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Informationsvermittlung mit Verzögerung - zumutbar für den Leser?

Begonnen von Coppelia, 05. Januar 2014, 09:01:48

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Coppelia

Ich müsste mal eure Meinung hören.

In meinem Romanprojekt geht es ja viel um die Auswirkungen politischer Ereignisse vor vielen Jahren auf die Gegenwart und auch auf die Politik der Gegenwart in einem antiken Stadtstaat.

Der Roman fängt damit an, dass ein Feldherr, der auch Perspektive hat, von der Regierung unfair behandelt wird. Die Regierung hat einen bestimmten Grund für diese unfaire Behandlung, aber dieser Grund wird im Prolog nicht genannt. Der Feldherr und alle Beteiligten kennen ihn allerdings genau (was auch der Grund sein dürfte, warum ich ihn nicht ausführlich erklärt habe). Es folgt mein zweiter Erzählstrang, und dann erst kommt ein Kapitel, wieder aus der Perspektive des Feldherrn, das die Ereignisse der Vergangenheit aufdeckt, die zu der aktuellen unfairen Behandlung geführt haben.

Meine Frage ist: Ist so etwas eurer Meinung nach zulässig? Ich lasse den Leser ja bewusst im Unklaren darüber, warum der Feldherr so unfair behandelt wird. Der Leser muss sich diese Frage stellen, aber sie wird zunächst nicht beantwortet. Er erfährt die Antwort erst, wenn er ein Stück weitergelesen hat. Aber erinnert er sich dann an diese Frage überhaupt noch? Und wird es ihn nicht ärgern, wenn er nicht sofort genau versteht, warum diese Dinge genau so vor sich gehen? Ist er dann überhaupt noch bereit weiterzulesen, oder ist er gleich genervt und verwirrt und meint, das Buch sei schlecht geschrieben?

Vielleicht unterschätze ich Leser. In meiner Leserunde fand ich, dass manche Leser große Probleme damit hatten, Informationen nicht sofort zu bekommen, und Zusammenhänge zu erschließen, die nicht explizit ausgeführt wurden, selbst wenn sie eigentlich offensichtlich waren. Allerdings hört man ja auch immer am ehesten die Stimmen, die meckern.

Die Zielgruppe für diesen Roman sind (leider) eher Erwachsene als Jugendliche, wenn er auch tendenziell für Jugendliche geeignet ist, es kommt halt auf ihre Interessen an.

Thaliope

Prinzipiell kann man das schon machen, finde ich.
Ob der Leser (oder die Mehrzahl in der gewünschten Zielgruppe) einem das abnehmen, hängt stark davon ab, wie es umgesetzt wird. (Klar, irgendwie ...;))

Ich denke, die Kunst besteht darin, die Geschehnisse und die ungerechte Behandlung glaubwürdig darstellen, ohne dass die Ungerecht-Handelnden als das Böse schlechthin dastehen, das keinen Grund braucht. Und vielleicht kannst du ein paar Andeutungen oder Hinweise einstreuen?
Dass man von Anfang an offene Fragen hat, die man im Verlauf des Buches beantwortet haben möchte, ist ja nichts Schlechtes, im Gegenteil. Aber es muss halt irgendwie echt und glaubwürdig und nicht konstruiert wirken.

LG
Thali


Rynn

Ich glaube auch, dass du es prinzipiell machen kannst. Ich würde aber auch dazu raten, wenigstens zu überlegen, ob du zumindest schon eine Andeutung machen kannst. Weil es für mich nach deiner Beschreibung jetzt so klingt, als ob es beim Lesen ziemlich unlogisch wäre, wenn der Protagonist wirklich gar keinen Gedanken an die Gründe verschwendet und den Leser völlig im Dunkeln lässt.

Ich mag es als Leser nämlich nicht, wenn mir Dinge ganz bewusst vom Perspektivträger vorenthalten werden, obwohl es rein geschichtslogisch Zeit wäre, es zu erklären. (Immer vorausgesetzt, der Perspektivträger ist nicht als unzuverlässiger Erzähler angelegt, das ist ja wieder ein anderes Thema.) Und wenn dein Erzähler gerade so schlecht behandelt wird und ich in seinem Kopf bin, würde ich auch erwarten, dass seine Gedanken zumindest einmal kurz zum Grund dieser Behandlung wandern. Das muss dann keine lange Erklärung sein, ein Halbsatz reicht mir da schon. Da will ich nicht schon jedes Detail hören, aber das Thema sollte wenigstens schon einmal gestreift werden. Denn wenn man so etwas einfach komplett ignoriert und ich dann später erfahre, dass der Prota das alles die ganze Zeit wusste, wirkt es auf mich oft so, als ob der Autor das nur macht, um Spannung aufzubauen. Und das finde ich als Leser dann einen recht billigen Trick und ist für mich ein Grund, ein Buch wegzulegen. ;)
»Dude, suckin' at something is the first step to being sorta good at something.« – Jake The Dog

Coppelia

Danke schon mal für die Rückmeldungen!

Andeutungen und Hinweise sollten im Text enthalten sein, eventuell kann ich noch einige mehr daraus machen. Es wird, hoffe ich jedenfalls, deutlich, dass es einen Grund gibt.

Es geht nicht darum, künstlich Spannung zu erzeugen. Es ist auch so, dass der Feldherr eher die ganze Zeit daran denkt, nur nicht explizit. Das Problem an der Sache ist: Die Hintergründe sind recht komplex. Und wenn ich den Grund für die ungerechte Behandlung kurz nenne, ist es für den Leser trotzdem zu diesem Zeitpunkt der Handlung unmöglich zu erfassen, warum das solche Folgen nach sich zieht. Es ausführlich darzustellen, wäre meiner Meinung nach fehl am Platz, weil es sehr von der aktuellen Handlung ablenken würde. Ich bin auch kein großer Freund von extrem langen Gedankenmonologen, zumal der Feldherr im Augenblick auch ganz andere Sorgen hat.
Vielleicht wäre es trotzdem ganz sinnvoll, den Grund kurz zu nennen. Allerdings wäre damit sicher der Informationsbedarf des Lesers nicht gedeckt.

Das Problem, das Thaliope anspricht, stellt sich mir auch. Die Regierung kommt hoffentlich nicht sinnlos ungerecht rüber. Ich habe mir Mühe gegeben, ein gewisses Verständnis des Feldherrn mit einzubauen. Aber wenn die Geschichte aus der Sicht desjenigen erzählt wird, der zu leiden hat, lässt sich eine gewisse Parteinahme des Lesers kaum verhindern.

Rynn

Zitat von: Coppelia am 05. Januar 2014, 09:43:20
Vielleicht wäre es trotzdem ganz sinnvoll, den Grund kurz zu nennen. Allerdings wäre damit sicher der Informationsbedarf des Lesers nicht gedeckt.
Das klingt in meinen Ohren genau richtig. Du deutest an, dass es einen Grund gibt und dass dein Prota den kennt, aber du verlierst dich nicht in ewig langen Erklärungen. Gedankenmonologe finde ich nämlich auch nicht besonders schön. ;D Leser wollen ja gar nicht alle Informationen auf einmal. Die Details erst nach und nach zu erfahren, ist sowieso viel spannender und macht, glaube ich, Leser und Autor mehr Spaß. Alles andere artet auch sehr schnell in einen langweiligen Infodump aus. Man will nur nicht hinters Licht geführt werden, indem man im Glauben gelassen wird, der Protagonist wüsste etwas nicht, nur um hinterher zu erfahren, dass er es ja doch weiß, es nur praktischerweise vergessen hat zu erwähnen. Zumindest geht es mir so. ;)
(Wie gesagt, unzuverlässige Erzähler sind hier natürlich ausgeklammert.)
»Dude, suckin' at something is the first step to being sorta good at something.« – Jake The Dog

Klecks

Vorsichtiges Andeuten finde ich auch gut. Mich als Leser ärgert es ziemlich, wenn man A sagt, aber nicht B. Dann denkt der Leser: "Hä, was soll das denn jetzt?" und legt das Buch vielleicht zur Seite.

Wenn man allerdings geschickt eine Andeutung in den Raum streut, also dem Leser schon mal das Gefühl gibt: "Achtung, hier stimmt etwas nicht, halte die Augen offen", dann ist das eine positive Art, Spannung und den Wunsch zu erzeugen, es herauszufinden - und weiterzulesen. Wenn ich an einer Stelle in einem Roman bin, an der ich etwas einfach nicht verraten kann, lege ich trotzdem kleine Ankündigungshäppchen aus, damit der Leser zumindest weiß, dass sich hier noch etwas tun wird. Meine bisherigen Betaleser dieses Projekts, in dem ich es so machen musste, haben dadurch nicht einmal wirklich bemerkt, dass ich ihnen gezielt und mit Autorenkalkül etwas vorenthalte.  ;)

Thaliope

Zitat von: Coppelia am 05. Januar 2014, 09:43:20


Das Problem, das Thaliope anspricht, stellt sich mir auch. Die Regierung kommt hoffentlich nicht sinnlos ungerecht rüber. Ich habe mir Mühe gegeben, ein gewisses Verständnis des Feldherrn mit einzubauen. Aber wenn die Geschichte aus der Sicht desjenigen erzählt wird, der zu leiden hat, lässt sich eine gewisse Parteinahme des Lesers kaum verhindern.

Was mir gerade noch dazu einfällt: Es ist ja auch gar nicht sooo abwegig bzw. unrealistisch, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen von einer Regierung unterdrückt werden, wenn man sich mal in der Geschichte und der Welt umschaut.


chaosqueen

Wichtig finde ich, dass der Protagonist in seinen Gedanken kein Infodump betreibt. Wenn ich über eine Sache Bescheid weiß, dann blitzt hier und da mal ein Gedanke daran auf, wenn sich eine Situation direkt oder indirekt darauf bezieht, aber ich denke nicht jedes Mal "die Regierung behandelt mich ungerecht, weil ich damals das Pferd des Gouverneurs geklaut habe, obwohl ich es doch dringend brauchte, um seine Tochter zu treffen, die ich heimlich heiraten wollte." Ähm, okay, das würde ICH eh nicht denken. ;D
Ich denke, du weißt, was gemeint ist. Hier und da ein "es tat weh, noch immer in Ungnade gefallen zu sein", oder "hätte er doch damals nicht das Pferd geklaut" etc. finde ich gut. Wichtig ist, dass die Figur authentisch rüberkommt. Sie darf ihre Geheimnisse haben, die nach und nach entblättert werden, aber es darf eben weder zu offensichtlich nur der Information des Lesers dienen noch darf künstliche Geheimhaltung stattfinden.

HauntingWitch

Ich denke, du unterschätzt die Leser da tatsächlich ein wenig. Das kann man durchaus so machen, es gibt ja genug Beispiele von Büchern, in denen das ganz wunderbar funktioniert. Die meisten Leser denken mit und reimen sich die Dinge mittels Andeutungen und Hinweisen selbst zusammen. Wichtig dabei finde ich, dass der Autor genug verrät, dass man eine ungefähre Vorstellung hat, was das alles überhaupt soll. Es gibt nichts Schlimmeres, als Bücher, bei denen man sich nach 50 Seiten immer noch fragt, was nun eigentlich die Geschichte sein soll.  ;) Aber in deinem Fall würde ich einfach davon ausgehen, dass da dann später noch eine Erklärung kommt. Wichtig ist, dass sie dann auch wirklich kommt.

Fianna

Wenn es so dargestellt wird, wie Chaos es vorschlug (ein Grund/Hinweis, der schon etwas erläutert, insgesamt aber für den Leser kryptisch bleibt bis zur Erklärung später) würde es mich nicht stören.
Wenn ich überhaupt aus dem Lesefluß käme und nachdenken würde über die Machart, dann empfände ich es als gelungenes Beispiel für eine Andeutungs-Konstruktion.

Coppelia

Danke noch mal für eure Rückmeldungen! :)

@ Thaliope
Die Regierung räumt Ausländern tatsächlich weniger Rechte ein. Ein zusätzliches Problem für den Feldherrn, der mit vielen ausländischen Verbündeten gekommen ist.

@ chaosqueen
Du fasst in Worte, warum ich finde, dass es nicht in die Perspektive passt, wenn er ausführlich über die Ereignisse der Vergangenheit nachdenkt. Genauso sehe ich es auch. Es ist für mich tatsächlich mehr ein Problem der Perspektive, diese Informationen unterzubringen, als dass ich sie dem Leser wirklich vorenthalten möchte.

@ die anderen
Ok, ich denke ähnlich wie ihr. Ich bin ja selbst immer ein großer Fan davon, die Leser mitdenken zu lassen, natürlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer so funktioniert, wie ich mir das vorstelle. Und dann sollte ich lieber meinen Text verändern als zu sagen "doofe Leser, wieso denken die nicht mit?" ;)

Die Betaleser müssen dann noch einmal speziell auf diese Stelle achten.

Sternenlicht

Ich persönlich finde es spannend, wenn nicht alles gleich aufgeklärt wird. Im Prolog würde ich ohnehin keine Aufklärung erwarten, das werte ich eher als Appetithäppchen  :prost:. Andeutungen sollten aber schon sein, um den Leser auf die richtige Spur zu führen und die Spannung zu erhalten.

Wenn der Feldherr im Erzählstrang nicht vorkommt, könntest du nicht trotzdem Andeutungen/Hinweise auf den Hintergrund oder sogar auf sein persönliches Schicksal einbauen? Beispielsweise in einem Gespräch, in dem sein Schicksal erwähnt wird oder auf die Gründe der Regierung Bezug genommen wird? Im zweiten Strang, würde ich dann vielleicht eine Kombination von Dialog/Monolog einsetzen.

Und wenn sich ein gewisser Infodump nicht vermeiden lässt: das scheint ja bei vielen Büchern ganz gut zu funktionieren und von den Lesern akzeptiert zu werden.

Pygmalion

Wie langweilig wäre es denn, alle Zusammenhänge direkt und ohne Pausen zu erklären? Gerade das macht ja auch einen Teil der Spannung aus, dass man Gelegenheit erhält, über Dinge nachzudenken, eigene Vermutungen anzustellen und später zu erfahren, dass es genau so ist, wie man dachte, oder völlig anders. So kommt man eventuell auch ins GEspräch mit anderen Leuten über die entsprechende Stelle und das kann dem Buch ja nur gut tun.

Solange man weiß, aha, da gibts Gründe, die sagt mir aber gerade niemand, ist alles in Bester Ordnung. Gedankenmonologe mag ich auch nicht besonders. Man kann das viel eleganter über Gespräche lösen. Zum einstimmen etwa: "Hier, Feldherr, ein Brief vom Rat, da steht drin, dass du abgestzt wirst"
"Was, warum?"
"Steht alles da drin. Bedanke dich bei DemundDem."
Feldherr überfliegt den Brief, obwohl er bereits vor Ankunft des Boten den Grund kannte...
Damit weiß jeder, es gibt Gründe, aber die erfährt man erst später DEtails erfährt.

Wir hatten diese Frage ja schonmal so ähnlich, wo es darum ging, wieviel "Welt" der Leser in den ersten Seiten eines Buches benötigt, da war der Großteil auch der Meinung, dass es eleganter ist, weiterführende Informationen Häppchenweise einzustreuen :)

Churke

Zitat von: Coppelia am 05. Januar 2014, 09:01:48
Es folgt mein zweiter Erzählstrang, und dann erst kommt ein Kapitel, wieder aus der Perspektive des Feldherrn, das die Ereignisse der Vergangenheit aufdeckt, die zu der aktuellen unfairen Behandlung geführt haben.
Für mich kommt es darauf an, wie diese Ereignisse "aufgedeckt" werden. Es ist ja ein gängiges Schema, mit einer Geschichte in der Mitte anzufangen und dann einen neue Erzählstrang "10 Jahre zuvor" aufzumachen. Ich muss sagen, dass mir dieses Schema mit 2 Zeitebenen absolut nicht schmeckt, da ich meistens die laufende Handlung präferiere und die Vorvergangenheit selten gleichermaßen spannend finde.

Coppelia

@ Sternlicht

Es gibt zwei Erzählstränge, die erst einmal getrennt voneinander starten. Die Ereignisse in beiden gehen auf denselben Hintergrund zurück. Berührungen gibt es anfangs noch nicht, das geht erst nach einigen Kapiteln los. Und ich glaube, da heißt es für den Leser höllisch aufpassen, denn die Überschneidungen sind anfangs nur minimal.

@ Pygmalion

Ungefähr so läuft es tatsächlich ab.

@ Churke

Da geht es mir wie dir, das mag ich auch nicht besonders. Die beiden Handlungen finden zur gleichen Zeit statt. Es gibt keine Rückblenden. Ab und zu erzählt eine Person in Ausschnitten, was (angeblich) vor 15 Jahren passiert ist, aber die Informationen sind lückenhaft und fügen sich erst im Lauf der Geschichte zusammen. Es geht auch nicht wirklich um die damaligen Ereignisse, sondern um ihre langfristigen Auswirkungen auf die jetzige Situation. Daher wäre eine zweite Handlung 15 Jahre vorher auch sinnlos.

Mir fällt gerade auf, dass der Feldherr, der ja als mein einziger Perspektiventräger damals tatsächlich dabei war, nie davon spricht und auch nie ausführlich daran denkt. :hmmm: