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Konstruktive Destruktivität - Zerstörung und Untergang zum Wohle der Geschichte?

Begonnen von Mithras, 22. Februar 2015, 19:13:50

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Mithras

Salvete! :)

Der Titel wirkt vermutlich etwas seltsam, doch ich hoffe, ihr könnt euch vorstellen, um was es geht. Die Diskussion, wie viel Düsternis eine Geschichte verträgt, hatten wir ja schon - mir geht es dabei vor allem um den Aspekt, den man am ehesten mit "Untergang" umschreiben kann, denn das ist für mich einer der heikelsten und zugleich faszinierendsten Punkte, die gute düstere Fantasyliteratur ausmachen. Untergehen kann dabei so ziemlich alles - von Inseln über Hochkulturen bis hin zur gesamten Welt -; wenn es gut gemacht ist, gibt es vermutlich nichts, das eine vergleichbar düstere Atmosphäre erzeugen kann.

Ich liebe das Gefühl, dass etwas unwiederbringlich verloren ist oder unweigerlich untergehen wird - es hinterlässt einen bittersüßen Beigeschmack, der die Atmosphäre enorm bereichern kann. Dazu muss das, was verloren gegangen ist oder noch verloren gehen wird, mit Liebe zum Detail ausgearbeitet sein - Blinde Zerstörungswut bewirkt bei mir nur das Gegenteil. Doch genau das ist mein Problem: Je mehr ich versuche, die Städt, Länder oder Völker, die ich untergehen lassen will, angemessen auszuarbeiten, desto mehr verliebe ich mich in sie. Zwei meiner Urvölker, die sich eigentlich in einem großen Krieg ausgelöscht haben sollten, habe ich nun auf entfernten Inseln oder Kontinenten angesiedelt, weil ich es nicht übers Herz gebracht habe, sie auszulöschen - dabei sind sie nur für die Vorgeschichte von Bedeutung und es macht keinen Unterschied, ob sie noch existieren oder nicht. Konsequenter war ich beim Untergang einer Insel (Atlantis lässt grüßen), der Verwüstung eines Kontinents vor über fünfhunderttausend Jahren (er ist noch bewohnbar, aber nicht für Menschen, da die Nachwirkungen der Zerstörung alle intelligenten Wesen wahnsinnig werden lässt) und der Zerstörung eines Großreiches in einer Art Dreißigjährigem Krieg, von dem sich das Land auch nach über vierhundert Jahren nicht erholt hat. Das alles ist aber eben in der Vergangenheit geschehen, doch ich habe das Gefühl, dass meine Geschichte das Gefühl von drohendem und unumgänglichem Verlust genau jetzt benötigt. Ich habe schon mehrere Szenarien durchgespielt, in denen ich die strahlenden Metropolen meiner Welt dem Erdboden gleichgemacht habe, konnte mich aber bislang zu nichts entschließen. Und herbeizwingen will ich sowas natürlich auch nicht.

Wie steht ihr zu dieser Thematik? Spielen bei euch Zerstörung und Untergang eine nennenswerte Rolle und wenn ja, wie weit seid ihr zu gehen bereit?


Viele Werke, die mich geprägt haben, greifen diese Thematik in irgendeiner Form auf. Besonders gefallen haben mir dabei die Bücher von Bernhard Hennen und R. Scott Bakker. Von letzterem stammt ein sehr interessantes Zitat:

ZitatI wanted a literate, socially intricate, and cosmopolitan world - something I could have fun destroying.

Seine Welt wird von Katastrophen heimgesucht, die menschgemacht sind. Die Motivation der Schuldigen ist denkbar simpel - es geht expliuzit um die Auslöschung der Menschheit aus purer Selbstsucht -, die Umsetzung dafür sehr konsequent. Einmal wurde die Menschheit bereits fast ausgelöscht, nachdem zuvor die Urbevölkerung des Kentinents fast völlig ausgerottet wurde, und jetzt bahnt sich eine weitere Katastrophe an. Rückblenden in die Zeit der "ersten Apokalypse" beschwören die Katastrophe in eindrucksvollen Bildern harauf, und allenthalben stößt man auf Hinterlassenschaften der einst großen Zivilisationen, die damals untergingen. Die damals entvölkerten Regionen sind bis heute unbewohnt und lassen nach zwei Jahrtausenden nur noch erahnen, wie das Leben dort einst pulsierte. Das hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Hennen wiederum hat für den Hintergrund seiner Elfenromane drei Welten erschaffen, von denen die dritte zu Beginn des Auftaktromanes bereits seit Jahrtausenden verwüstet ist und nur aus Splittern besteht, die im Nichts treiben (die so genannte Zerbrochene Welt). Der Krieg, in dem sie zerstört wurde, wirkt bis heute nach und führt letztlich dazu, dass die Menschen im Namen einer Religion einen Vernichtungskrieg gegen die Geschöpfe der Alben (Elfen, Zwerge, Trolle & Co.) führen, bis tief in deren Welt eindringen und nur noch aufgehalten werden können, indem die Welten für alle Zeiten voneinander getrennt werden. Bis dahin haben die fanatischen Gotteskrieger ganze Völker entwurzelt, Kulturen zerstört und Genozide begangen. Die Situation im Irak und in Syrien demonstriert uns stets aufs Neue, dass so etwas leider ganzund gar nicht abwegig ist.
Was besonders schmerzhaft ist: Die Entstehung der Völker, Länder oder Städte hat der Leser zum Teil über Jahrhunderte hinweg miterlebt - und nun wird alles vor seinen Augen zerstört. Dabei verzichtet Hennen auf simples Schwerz-Weiß-Denken und hebt hervor, wie sich Ignoranz und Fanatismus immer weiter hochschaukeln, bis die Fronten am Ende so verhärtet sind, dass eine friedliche Lösung aussichtslos ist. Desselbe gilt auch für den Krieg, der einst die dritte Welt in seinem Universum vernichtet hat. Aktuell widmet er sich diesem Kapitel, und da gibt es auch kein Zurück, denn es ist für die Geschichte zwingend erforderlich, dass es passieren wird. Bei mir hinterlässt das einen bitteren Beigeschmack, denn es besteht keine Hoffnung, und Machtgier und Ignoranz münden unweigerlich in einer Katastrophe, die niemand gewollt hat.

heroine

Zitat von: Mithras am 22. Februar 2015, 19:13:50
Wie steht ihr zu dieser Thematik? Spielen bei euch Zerstörung und Untergang eine nennenswerte Rolle und wenn ja, wie weit seid ihr zu gehen bereit?

Die Thematik ist für mich wichtig. Ich habe auch ein Projekt bei dem es hauptsächlich darum geht, dass eine Welt ausgelöscht und durch eine andere ersetzt wird. Es ist ein schleichender Tod, der den Leuten bewusst ist und dennoch kämpfen sie gegen Windmühlen und versuchen das Unvermeidliche aufzuhalten.

Wie weit bin ich bereit zu gehen. Soweit es nötig ist. Ich finde es selbst traurig, wenn Dinge unwiederbringlich verloren sind. Aber es gehört einfach dazu. Es ist das Vergehen und Entstehen. Bevor das Alte nicht überwunden ist, ist kein Platz für das Neue (ob es besser oder schlechter ist, sei dahin gestellt). Wichtig ist mir dabei nur, dass im Anschluss etwas da ist mit dem ich arbeiten kann. Wenn ich meine Welt zerstöre, will ich weitere Geschichten zu erzählen haben und sei es vom letzten Überlebenden. Eine komplette Auslöschung bei der bestenfalls ein paar Küchenschaben über verbranntes Land rennen ist mir zu unbefriedigend. So weit würde ich wahrscheinlich nicht gehen. Wenn die Menschheit ausgelöscht wird, dann soll doch bitte eine Nachfolgezivilisation entstehen, die ebenfalls Geschichten hat.

Tröstlich finde ich beim Schreiben, dass man immer wieder in die zerstörten Kulturen zurückgehen kann. Wenn man sie vermisst kann man noch mal in ihre Hochzeit gehen und eine Geschichte dort ansiedeln. Es stört mich nicht zu wissen, dass die Welt untergehen wird. Der Held weiß es ja nicht und möglicherweise überlebt er den erzählten Teil seiner Geschichte sogar.

In meinen Welten habe ich meistens untergegangene Kulturen über die man nicht viel weiß und ich 'forsche' auch selber gerne nach. Dass sich dabei wundervolle Dinge auftun ist ein echt schöner Moment und manchmal ist es inspirierend. Ich denke es ist wie der Heldentod. Eine liebgewonnene Figur gehen zu lassen muss manchmal einfach sein.

Churke

Vor dem Untergang: morbider Charme.
Im Untergang: Dramatik
Nach dem Untergang: Heulen und Zähneklappern

Ich sehe den größten Effekt beim Untergang als Folge menschlicher Schäche und damit objektiver Vermeidbarkeit. Doch die handelnden Figuren sehen das nicht oder verfolgen andere Pläne. Wie weit bin ich bereit zu gehen? Das hängt vom Plot und davon ab, ob ich die Welt noch brauche.

Ich überarbeite gerade einen historischen F-Roman, der sich an Ammianus Marcellinus anlehnt und im 4. Jahrhundert spielt. Es ist, genau wie bei Ammian, alles korrupt, kriminell, despotisch und dekadent. Der Leser kann die Anzeichen des Verfalls deuten, er weiß, was geschehen wird, und das verleiht der Sache eine ganz eigene Stimmung und Intensität.

Fafharad

Ein wichtiges Thema. Mir fiel spontan Stephen Kings Arbeit an "The Stand" ein, über die er in "Das Leben und das Schreiben" berichtet. Auch wenn er keine Eigenschöpfung, sondern die menschliche Zivilisation auslöscht. Die zerstörte Welt ist nicht nur Setting, sondern durch die Schilderung des Zerstörungsprozesses ein Bestandteil der Geschichte.
Interessant wird es aber in der Mitte des Romans: King kam mit der Handlung nicht weiter, weil er zuviel Personal angehäuft hatte, wie er sinngemäß schrieb. Die Lösung war, eine Bombe hochgehen zu lassen und so die überlebenden Protagonisten, die sich zuvor gemütlich eingerichtet hatten, wieder unter Zugzwang zu setzen.
Das verstehe ich wortwörtlich unter "Zerstörung und Untergang zum Wohle der Geschichte"  ;).

Einer in Stein gemeißelten Welt, in der Reiche und Zivilisationen über Jahrtausende bestehen, fehlt etwas, finde ich. Der Zerstörung und der Erneuerung unter anderen Vorzeichen wohnt dagegen eine gewisse Ästhetik inne (gilt natürlich nur für fiktive Welten!).
Dabei wäre es für mich bedeutungslos, ob eine untergegangene Zivilisation doch irgendwo überdauert hat, solange sich ihre architektonischen oder geistigen Hinterlassenschaften in der Handlungsgegenwart zu einem stimmigen Gesamtbild verdichten (Wie z.B. die Dwemer in den Elder Scrolls).

Ich wage sogar mal die These, dass der Kataklysmus für die High Fantasy eine obligatorische Zutat ist. Mir fällt jetzt keine Fantasywelt ein, in der es nicht irgendwo eine gewaltsame Zäsur in der Geschichtsschreibung gegeben hätte oder in der sie als dominantes Handlungselement stattfindet.





Dämmerungshexe

Ich weiß jetzt nicht, ob es explizit um die Zerstörung von Welten geht - mein erster Gedanke beim Titel war auch die Dekonstruktion der Protagonisten - was natürlich auch mit der Dekonstruktion ihres gewohnten Umfeldes einhergeht. Das muss natürlich nicht immer gleich die ganze Welt beinhalten.

Bei meinem Projekt steht am Anfang der Untergang eines Königreiches - man begleitet dann die überlebenden Prinzen bei dem Versuch, das Reich zurück zu erobern und zu retten, was zu retten ist. Was natürlich bei ihnen charakterlich auch an die Suabstanz geht - der übelste seelische Dreck kommt dann nach oben.
Und als nächsten Schritt denn noch die Dekonstruktion meiner Protas im Rahmen der Gecshichte wenn all das, was bisher scheinbar der vorhersehbare Weg war, sich auflöst, dem Leser andere Sichtweisen präsentiert werden, die die Protas plötzlich in ein ganz neues Licht rücken.
Von da an geht es dann damit weiter, wie sie sich sleber wieder aus dem Dreck ziehen, neue Verbündete und Stärke finden usw. ...

Was die Zerstörung von Welten/Kulturen/Zivilisationen usw. angeht gehört das für mich zur Grundausstattung einer richtig gut ausgebauten Welt, da der Kreislauf aus Entstehen und Vergehen ja unabdingbarer Bestandteil des Lebens ist.
Natürlich ist es eine ganz eigene Dramatik, wenn man es den Protagonisten und auch den Leser hautnah miterleben lässt. Schön finde ich auch immer, wenn immer wieder Spuren der Zeit vor der Zerstörung findet - Ruinen, Schriften, Artefakte, Knochen ...
Den Sinn solcher Sachen sehe ich vor allem darin, Hoffnung zu wecken - dass egal wie schwer es für den Protagonisten auch ist, und wie schlecht es um die Welt steht, immer die Hoffnung auf einen Neubeginn besteht, auch wenn der Untergang tatsächlich nicht mehr vermeidbar ist.

In einer Kurzgeschichte habe ich das mal zum Thema gemacht, indem ich die Apokalypse als Hintergrundszenario für eine Lovestory genommen habe, deren Protas den Weltuntergang überstanden haben und deren Liebe der grundstein eines neuen Anfangs war - die Figuren an sich waren ebenfalls ausgelöscht, aber der Leser sollte wissen, dass es weitergehen wird.

Als Autor fällt es natürlich immer schwer etwas, das man in mühevoller Kleinarbeit aufgebaut hat, auch wieder zu zerstören. Ich glaube, das ist vielleicht auch kulturell bedingt - wenn ich an die Mandala-Kunst denke, bei dem die Bilder aus Sand nur dazu gemacht werden, um hinterher zerstört zu werden.
Wer Schwierigkeiten damit hat sein eigenes Werk zu vernichten, kann es ja als Basis einer neuen Geschichte hernehmen. Oder man übt tatsächlich einmal den fein säuberlichen Aufbau einer wunderbaren Welt, rein zu Zerstörungszwecken. Könnte tatsächlich als Meditation betrachtet werden.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques