sich für den Rezipienten ab: Damit kann ich nun gar nichts anfangen. Er rackert sich für sein Hauptziel ab!
- keine emotionale Gleichgültigkeit beim Leser: Das würde ich beinahe zum Gesetz erheben. Mir fällt noch nicht einmal ein Gegenbeispiel ein. Das gilt aber auch für den personalen Antagonisten.
- kann ruhig unmoralisch handeln: Ich meine, das soll er sogar hin und wieder. Wenn er immer moralisch ist, dann ist er ein Held der alten Schule, der schnell langweilig wird. Wir möchten heute Helden wie du und ich oder beinahe wie du und ich. Menschlich halt, aber doch in irgendeiner Weise mögliche Vorbilder. Da muss er auch mal fehltreten dürfen.

Und noch was zur Stimme oder Perspektive: Hängt vom Genre ab. Ich-Perspektive lässt das Problem gar nicht erst aufkommen und eine Erzählerstimme im Hintergrund spinnt den Faden - man hat jedenfalls den Eindruck - und der Protagonist handelt. So etwas geht auch und ist in Fantasy gar nicht mal so selten. Aber man kann auch aus alten Polizeiakten vorlesen. Da ist vieles möglich.

Liebe Grüße
Trippelschritt

Guddy

Zitat von: Trippelschritt am 23. September 2015, 09:45:31

- steht im Fokus: Definitiv nein. Er ist eine der beiden wichtigsten Personen. Die andere ist der Antagonist. Und was im Fokus der Geschichte steht, entscheidet der Autor. Der Fokus kann auch die Prämisse sein oder eine Gefahr/Belohnung. Ich habe mal gelesen (Orson Scott Card???), dass die wichtigste Person die ist, über die man am meisten redet. Das ist nicht notwendigerweise der Protagonist.
Manche Geschichten brauchen und/oder haben keinen "fleischlichen" Antagonisten.
Bei Harry Potter wird (im Fandom) gefühlt am meisten über Snape geredet ;)

Lothen

#6
Ich denke, die Frage ist, wie man Protagonist definiert.

Definiert man ihn als die Person, die den Großteil der Handlung trägt und im Fokus steht, fällt der erste Punkt in der Liste ja eigentlich weg, weil es ein Zirkelschluss ist. Definiert man ihn als den Perspektivträger mit dem größten Erzählanteil, ist der dritte Punkt relativ hinfällig, weil das aus der Natur der Sache resultiert.

Wie häufig bei Forschungsergebnissen beziehen sich diese Faktoren halt auch auf den Großteil der Film/Literatur-Welt, aber eben nicht auf Einzelfälle.

Mir fällt zum Beispiel "Rennschwein Rudi Rüssel" von Uwe Timm ein, bei dem der Ich-Erzähler zwar ein Teil der Familie ist, aber nie aktiv in Erscheinung tritt, sondern immer nur beobachtend erzählt. Er greift nicht aktiv ein und trifft keine Entscheidungen. Unterhaltsam war das Buch trotzdem.

Churke

Zitat von: Jen am 22. September 2015, 20:49:14
Wir orientieren uns übrigens an irgendeinem total wichtigen Buch für Filmmenschen, allerdings hab ich den Titel gerade nicht parat. Wir wollen ja auch ein wenig kritisch sein, hoffe das geht dann auch ohne Quellenangabe. ;)

Die amerikanische Filmliteratur ist pragmatisch und vermarktungsorientiert. Da werden Schemata gelehrt, die funktionieren, und wenn man sich daran hält, bringt man den Plot automatisch voran.
Das ist mal das Erste.
Das Zweite ist, dass der Film ein ganz anderes Medium ist als das Buch. Das erscheint banal, bedeutet in der Praxis aber zum Beispiel, dass innere Ansichten und Gedanken beim Film idR nur indirekt mitgeteilt werden können. Der berühmte Erzähler aus dem Off ist ein Notbehelf, den man im Zweifel unterlassen sollte, und der niemals die Intensität eines literarischen Erzählers erreichen kann.
Was will ich damit sagen?
Nehmen wir als Beispiel mal "Der Untergang". Man könnte ein Buch über den die Vorgänge im Führerbunker ausschließlich aus der Perspektive von Rochus Misch (Hitlers Telefonist) schreiben. Aber als Film wäre ein Mann, der 90 Minuten am Telefon sitzt und manchmal Hitler vorbeilaufen sieht, ziemlich unbefriedigend. Warum? Weil der Film Mischs innere Geschichte nicht erzählen kann.

Trippelschritt

Das ist grundsätzlich richtig und ich kann dem ohne Nörgeleien zustimmen. Aber im Eingangspost wurde auch gefragt, ob das die Liste einer erzählten Geschichte einem Romanautor weiterhelfen kann. Ich meine ja, weil es grundsätzlich immer gut ist, sich über seine eigenen Figuren klar zu werden. Und auch dann, wenn man auf die Idee kommt, mal ein Drehbuch zu schreiben.

Liebe Grüße
Trippelschritt

HauntingWitch

Zitat
... steht im Fokus
... verfolgt ein Hauptziel
... darf beim Publikum keine emotionale Gleichgültigkeit auslösen, sonst ist er langweilig
... kann ruhig unmoralisch handeln, denn unser Interesse hängt lediglich damit zusammen, wie sehr der Protagonist sein Ziel erreichen will (Intensität)

Stimme zu.

Zitat... trifft die Entscheidungen
... rackert sich für die Rezipenten ab

Stimme nicht zu. Es gibt auch passive Protagonisten, die trotzdem toll sind und Anti-Helden, die sich nicht abrackern.

Grundsätzlich sehe ich es wie Lothen und Dämmerungshexe, es kommt sehr auf die Geschichte an. Dieses Schema - wie alle Schemata und Typologien - kann man meiner Ansicht nach als Orientierungshilfe verstehen und anwenden, muss man aber nicht.

Im Falle von Sucker Punch empfinde ich übrigens beide genannten Figuren als Protagonistinnen, es wird ja (rein oberflächlich) zwischen den beiden Perspektiven hin- und her gewechselt.