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Handwerkliches => Workshop => Weltenbau => Thema gestartet von: Mithras am 09. September 2017, 13:55:22

Titel: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 09. September 2017, 13:55:22
Salvete!

Ich beschäftige mich zwar schon seit Jahren mit diesem Thema, doch vor ein paar Wochen hatte ich ein Erlebnis, das mich noch stärker zum Nachdenken gebracht hat. Es geht darum, inwieweit sich unsere heutigen Vorstellungen von Emanzipation und Gleichberechtigung mit den eher archaisch anmutenden Settings vieler Fantasywelten vereinbaren lassen. Ich lese derzeit The Great Ordeal von R. Scott Bakker, der in Sachen Weltenbau und Atmosphäre lange Zeit zu meinen Favoriten zählte, dessen Menschenbild mir aber zunehmend suspekt ist. Nach eigener Aussage geht er davon aus, dass seine Bücher von einem überwiegend männlichen Publikum gelesen werden (und so, wie er mit Frauen umgeht, kann ich mir das auch gut vorstellen), und um diesem Publikum seine negative Sicht auf die männliche Sexualität zu vermitteln (er sieht in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger), greit er zum Holzhammer und stellt seine Frauen ausschließlich als unterdrückte Wesen dar, die ihre Unterdrückung sogar als gottgegeben akzeptieren. Natürlich bewegt das auch etwas in mir - dabei handelt es sich aber eher um Aggressionen gegenüber Bakker, da er die Unterdrückung der Frau sogar auf höchster Ebene legitimiert: Selbst die Götter betrachten Frauen als minderwertig. Im oben genannten Buch macht eine weibliche Figur, die über die Gabe verfügt, die Welt mit den Augen der Götter zu sehen, folgende Beobachtung:

ZitatBetween women and men, women possess the lesser soul. Whenever the Eye opens, she glipses the fact of this, the demand that women yield to the requirements of men (...) The place of the woman ist to give. So it had always been (...)

Natürlich entspricht das nicht Bakkers Ansicht, sondern ist als Stilmittel gedacht, um selbst dem begriffsstutzigsten Mann den alltäglichen Sexismus vor Augen zu führen, aber mir ist diese Sichtweise zu einseitig-negativ. Ich lehne mich vielleicht sehr weit aus dem Fenster, aber ich habe immer mehr den Eindruck, dass Bakker Berührungsängste damit hat, ausgewogene Frauenfiguren zu entwerfen, die einerseits selbstbewusst und stark sind, andererseits aber mit den Wert- und Moralvorstellungen ihrer Zeit konform gehen, ohne gleich zu rebellieren. Das ist schwierig, aber auch realistisch, zumindest dann, wenn man Wert auf ein authetisches, im weiteren Sinne archaisches Setting legt.

Es ist immer leicht, Figuren aus früheren Epochen aufgrund ihrer für uns oft unverständlichen Moralvorstellungen als schlechtere Menschen abzutun; stattdessen versuchen wir, unsere Vorstellungen in die Köpfe von Figuren einzupflanzen, die in einer antiken, mittelalterlichen oder auf eine andere Weise archaischen Welt leben, und das ist aus meiner Sicht problematisch. Zum einen, weil ich mich ungern zum Moralapostel aufschwingen will, zum anderen, weil der Kampf um Gleichberechtigung auch in der realen Welt ein langwieriger Prozess ist, der leider noch immer nicht abgeschlossen ist. Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, sind Errungenschaften der Neuzeit, insbesondere der letzten 100 Jahre. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Gesellschaften in archaischen Welten eine ähnliche Entwicklung durchlaufen haben wie unsere eigene - gerade in Anbetracht der Tatsache, dass in solchen archaischen Welten Armut, Sklaverei/Leibeigenschaft, Todesstrafe, religiöser Fanatismus oder die "Höherwertigkeit" des Adels häufig als selbstverständlich angesehen werden. Wir akzeptieren es, dass dort Menschen stehlen oder töten müssen, um zu überleben, und stellen deren Moral trotzdem nicht in Frage. Das beste Beispiel ist für mich Ned Stark, der seine Todesurteile selbst vollstreckt, weil er es als seine moralische Pflicht erachtet. Praktisch alle stimmen darin überein, dass Ned ein ehrbarer, geradliniger und aufrechter Charakter ist, und wir verurteilen ihn nicht für das, was er tut, obwohl wir die Todesstrafe heute mehrheitlich ablehnen, zumindest hierzulande. Gleichberechtigung ist ein sensibles Thema, aber man muss sie mMn im Kontext der Moralvorstellungen sehen, die in der jeweilgen Welt vorherrschen.

George R. R. Martin wird ja häufig Sexismus vorgeworfen, weil sich seine Frauen mit ihrer Rolle arrangieren und er daher Unterdrückung und Sexismus verharmlose. Dabei wird aber häufig vergessen, dass sich Schorsch selbst lange Zeit als einen Feministen gesehen hat, bis ihm diese Sichtweise von einigen Frauen abgesprochen wurde, weil ein Mann kein Feminist sein könne [Link (http://www.telegraph.co.uk/women/womens-life/9959063/Game-of-Throness-George-RR-Martin-Im-a-feminist.html)]. Ich sehe es eher so, dass er sich den Zwängen und Anforderungen, die ein möglichst authetisches mittelalterliches Szenario mit sich bringt, beugen muss. Und nicht zuletzt erschafft er einige durchaus selbstbewusste Frauenfiguren, die sich souverän in einer patriarchalischen Gesellschaft bewegen, etwa Melisandre Daenerys, Olenna und "Wildlingsfrauen" wie Val oder Ygritte, die wieder ein Fall für sich sind. Dorne kommt unserem heutigen Ideal von Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung sogar noch recht nahe - man denke nur an Arianne Martell -, unterscheidet sich aber stark von der restlichen mittelalterlichen Gesellschaft in Westeros, auf die Martin ja so viel Wert liegt. Es geht also auch anders, und Schorsch bemüht sich ganz offenbar um Ausgewogenheit.

Mit moralisierendem Idealismus in Romanen habe ich hingegen meine Probleme. Ein Autor darf und soll Fragen aufwerfen, aber wenn möglich auf eine subtile Weise, die mich als Leser dazu anregt, meine eigenen Denkmuster infrage zu stellen, anstatt mir gleich die eigene Meinung wie eine Glocke überstülpen zu wollen, wie Bakker es tut. Da fühle ich mich bevormundet, und das mag ich gar nicht.
Martin geht subtiler mit der Thematik um. Er macht Zugeständnisse an die Erfordernisse seiner Welt und stellt deren Missstände dar, überlässt die Wertung aber dem Leser. Ähnlich verhält es sich in Sachen Gewalt und Krieg, da er selbst in den 60ern und 70ern in der Friedesbewegung gegen den Vietnamkrieg aktiv war. Wer ihm Sexismus oder die Verherrlichung von Gewalt vorwirft, interpretiert ihn in meinen Augen völlig falsch. Ich stimme im Wesentlichen mit dieser Herangehenensweise überein, sofern ich sie richtig interpretiere.

Natürlich ist das kein Muss. Es kann gute Gründe für Gleichberechtigung in einer fiktiven Welt geben, aber je archaischer diese ist, desto schwieriger wird die Umsetzung.

Und jetzt steinigt mich bitte nicht! :versteck:
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Kati am 09. September 2017, 14:31:12
Das ist ein spannendes Thema, über das ich in den letzten Wochen auch öfter nachgedacht habe. Um es ganz kurz vorwegzunehmen: Ich bin für mich persönlich zu dem Schluss gekommen, dass ich beim Gestalten von Fantasywelten absolut null darauf angewiesen bin, wie unsere echte Welt funktioniert oder in der Vergangenheit funktioniert hat. Eine archaische oder brutale Welt muss daher nicht zwingend auch Frauen diskriminieren – und auch in unserer echten Vergangenheit war nicht jede archaische Gesellschaft zwingend sexistisch. Natürlich kann man das in Fantasywelten so machen, wenn der Plot danach verlangt, aber es ist kein Muss und es ist auch wirklich kein Ding von ,,Das ist dann aber realistischer". Was in meiner eigenen Fantasywelt realistisch ist, entscheide am Ende ich.

Zitat von: MithrasIch sehe es eher so, dass er sich den Zwängen und Anforderungen, die ein möglichst authetisches mittelalterliches Szenario mit sich bringt, beugen muss.

Daran bin ich hängen geblieben. Es ist etwas, das mir immer wieder begegnet und, dass ich einfach nicht verstehen kann. Denn Martins Bücher spielen nicht im Mittelalter. Sie spielen in einer komplett fiktiven Welt, die sich hier und da an das spätmittelalterliche England anlehnt. Aber das ist alles. Ein authentisches mittelalterliches Szenario in einem Fantasyroman ist für mich daher einfach nicht möglich. Das widerspricht sich im Kern der Sache und deshalb ist historische Authentizität für mich kein Argument, wenn es um die Darstellung von Moralvorstellungen in Fantasyromanen geht. Der Autor hat entschieden, dass es in seiner Welt Sexismus gibt. Okay. Aber ,,Das musste er machen, damit es historisch authentisch ist" halte ich für Blödsinn, denn er schreibt ja nun mal keinen historischen Roman. Er hat sich diese Welt und Gesellschaft selbst ausgedacht.

(Ganz davon ab würde Westeros nicht funktionieren, wenn wir wirklich mit historischen Maßstäben rangehen würden. Das machen wir nicht, weil es eine Fantasywelt ist und wir hinnehmen, dass dort alles so funktioniert, wie Martin das sagt. Aber warum dann ausgerechnet bei Unterdrückung und Diskriminierung plötzlich historische Authentizität gelten soll, sehe ich nicht ganz ein.)

Dazu kommt, dass die als ,,historisch authentisch" vorgestellten Gesellschaftsformen und Moralvorstellungen oft sehr schwarz-weiß daherkommen und für den Laien vielleicht erst einmal authentisch aussehen, es aber einfach nicht sind. Das gilt natürlich auch für historische Romane, in denen mir mit sexuellem Missbrauch, Unterdrückung und dergleichen viel zu holzhammermäßig umgegangen wird, um es noch authentisch nennen zu können, aber bei Fantasywelten sehe ich es auch immer wieder, ganz besonders im Umgang mit dem Mittelalter. Ehrlich, wenn ich noch einen Wikingerroman lese, in dem die Frauen zu Hause den Haushalt machen, während die Männer schreiend in die Schlacht stürzen, dann weiß ich auch nicht. So sieht das Bild der Wikinger für viele aus, so war es aber nicht und da treffen dann auch verschiedene Vorstellungen dessen, was denn historisch authentisch überhaupt bedeutet, aufeinander. (Passend dazu, weil gerade erst passiert und sehr spannend: Hier lang.) 

Eine Fantasywelt muss in sich selbst natürlich funktionieren, aber dazu muss man sie nicht eins zu eins an (pseudo)historische Weltbilder aus der Vergangenheit unserer echten Welt anpassen, archaisch oder nicht. Was meine Welt archaisch, brutal oder moralisch verwerflich macht, entscheide ja am Ende ich und ich finde nicht, dass dafür unbedingt Frauen unterdrückt werden müssen oder Männer oder irgendeine andere Gesellschaftsgruppe. Man kann das natürlich machen, besonders, wenn man damit etwas ausdrücken möchte, aber ich finde nicht, dass es dazu gehört oder, dass Fantasygeschichten, in denen bestimmte Gruppen unterdrückt werden, ,,authentischer" sind, als andere.

Ich überlege schon länger über dieses Thema mal zu bloggen, vielleicht mache ich das einfach mal!  :hmmm:
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Tanrien am 09. September 2017, 14:46:34
ZitatNach eigener Aussage geht er davon aus, dass seine Bücher von einem überwiegend männlichen Publikum gelesen werden (und so, wie er mit Frauen umgeht, kann ich mir das auch gut vorstellen), und um diesem Publikum seine negative Sicht auf die männliche Sexualität zu vermitteln (er sieht in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger), greit er zum Holzhammer und stellt seine Frauen ausschließlich als unterdrückte Wesen dar, die ihre Unterdrückung sogar als gottgegeben akzeptieren.
Oder ist das nur eine Ausrede um seinen Kink als gesellschaftspolitisches literarisches Mittel zu verkaufen?  :hmmm:

Ich stimme da jedenfalls @Charlotte zu.
ZitatEine Fantasywelt muss in sich selbst natürlich funktionieren, aber dazu muss man sie nicht eins zu eins an (pseudo)historische Weltbilder aus der Vergangenheit unserer echten Welt anpassen, archaisch oder nicht.
Wobei dann die Leser eine Darstellung natürlich als unrealistisch empfinden können, selbst wenn es historisch korrekt ist. Und dass natürlich Historiker auch immer interpretieren.

Ich selbst mache es mir ja immer einfach und habe einfach keine männlichen Charaktere, aber da @Mithras ja keine Fragen stellt, würde mich interessieren, wie ihr damit umgeht: Fokus auf Ausnahmefrauen? Möglichst historisch korrekt? Möglichst realistisch für den Leser? Generell einfach nur Gleichberechtigung so gut wie es geht darstellen? Es so wie heutzutage in Deutschland schreiben?
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Evanesca Feuerblut am 09. September 2017, 14:54:07
Da rennst du bei mir offene Türen ein. Ich schreibe ja selbst beispielsweise über Römerinnen im Wandel des römischen Reiches und da waren die Dinge nun mal anders.
Da geht der künftige Ehemann meiner Protagonistin zum Brautvater hin, sieht seine künftige Frau und stellt fest, dass sie eine sehr ausgeprägte römische Nase hat (und er das hässlich findet), aber hey, es spielt keine Rolle, ob sie hässlich ist. Hauptsache, sie ist ehrbar und eine gute Rechnerin, die sich vom Hausverwalter und seiner Mutter anlernen lässt, um ihrer Rolle als römische Ehefrau gerecht zu werden.
Und meine Protagonistin hat ihrerseits keine Skrupel, ihn zu einer Küchensklavin zu schicken, damit er seine Triebe abreagiert, während sie schwanger ist. Weil das Römerinnen so gemacht haben in dieser Zeit. Und sie regt sich furchtbar über die neuen Sitten auf, dass auch Frauen bei Tisch liegen. SIE ist eine sittsame Dame und wird bei Tisch weiterhin sitzen :D
Und trotzdem habe ich wütende Rückmeldungen zweier Damen erhalten, wie ich es wagen könnte, Lucius umzubringen. Und empathisches Mitfiebern mit Livia. Man kann also authentische Figuren schaffen, die in ihrer Weltsicht verankert sind und die von den Leser*innen trotzdem gemocht werden.

ZitatNatürlich kann man das in Fantasywelten so machen, wenn der Plot danach verlangt, aber es ist kein Muss und es ist auch wirklich kein Ding von ,,Das ist dann aber realistischer". Was in meiner eigenen Fantasywelt realistisch ist, entscheide am Ende ich.
Da bin ich bei @Charlotte . Ein Plot kann es verlangen, muss es aber nicht.

ZitatEine Fantasywelt muss in sich selbst natürlich funktionieren, aber dazu muss man sie nicht eins zu eins an (pseudo)historische Weltbilder aus der Vergangenheit unserer echten Welt anpassen, archaisch oder nicht. Was meine Welt archaisch, brutal oder moralisch verwerflich macht, entscheide ja am Ende ich und ich finde nicht, dass dafür unbedingt Frauen unterdrückt werden müssen oder Männer oder irgendeine andere Gesellschaftsgruppe. Man kann das natürlich machen, besonders, wenn man damit etwas ausdrücken möchte, aber ich finde nicht, dass es dazu gehört oder, dass Fantasygeschichten, in denen bestimmte Gruppen unterdrückt werden, ,,authentischer" sind, als andere.
Genau das.
Für mich persönlich funktioniert Westeros beispielsweise durch die Kontraste. Eis und Feuer eben. (Mögliche Spoiler, Klicken auf eigene Gefahr)
Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.

Ohne den teilweise übertrieben dargestellten Sexismus würden einige Frauenfiguren nicht so grell leuchten oder hätten nicht so viele Steine im Weg. Passt.

Aber wenn man einen anderen Plot hat, kann man ja auch andere Wege gehen.

ZitatFokus auf Ausnahmefrauen? Möglichst historisch korrekt? Möglichst realistisch für den Leser? Generell einfach nur Gleichberechtigung so gut wie es geht darstellen? Es so wie heutzutage in Deutschland schreiben?
Möglichst historisch korrekt, wenn ich in unserer Welt schreibe.
So, wie es dem Plot nützlich ist, wenn ich selbst Welten bastle.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Sunflower am 09. September 2017, 15:04:24
Ich finde das Thema auch sehr spannend und denke da auch viel drüber nach. Zum Glück ist zumindest oberflächlich in einem Großteil der Gesellschaft angekommen, dass Frauen in Geschichten auch andere Rollen einnehmen können als nur das damsel in distress zu sein. (Ob sich das dann auf ihr Denken in der Wirklichkeit auswirkt, ist noch ein anderes Thema.) Ein bisschen "problematisch" an dieser Sache finde ich, dass es dann oft dazu tendiert, Frauen als Über-Menschen darzustellen, die tough, hart und total krass drauf sind und dadurch auch schon wieder zu Karikaturen werden. Aber vielleicht ist es auch allgemein schwierig, realistische, runde Figuren darzustellen ...

Zitat von: Mithras am 09. September 2017, 13:55:22
Dabei wird aber häufig vergessen, dass sich Schorsch selbst lange Zeit als einen Feministen gesehen hat, bis ihm diese Sichtweise von einigen Frauen abgesprochen wurde, weil ein Mann kein Feminist sein könne [Link (http://www.telegraph.co.uk/women/womens-life/9959063/Game-of-Throness-George-RR-Martin-Im-a-feminist.html)].

Dazu möchte ich als erstes mal sagen, dass ich es falsch finde, dass Männer keine Feministen sein können. Feminismus heißt für mich Gleichberechtigung der Geschlechter und nicht "alle Macht den Frauen" und für die Gleichberechtigung der Geschlechter können Männer genauso kämpfen wie Frauen. Vor allem kenne ich genug Männer, die auch sehen, dass Frauen in einigen Dingen noch benachteiligt sind und dass das nicht gut ist. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wieso die sich dann nicht als Feministen bezeichnen dürfen ...

Ansonsten würde ich bei Charlotte unterschreiben, wobei ich es auch so sehe, dass einige Leser die Darstellung dann unrealistisch finden. Getreu dem Motto, Drachen sind okay, Dimensionsportale sind okay, aber wehe, man setzt eine Frau auf den Thron.  ::) Würde aber nicht sagen, dass man deswegen davon absehen sollte, die "historische Korrektheit" zu durchbrechen. Es sind fantastische Welten, und wenn ein Leser damit kämpfen muss, dass in einer mittelalterlich angehauchten Welt Frauen das Sagen haben, dann kann ich auf den Leser auch verzichten  ;)

Zitat von: Tanrien am 09. September 2017, 14:46:34
Ich selbst mache es mir ja immer einfach und habe einfach keine männlichen Charaktere, aber da @Mithras ja keine Fragen stellt, würde mich interessieren, wie ihr damit umgeht: Fokus auf Ausnahmefrauen? Möglichst historisch korrekt? Möglichst realistisch für den Leser? Generell einfach nur Gleichberechtigung so gut wie es geht darstellen? Es so wie heutzutage in Deutschland schreiben?

Ich finde es immer gut, wenn man mit bestehenden Vorurteilen, Klischees, Tatsachen etc. spielt und sie gegebenenfalls umgekehrt. So bringt man den Leser vielleicht zum Nachdenken.
Und ich hinterfrage mich beim Plotten immer wieder selbst - weil manche Dinge so fest im Denken verankert sind, das man sie bewusst durchbrechen muss. Finde ich. Ich schaue immer wieder, ob ich genügend weibliche Figuren habe, mit denen man sich identifizieren kann, ob ich auch mal weibliche Bösewichte einsetzen kann, die nicht gleich das Klischee rachsüchtige Hexe bedienen. In meinem letzten Roman hatte ich ein Volk, bei dem die Frauen im "Hauptdorf" gelebt haben und die Männer nur einmal im Monat vorbeischauen durften und ansonsten nicht viel zu melden hatten. Einfach mal, um alles umzudrehen, nicht weil das meiner Meinung nach die perfekte Welt wäre (definitiv nicht  :rofl:).
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Trippelschritt am 09. September 2017, 15:47:17
Ich habe ganz persönlich gar keine Schwierigkeiten mit der Geschlechterfrage in Fantasywelten. Diese Welten müssen einfach nur in sich stimmig und plausibel sein. Und welche Gesellschaftsform ich wähle und ob ich etwas davon thematisiere, hängt doch ausschließlich und allein, was für eine Geschichte ich erzählen möchte. Historische Authentizität gibt es bei meinen Geschichten überhaupt nicht, weil ich keine historischen Romane schreibe. Da, allerdings, muss alles korrekt sein.

Wenn ich in die jüngere Vergangenheit gehe, dann habe ich noch erlebt, dass der Mann bestimmte. So musste meine Mutter meinen Vater um die Erlaubnis fragen, arbeiten gehen zu dürfen, was aber kein Streitpunkt war. Wir hatten das zusätzliche Geld bitter nötig. Aber so war damals noch die Gesetzeslage.

Gehe ich weiter zurück, wird die Angelegenheit schon viel weniger klar. Wenn wie bei den Wikingern die Männer immer wieder auf Raubzug gingen, wer sorgte dann dafür, dass zu Hause alles lief? Wikingerfrauen waren gan bestimmt keine anschmiegsamen Hawelmäuschen mit korngelbem Haar, sondern selbstbewusste Frauen. vor allem, wenn sie ihrer Familie vorstanden. Und im japanischen Mittelalter, das in vielen Punkten bis zum zweiten Weltkrieg reichte, gab es eine klare Rollenteilung. Der Samurai kämpfte und kümmerte sich um seine Ehre. Die Frau unterstützte ihn dabei und sorgte vor allem dafür, dass das benötigte Geld zusammenkam nd alle genug zu essen hatten. Wer hatte also die Produktionsmittel?, würde Marx da fragen.

Kurzum, der Autor hat alle Freiheiten. Ich habe mir in meiner Pentamuria-Trilogie die Freiheit erlaubt, mir mit den Oas eine Gruppe auszudenken, die nur aus Frauen bestand und die auch nur Mädchen aufzogen. Die Männer, vorwiegend Druiden, aber auch wilde Hexer oder Angehörige anderer Splittergruppen zogen vorbei, blieben ein paar Tage und zogen weiter. Magier waren unerwünscht. Die Jungen wurden ab einem bestimmten Alter einfach ausgesetzt, aber im Normalfall von Druiden eingesammelt und aufgenommen. Aber denkbar, dass da auch die eine oder andere Grausamkeit denkbar war. Und ich plane vor dem Hintergrund dieses Settings noch einen Einzelroman zu schreiben zu den Anfängen dieser Gruppe.

Sonst stehen die frauen fast immer hinter den Männern in meinen Welten, nehmen das aber nicht unbedingt hin und gehen dann ihren eigenen Weg, der dann nicht gerade einfach ist und sie das eine mit anderen Dingen erkaufen müssen wie ich es bei allen meinen Figuren liebe. Es gibt nichts im Leben umsonst. Emanzipation ist einfach kein Thema für mich, weil das ein ganz modernes Konzept ist, das in meinen Welten nichts zu suchen hat. Starke Frauen gern, aber keine Übermenschen. Ich liebe gebrochene und wieder zusammengesetzte Helden. Frauen wie Männer.

Aber das sind einfach meine ganz persönlichen Autorenvorlieben und in keiner Form wegweisend für irgendeinen anderen Autor oder Autorin.

Trippelschritt
(Klischeevernichter)
;D
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Sascha am 09. September 2017, 17:35:14
Ich bin auch der Ansicht, daß wir in unseren Welten selbst bestimmen können, wie fortschrittlich oder zurückgeblieben die Gesellschaften auch in dieser Hinsicht sind. Ich habe eine Welt oder vielmehr ein Land darin, das diese "Frauen sind minderwertig und haben zu kuschen"-Haltung konterkariert, da sind die Männer unter der Knute. Ich habe ein anderes Land dieser Welt, wo Frauen einerseits auch Ratsmitglieder sein können, andererseits aber sexuell dienstbar sein müssen (und Menschenleben generell wenig gelten...), und dann gibt es da auch ein Land, in dem einfach Gleichberechtigung herrscht. Und alles hat seinen Grund ...

Zu Deinem Zitat, @Mithras, von R. Scott Bakker fallen mir diverse Zitate von Kirchenmännern ein. Nachzulesen z.B. hier:
http://www.kreudenstein-online.de/Helauluja/inspirationen_zum_thema_frau.htm (http://www.kreudenstein-online.de/Helauluja/inspirationen_zum_thema_frau.htm)
Nach diesen komischen 14 Punkten zu Frau-finden. Und es gibt, wie man z.B. früher an kreuz.net sehen konnte, heute noch Intelligenzbestien, die genauso ticken.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 09. September 2017, 18:31:03
Zitat von: Tanrien am 09. September 2017, 14:46:34Ich selbst mache es mir ja immer einfach und habe einfach keine männlichen Charaktere, aber da @Mithras ja keine Fragen stellt, würde mich interessieren, wie ihr damit umgeht
Die Diskussion lief ja auch trotzdem ganz gut an! ;D

Ich bemühe mich um Ausgewogenheit, die Gesellschaften meiner Welt sind aber auch überwiegend patriarchalisch aufgebaut, wobei es natürlich unterschiedliche Ausprägungen gibt. Ich versuche, starke Frauencharaktere zu erschaffen, die in dieser Welt ihren Weg gehen, so gut es ihnen möglich ist. In einer Region meiner Welt herrscht ein Matriarchat und entsprechend ein anderes Selbstverständnis der Frauen, und ich finde es sehr interessant, dieses Selbstverständnis mit dem von Frauen "kollidieren" zu lassen, die in einer Männerwelt ihren Weg gehen. dabei steht Gleichberechtigung aber nicht im Fokus der Geschichte, weil es im Kern um andere Konflikte geht, aber zum Gesamtbild einer vielschhichtigen Welt und Geschichte gehört es natürlich auch, dass diese Fragen zumindest angeschnitten werden.

Zitat von: Charlotte am 09. September 2017, 14:31:12
Zitat von: MithrasIch sehe es eher so, dass er sich den Zwängen und Anforderungen, die ein möglichst authetisches mittelalterliches Szenario mit sich bringt, beugen muss.

Daran bin ich hängen geblieben. Es ist etwas, das mir immer wieder begegnet und, dass ich einfach nicht verstehen kann. Denn Martins Bücher spielen nicht im Mittelalter. Sie spielen in einer komplett fiktiven Welt, die sich hier und da an das spätmittelalterliche England anlehnt. Aber das ist alles.
Möglichst authetisch, wie gesagt! ;)

Das Problem ist, dass sich praktisch keine hostorische Kultur unserer Geschichte an unseren heutigen Idealen von Gleichberechtigung messen lassen konnte. Meistens waren die Geschlechterrollen auf die eine oder andere Weise klar verteilt, und Ungerechtigkeit war eher die Regel als die Ausnahme. Nicht nur in Bezug auf Geschlechterrollen. Martin hat entschieden, es so zu machen, und das ist aus meiner Sicht legitim. Nur, weil man sich als Autor an ungerechten Systemen bedient, um den Hintergrund auszugestalten, bedeutet das ja nicht, dass man sie gutheißt. Im Gegenteil: Ungerechtigkeiten lassen sich gut nutzen, um Dynamik zu erzeugen. Wenn man, wie Martin, die Geschichte "global" ansiedelt, ermöglicht das einem ja auch, eine Vielzahl von Gesellschaftssystemen vorzustellen, die die Frage nach Gleichbrerechtigung und Emanzipation auf ihre eigene Weise beantworten, und als Leser kann man daraus jeweils seine Lehren ziehen. Da haben wir Dorne, das am ehesten noch unserem Idealbild von Gleichberechtigung entspricht, die Sommerinseln mit ihrer offenen Sexualität, die von rivalisierenden Prinzen und Prinzessinen beherrscht werden, oder das matriarchalische Leng, das von einer Dynastie von Gottkaiserinnen beherrscht wird, von denen jede zwei Männer heiratet, die den beiden Ethnien auf Leng entstammen.

Von diesen Kontrasten lebt eine Fantasywelt, denn sie verleihen ihr Authetizität, Tiefe und Farbe. Zu sehr idealisierrten Welten geht dieser Reiz häufig verloren. Martins Welt soll düster und zynisch sein, ohne dass er es damit so überteibt wie Bakker, und verträt daher nur ein gewisses Maß an Gerechtigkeit - ob es nun Gleichberechtiigung oder eine andere Form sein soll, sei dahingestellt.

Zitat von: Sunflower am 09. September 2017, 15:04:24Getreu dem Motto, Drachen sind okay, Dimensionsportale sind okay, aber wehe, man setzt eine Frau auf den Thron.  ::) Würde aber nicht sagen, dass man deswegen davon absehen sollte, die "historische Korrektheit" zu durchbrechen.
Der Punkt ist aber auch der, dass Menschen so sind, wie sie sind. Egoistisch und rücksichtslos. Ich teile Bakkers radikale Sichtweise nicht, sondern sehe mich als Idealisten an, aber Zynismus udn Idealismus sind zwei Seiten derselben Medaille. In einer archaischen Gesellschaft herrscht häufig das Gesetz des Stärkeren (durchaus auch im physischen Sinne gemeint) und leistet einer Entwicklung zum Patriarchat Vorschub. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen in Fantasywelten genauso ticken wie in der Realität und in einem Umfeld aufwachsen, das keine Reflexion der eigenen Rolle erlaubt, halte ich es für unausweichlich, dass sich ungerechte Gesellschaften entwickeln - worin auch immer der Kern ihrer Ungerechtigkeit besteht, sei es religiöse Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Unterdrückung der Armen oder eben ein Pattriarchat. Nur, wer sich selbst reflektieren kann, kann aus diesen Systemen ausbrechen, und angesichts der übrigen Ungerechtigkeiten, die auch alle hingenonommen werden, scheinen die meisten Bewohner noch nicht zu dieser Reflexionsstufe gelangt zu sein. Sie denken einfach anders als wir heute.

Ich sage nicht, dass es nicht geht. Es kann sogar sehr gut funktionieren - ich befürchte nur selbst immer wieder, zu sehr in Richtung Utopie abzugleiten, und begegne dem dann mit Zynismus. Eine archaische Welt braucht Ungerechtigkeit, um archaisch zu wirken, aber man kann als Autor natürlich frei entscheiden, wie man damit umgeht - solange es plausibel ist.

Zitat von: Tanrien am 09. September 2017, 14:46:34
ZitatNach eigener Aussage geht er davon aus, dass seine Bücher von einem überwiegend männlichen Publikum gelesen werden (und so, wie er mit Frauen umgeht, kann ich mir das auch gut vorstellen), und um diesem Publikum seine negative Sicht auf die männliche Sexualität zu vermitteln (er sieht in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger), greit er zum Holzhammer und stellt seine Frauen ausschließlich als unterdrückte Wesen dar, die ihre Unterdrückung sogar als gottgegeben akzeptieren.
Oder ist das nur eine Ausrede um seinen Kink als gesellschaftspolitisches literarisches Mittel zu verkaufen?  :hmmm:
So eingenommen, wie der Gute von seinem Werk zu sein scheint, würde mich das kein bisschen wundern... :hmmm:

Zitat von: Sascha am 09. September 2017, 17:35:14Zu Deinem Zitat, @Mithras, von R. Scott Bakker fallen mir diverse Zitate von Kirchenmännern ein. Nachzulesen z.B. hier:
http://www.kreudenstein-online.de/Helauluja/inspirationen_zum_thema_frau.htm
Nach diesen komischen 14 Punkten zu Frau-finden. Und es gibt, wie man z.B. früher an kreuz.net sehen konnte, heute noch Intelligenzbestien, die genauso ticken.
Ach ja, die Kirche, stets ein Hort der Moral... ::)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Coppelia am 09. September 2017, 19:28:33
Interessantes Thema, über das ich gerade auch nachdenke, wo ich gerade "The Witcher" spiele. Und ich habe das Gefühl, dass hiervon schon oft die Rede war.
Ich finde, dass ihr alle sehr gut argumentiert, ist eine Freude zu lesen. :)

Früher habe ich dazu geneigt, Frauen in meinen Romanen in traditionellen Rollen darzustellen; unreflektiert, nehme ich an. Im Lauf der Zeit habe ich meine Einstellung dazu sehr stark geändert, nicht zuletzt dank eigener Erfahrungen.

Ich gehöre zu denen, die auch das Argument "ist aber realistisch so" als persönliche Begründung nicht akzeptieren können, weil Fantasy nun einmal fiktiv ist. Daher unterstreiche ich die Äußerung von Sunflower. Es ist in meinen Augen durchaus möglich, eine realistische fiktive und archaische Gesellschaft darzustellen, die sich in Hinsicht auf das Männer- und Frauenbild von unserer (europäisch geprägten) Historie unterscheidet.

Ich kann aber akzeptieren, wenn andere das Argument "ist realistisch so" für sich verwenden und eine stimmige Hintergrundwelt bauen.
Was man meiner Ansicht nach im Hinterkopf behalten sollte: Wie man sich auch entscheidet, man braucht für sich selbst eine sinnvolle Begründung, denn man schreibt ja Texte, mit denen man sih möglichst lebenslang identifizieren möchte. Und man muss grundsätzlich damit leben, dass andere Personen eine andere Ansicht haben und sich Streit entwickeln kann. Ganz egal, welche Variante man wählt.

Mit der Darstellung von Frauen vor allem in traditionellen Rollen, d. h. eher nicht in Machtpositionen irgendeiner Art, verschenkt man meiner Ansicht nach viel Handlungspotential. Denn so können Männer und Frauen viel häufiger in wichtigen Situationen aufeinander treffen, was Potential für viel Handlung, Beziehung, Zoff usw. bietet.

Um die Darstellung einer perfekten Gesellschaft geht es mir nie. ;D Klar wäre das langweilig. Meine Kessler z. B. haben eine gnadenlose Leistungsgesellschaft, sind furchtbar ausländerfeindlich, und die Armen werden ausgebeutet, während die Reichen ihr Schicksal kaum selbst bestimmen dürfen. Frauen und Männer sind aber gleichgestellt, und es steht ihnen frei, grundsätzlich das Gleiche zu tun. Ist ja irgendwie auch viel praktischer, als wenn nur die Söhne Karriere machen dürfen. Das antike Rom war natürlich eine patriarchische Gesellschaft, und diese Denkweise durchzog jeden Aspekt des Lebens. Ich habe eine ganze Menge Gehirnschmalz investiert, um einen eigenen Hintergrund zu entwerfen und das antike Feeling trotzdem so zu bewahren, dass ich zufrieden damit bin.
Und da ich das nun bin, lasse ich es so, aber mir ist natürlich klar, dass andere für sich selbst entscheiden müssen, ob es sie überzeugt. ;)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 09. September 2017, 20:08:19
Zitat von: Coppelia am 09. September 2017, 19:28:33Interessantes Thema, über das ich gerade auch nachdenke, wo ich gerade "The Witcher" spiele. Und ich habe das Gefühl, dass hiervon schon oft die Rede war.
Sapkowski hatte ich auch im Hinterkopf, alsich dieses Thema erstellt habe - weniger in Bezug auf Frauenrollen als in Bezug auf moderne Moralvorstellungen in mittelalterlich angehauchten Welten. Vor allem während der Lektüre des ersten Buches ist mir aufgefallen, wie "modern" viele Figuren in seiner Welt doch denken, nicht nur in Sachen Moral, sondern auch in Sachen Wissenschaft. Das war für mich ein ziemlicher Kontrast zum technischen Entwicklungsstand seiner Welt und hat mich noch nicht wirklich überzeugt.

Aber es kann funktionieren. Wichtig ist mir nur, dass man nicht wie selbstverständlich die heutigen moralischen Maßstäbe an sämtliche Gesellschaften anlegt und nicht idealisiert. Da liegt mir die zynische Herangehensweise eines George R. R. Martin und eines Joe Abercrombie deutlich mehr, solange man es nicht übertreibt wie Bakker. Ich mag düstere Szenarien, und dazu gehören in meinen Augen Zynismus und Ungerechtigkeit.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Churke am 09. September 2017, 22:49:20
Romane - und dazu gehört auch die Fantasy - sind immer ein Spiegel der Gesellschaft, die sie erschafft, und mehr noch ein Spiegel der Gesellschaft, die sie liest.
Das fängt bei den Plotmustern an, geht mit den Figuren weiter und hört mit Stil und Sprache nicht auf. Man projiziert die Moralvorstellungen der eigenen Zeit in das Buch hinein. Vielleicht muss man das als Autor auch tun, weil man sein Zeug schließlich verkaufen will.
Und so ist unsere ideale Fantasywelt bunt, offen, multikulturell, tolerant und wird von einer einer geschlechterparitätisch besetzten Armee gegen böse Tyrannen verteidigt, die typischerweise intolerant, rassistisch und sexistisch drauf sind.  :engel:

Im Prinzip bekommt man also etwas wie LARP. Ich halte es aber - und das ist mein ganz private Meinung - für ein Zeichen von Kreativität und literarischem Anspruch, wenn ein Autor die überkommenen Vorstellungen auch mal in Frage stellen kann. Dass Figuren eben nicht so sind wie heute, dass sie anders reden, anders handeln und anders denken.
Aber Vorsicht, wenn man es übertreibt, könnten einem das die Leser übel nehmen.  ;)

Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: FeeamPC am 10. September 2017, 14:17:35
Meine spezielle Verlags-Serie  hat ein ziemlich buntes Frauenbild. Vom Matriarchat bis hin zu Frauen im Harem ist alles dabei. Und die Leser finden es gut.
Und mal ehrlich, ist das nicht auch auf unserer realene Ebene immer schon so gewesen? In Asien gibt es heute noch Matriarchate. Die sagenumwobenen Amazonen stammen vermutlich aus einer Gesellschaft, in der (durch Grabfunde belegt) Frauen ebenso als Kriegerinnen in die Schlacht ritten wie Männer. Patriarchat ist weithin bekannt, aber selbst darin gab es immer bestimmte Frauentypen, die außerhalb der normalen Ranggruppen standen. Eine Hildegard von Bingen durfte selbst dem Papst den Kopf zurechtsetzen.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Amanita am 10. September 2017, 18:53:04
Ein sehr spannendes Thema, jedenfalls solange es nicht in unschöne real-life-Diskussionen abgleitet, aber das ist hier ja bisher erfreulicherweise nicht der Fall.
Ich finde es grundsätzlich sehr interessant, bei Fantasy ein bisschen zu experimentieren, was Gesellschaftsformen, Kulturen und Geschlechterrollen angeht. Da gibt es so viele reale Ausprägungen, Mythen, Ideen und Theorien, dass einem wirklich vieles offensteht, erstrecht, wenn dann auch noch die Fantasyelemente dazukommen. Neben Patriarchat wie es im realen Leben ist/war/klischeehaft gedacht wird und "modernem Gendermainstreaming" gibt es ja noch sehr viel mehr. Am liebsten lese und schreibe ich Fantasy, wo es verschiedene Kulturen oder Gruppen mit verschiedenen Herangehensweisen gibt, die aber nicht schwarzweiß sind. So verhindert man auch gleich den Vorwurf seine persönlichen Utopien, Dystopien oder Fetische zu schreiben.

Grundsätzlich wichtig finde ich (nicht nur beim Thema Geschlechterrollen), dass man sich beim Weltenbau Gedanken darüber macht, welche Ursachen welche Wirkungen haben und inwiefern das in der Fantasywelt zutrifft. Dann kann man entscheiden, welche Gesellschaftsformen bei den vorhandenen Fantasyelementen sinnvoll wären, oder welche Fantasyelemente man braucht, um die gewünschten Gesellschaftsformen besser zu erklären.
Die Debatte um den "Realismus" sexistischer Fantasygesellschaften und das ewige Beharren darauf finde ich auch relativ kurios, denn mir fällt auf Anhieb kaum eine Fantasywelt ein, wo reale prägende Elemente des europäischen Mittelalters (katholische Kirche, Papsttum etc.) schlüssig ersetzt sind und auch das scheint niemanden zu stören. Wenig nachvollziehbar finde ich auch die Behauptung, dass Gesellschaften "zu perfekt" seien, wenn Frauen dort nicht benachteiligt werden.

Es stört mich auch, wenn immer mal wieder jemand die Meinung vertritt, es sei so mutig, dem feministischen Mainstream mit (pseudo)mittelalterlich-patriarchalischen Gesellschaften entgegenzutreten, wo alle dieses System akzeptieren, gleichzeitig mag ich aber auch die ganzen Geschichten nicht, wo Frauen immer gerne etwas tun würden, was sie im Rahmen ihrer Gesellschaft nicht dürfen und sich dann gegen die bösen Männer behaupten müssen (oder ihren Platz gezeigt kriegen), oder auch die einzelnen Figuren mit "modernen" Ansichten, wo niemand versteht, wie die zustande kommen. Wer patriarchalische Gesellschaften mit wichtigen weiblichen Figuren schreiben möchte, soll das doch bitte so tun, dass ihre Frauen in diesem Rahmen die Handlung beeinflussen (wie eine Hildegard von Bingen.)

Ich bin außerdemd er Meinung, dass Fantasywelt mit anderer Kultur, anderen Wertvorstellungen nicht automatisch heißen muss, dass diese den Wunschträumen von Feminismusgegnern entsprechen muss, obwohl es doch so viele andere Möglichkeiten gibt.
Interessant finde ich da auch, dass es längst nicht so akzeptiert ist, rassistische Figuren zu haben, die wegen des zeitlichen Rahmens trotzdem Sympathieträger sein sollen, wie sexistische.
Eigentlich sollte es da bei beidem keine Schreibverbote geben, aber offensichtlich ist beim Rassismus die Angst, dass etwas auf die Realität abfärben könnte größer, oder es gilt als schlimmer.

Um nochmal auf das Beispiel Song of Fire and Ice zurückzukommen. Da muss ich zugeben, dass ich persönlich sehr wohl ein moralisches Problem mit dieser Todesstrafeszene am Anfang habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen den Autor ablehne oder finde, dass er sowas nicht schreiben dürfte, aber es mindert meine Sympathie für die Figur durchaus etwas. Ich glaube aber, eine große Stärke dieses Werks ist die Tatsache, dass es so viele Figuren und Handlungsstränge gibt, dass für jeden irgendwas dabei ist. Durch den ganzen sonstigen Sexismus dieser Welt wird ja auch die Daenery-Handlung weitgehend akzeptiert, da könnte ich mir gut vorstellen, dass die, wenn sie alleine stehen würde, auch als nervige feministische Gutmenschengeschichte geschmäht werden würde, im großen Ganzen des Settings aber nicht oder kaum.
Deswegen bin ich wie schon gesagt zumindest bei großen Fantasygeschichten für Vielfalt ohne Wertung von außen durch den Autor.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Aphelion am 10. September 2017, 23:13:49
Authentische Darstellungen von der Moral des Mittelalters o.ä. halte ich modernen Romanen für unmöglich. Dabei muss es nicht einmal um sozialpolitische Themen gehen. Der damalige Zeitgeist war von unserem heutigen so verschieden, dass grundlegende Sichtweisen für uns nur noch abstrakt nachvollziehbar sind und wir in der Regel nicht mitfühlen können. Zudem waren und sind nicht alle Kulturen gleich, wie Charlottes Wikinger-Beispiel sehr anschaulich zeigt.

Schreibende können ihr Setting fast immer selbst gestalten. Es sollte lediglich stimmig sein. Plotköchen sollten allerdings bewusst sein, was für ein Geschmack am Ende herauskommen soll.

Die Frage ist in meinen Augen deshalb nicht so sehr, welches (potenzielle Streit-)Thema Schreibende aufgreifen, sondern wie sie diese umsetzen. Du kannst auch Basilikum für Süßspeisen verwenden, einzelne Zutaten sagen noch nichts über das fertige Produkt aus und können in ungewöhnlichen Kombinationen sogar positiv überraschen. :)

Ein persönliches Beispiel:

In einem aktuellen Projekt habe ich eine dieser Jungfrauen in Nöten, die am Anfang "gerettet wird". Aber ihre Entwicklung besteht eben gerade darin, zu erkennen, dass sie dadurch niemandem verpflichtet ist und dass sie ihrem "Retter" sogar überlegen ist. Das führt zunächst zum anderen Extrem, bis sie schließlich die Mitte findet. Weder die Rolle Jungfrau in Nöten noch die Rolle Überfrau (in Anlehnung an Sunflower) ist die richtige. Die Katastrophe kann erst abgewendet werden, wenn sie beide Zwischenstufen überwunden hat.

Dieser "Blick der Götter" ist so eine Sache. Wird er innerhalb der Geschichte als absolute Wahrheit dargestellt oder erkennen die Figuren schließlich, dass es sich um eine Verzerrung handelt? Oder gibt es Männer, die als potenzielle Vergewaltiger dargestellt werden und sich anschließend als einfühlsame Kerle entpuppen? Sind Unterdrückende abgesehen von ihrer Rolle 100% zum Anhimmeln konstruiert oder ganz schöne Mistviecher? Das macht einen großen Unterschied.

"Schöne neue Welt" würde nicht auf dieselbe Weise funktionieren, wenn die Protagonisten diese Welt am Ende ganz toll fänden. In "Herr der Ringe" werden Saurons Auswüchse thematisiert, aber eben nicht einfach hingenommen.

Bloße Übertreibungen funktionieren nicht zuverlässig. Sie sind tatsächlichen Extremen zu ähnliche und können leicht damit verwechselt werden (wie Poes Gesetzt so treffend auf den Punkt bringt). Insbesondere Menschen, die entsprechende Ansichten tatsächlich vertreten, werden eine solche Übertreibung in der Regel nicht als solche erkennen - dazu ist sie noch zu sehr im Rahmen ihres Weltbilds.

Natürlich gibt es auch andere schreibtechnische Mittel als den Plot, um etwas als nicht gut darzustellen. Das halte ich allerdings für schwieriger. Was ich als ekliges Kriegsgemetzel empfinde, findet jemand anderes besonders toll und anregend. Ich traue es meinen eigenen Schreibkünsten nicht zu, manche Themen als "schlimm genug" rüberzubringen, wenn ich sie explizit darstelle und dann für sich wirken lasse.

Eine der Erkenntnisse des Protagonisten in Lukianenkos "Wächter"-Reihe besteht darin, dass selbst die scheinbar Guten manchmal !"§$%& sind, weil sie ebenfalls furchtbare Dinge tun. Letzteres finde ich für diesen Thread eigentlich ein ganz passendes Beispiel, weil der Tenor ist: Ihnen fällt (in dieser Welt) keine bessere Lösung ein, aber es ist trotzdem grausam und sie sehen das ein. Diese Erkenntnis ist im Grunde genommen das einzige, was die Besseren von den Böseren unterscheidet.

Die "Wächter"-Reihe zeigt in meinen Augen deshalb auch, dass Missstände nicht unbedingt (vollständig) aufgelöst werden müssen. Aber sie müssen als Missstände erkennbar sein. In diesem Fall geschieht das durch den Protagonisten, der erschüttert und wütend ist, als er bestimmte Dinge erfährt.

Ein negatives Beispiel wäre die klassische Todesreihenfolge in Horrorfilmen. Ich bekomme die Reihenfolge grad nicht ganz auf die Reihe... Sinngemäß: Erst sterben die Promiskuitiven, dann die Gottlosen, dann die Alkohol-/Drogen-Konsumenten usw. (Außerdem überleben in amerikanischen Horrorfilmen POC fast nie bis zum Schluss.) Durch diese Reihenfolge wird ebenfalls ein moralisches Urteil gefällt, noch dazu auf der Meta-Ebene: nicht nur innerhalb der Geschichte, sondern durch die Geschichte. Dieses Meta-Urteil ist der entscheidende Punkt.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: canis lupus niger am 11. September 2017, 00:07:41
Dieser Diskussion bin ich sehr interessiert gefolgt. Ein wirklich spannendes Thema!

Im Großen und Ganzen kann ich eigentlich allen Beiträgen einigermaßen zustimmen. Teils bin ich aber auch anderer Meinung.

Auch wenn ein diskriminierendes gesellschaftliches Modell (sei es sexuelle, religiöse oder sonstige Diskriminierung) in einer Fantasywelt allein ein Werk des Autors ist, und auch wenn er Diskriminierung damit rechtfertigt, dass er sie nur demonstrativ anprangern will, so darf man nicht vergessen, dass nicht jeder Leser dem zu folgen imstande ist. Das liest sich jetzt vermutlich überheblich, aber wir dürfen nicht vergessen, dass nicht jeder Fantasyfan sich mit philosophischen und sozialwissenschaftlichen Themen bewusst auseinandersetzt. Gut, man könnte argumentieren, dass intellektuell eher anspruchslose Personen ohnehin nicht lesen, sondern RTL-Reality-Soaps gucken und Ballerspiele an PC oder Konsole zocken, aber wie zum Beispiel beim "Witcher" besteht zwischen Fantasy-Roman und Game oft nur eine hausdünne Trennung. Und es gibt leider genug Leute, die ihr moralisches Wertesystem nicht nur aus der realen Welt, sondern auch aus ihren bevorzugten Ballerspielen zusammenbasteln. Deshalb halte ich es für erforderlich, (zumindest in meinen) Romanen solche Themen wie Diskriminierung -wenn sie denn angeschnitten werden - als Problem zu thematisieren. Auch wenn Diskriminierung zu meiner Fantasywelt dazu gehört, auch wenn die große Mehrheit darin, sowie Gesetz, Religion und Tradition Diskriminierung für richtig halten, so finde ich, ist es meine Pflicht als Autor, darzustellen, dass Diskriminierung trotzdem nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist dies der kleine Beitrag, den wir (Künstler?) dazu leisten können, die Welt zu einem etwas weniger dunklen Ort zu machen.

Pathetisch? Verlage wollen so etwas nicht? Kann sein. Ich habe noch keinen Großverlag gefunden, der auch nur das geringste Interesse an einem meiner Manuskripte gehabt hätte. Ist mir aber inzwischen egal. Ich schreibe, weil es mir Freude macht. Geld verdiene ich eh nicht daran und werde es vermutlich auch nie.

Man muss ja nicht mit erhobenem Zeigefinger herum-moralisieren. Aber man kann erlebbar machen, dass es einen Konflikt gibt, und dass es sich bei den Diskriminierungsopfern um ebenso fühlende Wesen handelt wie bei den Tätern, dass sie ebenso ein Recht auf Glück haben (oder sich dies zumindes wünschen), dass sie ebenso unter dieser Diskriminierung leiden, wie es die priviligierten Täter im umgekehrten Fall tun würden. Das ist meine Meinung, weil ich in meiner Familie intensives Mobbing (in der Schule) miterlebt habe und so etwas unerträglich finde. Niemals könnte ich seelenzerstörende Diskriminierung persönlich befürworten, und sei es in einem Fantasyroman. Sehr wohl kann ich Charaktere schaffen, die genau diese Meinung voller Überzeugung vertreten. Aber sie tun es als Charektere
meiner Geschichte, ich selber tue es nicht, und so kann/muss ich es darstellen.

Man muss sich nicht sklavisch ans reale (europäischen) Mittelalter klammern. Eine Fantasywelt, auch wenn sie ans europäische Mittelalter angelehnt ist, ist eine Fantasie und braucht nur dem Willen ihres Schöpfers zu folgen, unter der Prämisse , dass die Welt im Rahmen ihrer eigenen Regeln funktionieren können muss. Kann es funktionieren, dass ein(e) Angehörige(r) einer algemein als minderwertig enen Gruppe sich (erfolgreich) gegen alle anderen auflehnt? Vielleicht nicht. Aber kann es funktionieren, dass sich niemals ein Angehöriger dieser Gruppe erfolgreich auflehnt, dass es nicht mal irgendjemand irgendwann wenigstens versucht, und sei es aus einer akuten Notlage heraus? Natürlich kann man eine Welt schaffen, in der Frauen als minderwertige Wesen angesehen werden, in der sie sogar von sich selber so gesehen werden. Und natürlich kann man die Götter dieser Welt der Meinung sein lassen, dass sie die Frauen schon minderwertig geschaffen haben. Aber als Autor muss man meiner Meinung nach klarstellen, dass diese Wertung in unserer Welt und heutzutage nicht (mehr) akzeptabel ist.

Emanzipation ist kein digitaler Zustand: entweder da oder nicht da. Sie ist ein Prozess, der in den verschiedenen Teilen der Welt, in den verschiedenen Kulturen verschieden weit eingeführt ist. Man muss nur der Presse folgen, um auf Hochzeitsbräuche in Afrika zu stoßen, bei denen die (in der Regel minderjährige) Braut von der Feier entführt und vom Bräutigam und allen seinen Freunden in einer Massenvergewaltigung entjungfert wird. Zwangsverheiratungen kleiner Mädchen in eine Mehrehe, in denen sie unbezahlte Dienstmädchen der Hauptfrau und jederzeit willfährige (wehe nicht!) Bettgefährtinnen ihrer viel älteren Ehemänner sind, ähneln mehr der Sklaverei des Mittelalters, denn einem Ehemodell des 21. Jahrhunderts. Und durch das räumliche Zusammenwachsen unserer Welt, kommen wir mit solchen sozialen Konzepten auch in Europa (wieder) in Berührung. Regierungschefs moderner westlicher Staaten, die für sich öffentlich in Anspruch nehmen, jeder Frau jederzeit zwischen die Beine fassen zu dürfen (und die trotzdem gewählt werden!!!), Gäste unseres Landes, die sich Feiertage damit verschönen, dass sie gemeinschaftlich Frauen sogar in der Öffentlichkeit einkesseln, begrapschen, ausrauben und im Extremfall vergewaltigen ("Selbst schuld, warum laufen sie so angezogen und ohne Begleitung in der Öffentlichkeit herum!"), Zwangsverheiratung und Verbringung ins Ausland von minderjährigen Schülerinnen (in meinem eigenen Bekanntenkreis selber erlebt!), ... Das sind aus meiner Sicht Symptome, die eine Unterstützung der sexuellen Emanzipation heutzutage wieder zwingend erforderlich machen, und sei es durch Thematisierung in einem Fantasyroman.

Bestimmt gibt es eine Vielzahl von Lesern (oder Gamern oder Kinobesuchern), die gerne eine Welt konsumieren, in der ein richtiger Kerl alles kriegen kann, was er will. Und bestimmt möchte mancher Verlag diese Leserschaft gerne bedienen, genauso wie die Liebhaber von billiger Pornografie oder Heimatromanen bedient werden. Was gekauft wird, wird auch produziert. Aber jeder Autor muss für sich selber entscheiden, ob und wie er dieses Klientel bedienen will. Man kann es auch tun, indem man schreibt: Ja, in dieser Welt hat eine Frau weniger Rechte als ein Stück Nutzvieh, aber das ist nicht okay, sondern schrecklich und muss (zumindest nach Meinung der Frauen) geändert werden. Ob es ihnen gelingt, ist eine andere Sache. Aber sie haben das Recht, es zu wollen. Man kann dem Konsumenten solcher Diskriminierung-verherrlichenden Literatur am Ende sagen: Hat es Dir gefallen? Okay, dann bist Du ein Ar***!
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: FeeamPC am 11. September 2017, 01:07:32
Wenn ich eine Welt brauche, in der ein Mann oder eine Frau einfach das bekommt, was er oder sie will, dann schreibe ich lieber Erotik als Fantasy.
Fantasy baut auf dem auf, was wir kennen. Und das bekannteste System ist nun mal auch heute noch das Patriarchat, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Das dürfte vermutlich der Grund sein, weshalb in sehr vielen Fantasy-Welten die Frauen eben nicht gleichberechtigt sind, teils sehr deutlich sogar Menschen zweiter Klasse (Conan der Barbar lässt grüßen).
Ich schaue mir meine Leselektüre nicht nach dem Geselllschaftssystem aus, sondern danach, ob der Autor eine gute Geschichte erzählt. Die muss in sich schlüssig sein, und wenn die Basis ein Patriarchat ist, dann stehen die Chancen 99,99 %, dass die Frauen eben nicht gleichbereichtigt sind.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Trippelschritt am 11. September 2017, 06:30:26
@ Canis lupus niger

Ich folge lieber der FeeamPC als Deiner Argumentation. Und das nur aus einem einzigen Grund - oder sind es doch mehrere? Ich bin Schriftsteller und schreibe Geschichten. Und ich schreibe diese Geschichten, weil ich Menschen unterhalten möchte, sie zum Nachdenken anregen möchte, ihnen auch einmal eine andere Perspektive der Dinge zeigen möchte. Ich schreibe nicht, um die Welt zu verändern. Dafür schreibe ich lieber über Menschen. Und das steht alles im Zentrum menes Denkens.

Damit möchte ich Dir nicht widersprechen, dass vieles nicht in Ordnung ist im Verhältnis zwischen Mnn und Frau und es geboten wäre, da an einigen Stellen etwas zu ändern. Aber kaum etwas ist dafür weniger geeignet als Fantasyromane. Dieses Genre bietet einen Boden für ganz andere Dinge. Es gibt bereits große Erzählungen über das Rollenverständnis in sozialkritischer Literatur oder in Reiseliteratur vor ganz großen Schreibern. Rollen, die etwas mit Religion, arm und reich und vielen anderen Dinen zu tun haben. Sie sind ein würdiger und geeigneter Platz, wenn man dagegen anschreiben möchte.

Selbstverständlich kannst Du schreiben, was und in welchem Genre Du möchstest, weil diese Entscheidung jeder Autor immer für sich selbst trifft. Aber wenn er etws bewirken möchte, dann sollte er auch einen rahmen suchen, in dem er eine Chance dafür hat. Und abgesehen davon, so frauenverachtend ist die Fantasy gar nicht. Dafür sorgen schon die vielen guten Autorinnen. Und nicht nur die.

Liebe Grüße
Trippelschritt
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Guddy am 11. September 2017, 08:37:37
Zitat von: canis lupus niger am 11. September 2017, 00:07:41Gut, man könnte argumentieren, dass intellektuell eher anspruchslose Personen ohnehin nicht lesen, sondern RTL-Reality-Soaps gucken und Ballerspiele an PC oder Konsole zocken, aber wie zum Beispiel beim "Witcher" besteht zwischen Fantasy-Roman und Game oft nur eine hausdünne Trennung. Und es gibt leider genug Leute, die ihr moralisches Wertesystem nicht nur aus der realen Welt, sondern auch aus ihren bevorzugten Ballerspielen zusammenbasteln.

Aber beides - sowohl Belletristik, als auch virtuelle Literatur - dient in dieser Form primär der Unterhaltung. Das Videospiel ist nicht per se ein Ballerspiel. Ballerspiele sind nur ein Genre unter unendlich vielen. Genau, wie es intellektuell anspruchsvolle Bücher gibt, gibt es auch intellektuell anspruchsvolle Videospiele. Genau genommen hat sich die Videospielwelt derart gewandelt, dass einige mittlerweile vielschichtiger und tiefgründiger sind als die meisten Bücher.
Und nicht zuletzt: Ja, auch "intellektuell anspruchslose" Personen stecken ihre Nasen in Bücher. Und derer gibt es unheimlich viele. Wenn Bücher nur für die klugen Professoren unter uns wären, wäre das natürlich schön elitär, entspricht jedoch absolut nicht der Realität.

So, sorry für den Exkurs, habe mich ein wenig daran gerieben. ;) (Aber nicht falsch verstehen, bin nicht böse oder so, dachte nur ich sage es mal explizit. :) )


Zum eigentlichen Thema:
Ich liebe es, sozialkritische Themen in meinen Werken einfließen zu lassen, versuche dabei jedoch, es nicht mit dem Holzhammer anzugehen. Das Kritische kommt durch die Sicht des Protagonisten zustande. Hierbei (und nur hierbei, sonst darf der Protagonist sein wie er will) ist es mir persönlich tatsächlich wichtig, dass dieser in diesem Fall meine Ansichten teilt- oder im Laufe des Romanes diese annehmen wird.
Ich möchte, dass der Leser zum Nachdenken angeregt wird, indem er durch die Augen meines Protagonisten sieht - und nicht ständig direkt gesagt bekommt - wie abartig dieses und jenes ist. (Bei mir wird in erster Linie Rassismus und Ausbeutung angesprochen, das ist aber natürlich auch auf alles übertragbar).

Zum Thema "Fantasy und historische Korrektheit" hat Charlotte für mich schon alles gesagt. :)


Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Denamio am 11. September 2017, 11:04:36
Zitat von: canis lupus niger am 11. September 2017, 00:07:41
Gut, man könnte argumentieren, dass intellektuell eher anspruchslose Personen ohnehin nicht lesen, sondern RTL-Reality-Soaps gucken und Ballerspiele an PC oder Konsole zocken, aber wie zum Beispiel beim "Witcher" besteht zwischen Fantasy-Roman und Game oft nur eine hausdünne Trennung. Und es gibt leider genug Leute, die ihr moralisches Wertesystem nicht nur aus der realen Welt, sondern auch aus ihren bevorzugten Ballerspielen zusammenbasteln.

So Aussagen kann ich in einem Forum für Fantasy Handwerk nicht nachvollziehen. Mal davon abgesehen, dass es sehr diskriminierend ist, andere aufgrund ihrer Unterhaltungskultur als "intellektuell anspruchslos" zu verurteilen, gilt die Fantasy keineswegs als Hochkultur und wird häufig im gleichen Atemzug genannt. Thema Glashaus und so. Die zweite Aussage gehört in die 80/90er Jahre, zu Tipper Gore, Jack Thompson, Heavy Metal ist Satan und Dark Dungeons. 

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Zum eigentlichen Thema:
Es gibt eine Sache, die mich bei Geschichten etwas langweilt: Eine Welt, die zu sehr versucht mit dem Hammer heutige Moralvorstellungen in ein dafür unpassendes Szenario zu pressen oder die zu ähnlich unserer eigenen Gesellschaft ist. In einem Genre was den gesamten Kosmos als Spielfläche anbietet, finde ich es einfach spannender, auch über andere komplett andere Gesellschaftskonzepte zu lesen. Was nicht heißt, dass George Martin und Co für mich pauschal lahm sind, aber mein Interesse daran ist schlicht geringer.

Warum nicht völlig neue Gesellschaften konzipieren? Zum Beispiel funktionierte in einem meiner Schubladenbücher die Gesellschaft mittels farbiger Bänder, welche Zugehörigkeit zu einer Person symbolisierten und manchmal reichte es ein kunterbuntes Armband zu zeigen um Mord und Totschlag zu vermeiden.
Eine andere Welt hatte solch komplizierte Moralregeln, dass jeder ein Regelbuch dabei hatte, um nachzuschlagen zu welcher Tageszeit jetzt wer wem was zu sagen hat. Manche dieser Welten waren gleichberechtigt, andere unterdrückten den ein oder anderen. Mal gab es Rituale, die für uns und unser Moralbild keinen Sinn machten und dann wieder agierte eine Figur nicht so, wie man es nach Moralvorstellungen erwarten würde. Warum? Weil sie/er in einer anderen Welt aufgewachsen ist als wir.

Also ist mein Ansatz für Gleichberechtigung, Moral und ähnliches schlicht: Eigene Gesellschaft entwerfen, die Figuren dort reinwerfen und sich dort ausleben lassen. Wenn aus dem Bauch heraus aufgrund der jeweiligen Gesellschaftsregeln Diskriminierung entsteht, dann wird sie auch in den Text reingeschrieben, selbst wenn Tumblr nachher explodieren sollte. ;)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Valkyrie Tina am 11. September 2017, 11:27:05
Das große Problem, was ich bei der gesamten Problemlage von wegen "Realismus" sehe, ist, dass viele Fantasyromane sich nicht anschauen, wie die Verhältnisse wirklich waren, sondern ihre Vorstellung davon.

Ich schreibe ja sehr viel in Skandinavischen Welten, und habe dutzende Bücher über die Vikingerzeit gelesen (buchstäblich, ich wohne 10 Minuten von der Stockholmer Bibliothek entfernt).
Wikinger, das wissen ja alle, sind eine patriarchalische Gesellschaft, aber auch die Frauen waren hart, und konnten im Notfall ihren Mann stehen und... und fast alles, was "Man" über die Wikingerzeit weiß, ist falsch! Es gab jetzt einen großen Artikel über den Heerführer von Birka, einer der großen Städte der Wikingerära, und Überraschung! Der Führer war ne Frau! Nicht Notfallösung, sondern der General einer großen Stadt.

Und der Spiegel hat hier http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/schweden-wikinger-krieger-von-birka-war-eine-frau-a-1166985.html  (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/schweden-wikinger-krieger-von-birka-war-eine-frau-a-1166985.html)diesen tollen Artikel dazu, der nur die Vorurteile und den Wissensstand der Leute wiedergibt. Artikel, die in schwedischen Zeitungen erschienen sind, sind ungleich nuancierter. Aber die Leute wissen natürlich über ihre eigene Geschichte mehr, als Leute aus anderen Ländern.

Würde man diese Figur jetzt in ein Buch reinschreiben, würden sich die Leute beschweren, dass das unrealistisch ist. Weil sie nur ihre eigene Sichtweise kennen.

Und das ist jetzt nur ein Beispiel, es gibt noch dutzende mehr. Die Mentalität der alten Zeit ist uns einfach fremd. 2. Beispiel: https://satwcomic.com/baby-daddy
Die Frauen dürfen mit anderen Männern schlafen, aber das Baby gehört zur Sippe des Hausherren. Das ist nicht nur eine andere Sichtweise. Das ist eine andere Welt. Und so etwas in einem Buch zu vermitteln, ist wahnsinnig schwer, ohne ins Schulmeistern abzugleiten.

Was mich an solchen Geschichten wie Martin o.ä. so nervt, ist diese partielle Genauigkeit: es dürfen auf keinen Fall Schwerter am Set sein, die nicht in die Zeit passen. Aber über Menschen und deren System gehen wir mal großzügig hinweg. Da tackern wir einfach ein bisschen Patriarchat drüber, wenns ganz abstrus wird, schreien wir "die Kirche ist böse", das ist auch schön modern, das weiß ja jeder (weil es ja niemals Heilige wie Hildegard von Bingen gab, die sich mit den Päpsten angelegt haben) und dann sind wir gritty und realistisch.  :darth:
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Evanesca Feuerblut am 11. September 2017, 11:31:55
@Aphelion
ZitatAuthentische Darstellungen von der Moral des Mittelalters o.ä. halte ich modernen Romanen für unmöglich. Dabei muss es nicht einmal um sozialpolitische Themen gehen. Der damalige Zeitgeist war von unserem heutigen so verschieden, dass grundlegende Sichtweisen für uns nur noch abstrakt nachvollziehbar sind und wir in der Regel nicht mitfühlen können.
Finde ich jetzt nicht oder nicht so rigoros. Klar, es ist schlicht oft nicht genug belegt, wie die einfachen Menschen gedacht haben, aber man kann sich mit Empathie und Recherche dem so weit annähern, wie es möglich ist. Gerade das finde ich so spannend an historischen Stoffen. Zu versuchen, sich in die damaligen Gedankengänge reinzufinden und dabei trotzdem plausibel handelnde, auch für heutige Leser*innen "mögbare" Charaktere zu schaffen.
Es ist zwar trotzdem nur eine Näherung, aber es mit "ist unmöglich" gar nicht erst zu versuchen, ist schwach.

ZitatBloße Übertreibungen funktionieren nicht zuverlässig. Sie sind tatsächlichen Extremen zu ähnliche und können leicht damit verwechselt werden (wie Poes Gesetzt so treffend auf den Punkt bringt). Insbesondere Menschen, die entsprechende Ansichten tatsächlich vertreten, werden eine solche Übertreibung in der Regel nicht als solche erkennen - dazu ist sie noch zu sehr im Rahmen ihres Weltbilds.
Da bin ich dann wieder bei dir. Wenn man Menschen mit von unserer Moral abweichenden Vorstellungen darstellen will, muss man sich oft bewusst machen, dass die in ihren Augen nichts falsch machen. Nur in unseren. (In meinen Augen hat @FeeamPC genau das perfekt drauf. Man merkt genau, dass ihre Antagonist*innen sich für integer halten und innerhalb der Weltsicht ihrer Welt, aus ihrer Sicht, logisch handeln. Trotzdem stößt das mich als Leserin massiv ab und ich habe wenig Sympathie für diese Personen.)

Oft muss man aber nur konsequent genug etwas zu Ende denken. Ich habe eine Arcanepunkwelt, in der, Status Quo, die meisten Menschen bisexuell sind, also haben wir eine binormative Gesellschaft statt einer heteronormativen (und die Folgefrage ist dann: Werden die homo- und heterosexuellen Menschen ausgegrenzt oder werden sie nur etwas komisch angeschaut, weil sie sich nur auf ein Geschlecht "einschießen" und das den Meisten merkwürdig vorkommt?).
Daraus folgen dann weitere Fragen: Ist meine Gesellschaft trotzdem cis-normativ oder werden auch andere Geschlechtsidentitäten anerkannt? Müsste in einer binormativen Welt nicht auch die Dreierehe erlaubt sein? Generell polyamore Tendenzen verbreitet und viel mehr ein Thema? Sind sie bei mir allerdings nicht - etwas, was ich ändern muss, weil es unlogisch ist oder etwas, was ich erklären kann und das zusätzliches Konfliktpotential in die Geschichte bringt?
Und daraus natürlich Folgen wie "Was hat das für Auswirkungen auf die Alltagssprache?" Ein riesiger Rattenschwanz an Entscheidungen ... Der aber ganz von selbst kommt, wenn man auch nur EINEN Parameter der Welt ändert und dann die Folgen anschaut.

@canis lupus niger
ZitatDeshalb halte ich es für erforderlich, (zumindest in meinen) Romanen solche Themen wie Diskriminierung -wenn sie denn angeschnitten werden - als Problem zu thematisieren. Auch wenn Diskriminierung zu meiner Fantasywelt dazu gehört, auch wenn die große Mehrheit darin, sowie Gesetz, Religion und Tradition Diskriminierung für richtig halten, so finde ich, ist es meine Pflicht als Autor, darzustellen, dass Diskriminierung trotzdem nicht in Ordnung ist. Vielleicht ist dies der kleine Beitrag, den wir (Künstler?) dazu leisten können, die Welt zu einem etwas weniger dunklen Ort zu machen.
Sehe ich genauso.

ZitatDas große Problem, was ich bei der gesamten Problemlage von wegen "Realismus" sehe, ist, dass viele Fantasyromane sich nicht anschauen, wie die Verhältnisse wirklich waren, sondern ihre Vorstellung davon.
@Valkyrie Tina Definitiv und mich stört das oft genug auch beim Lesen so sehr, dass ich ein Buch erstmal weglegen muss.
Da muss man dann genau recherchieren. (Und ich werde dich bei Gelegenheit über Wikinger ausfragen müssen, ich habe nämlich einen in meinem Vampircast herumrennen.)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Churke am 11. September 2017, 12:01:58
Zitat von: Amanita am 10. September 2017, 18:53:04
Um nochmal auf das Beispiel Song of Fire and Ice zurückzukommen. Da muss ich zugeben, dass ich persönlich sehr wohl ein moralisches Problem mit dieser Todesstrafeszene am Anfang habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen den Autor ablehne oder finde, dass er sowas nicht schreiben dürfte, aber es mindert meine Sympathie für die Figur durchaus etwas.

Sicher macht er beim Leser damit keine Punkte, aber es entspricht der dramatischen Logik. Die Welt von Westeros wäre nicht so, wie sie ist, wenn aufrechte Charaktere vor der Todesstrafe zurückschreckten. Was ich damit meine: Die Todesstrafe muss eine sozial akzeptierte Notwendigkeit sein, damit sie von Tyrannen "missbraucht" werden kann.
In unserer Gesellschaft des Duckmäuser- und Schreibtischtätertums delegiert man die Verantwortung möglichst weit weg und wäscht sich die Hände öffentlich in Unschuld. Ein Mann ist ein Mann, wenn er sagt: "Wenn es getan werden muss, mache ich es selbst."

Zitat von: Aphelion am 10. September 2017, 23:13:49
Authentische Darstellungen von der Moral des Mittelalters o.ä. halte ich modernen Romanen für unmöglich. Dabei muss es nicht einmal um sozialpolitische Themen gehen. Der damalige Zeitgeist war von unserem heutigen so verschieden, dass grundlegende Sichtweisen für uns nur noch abstrakt nachvollziehbar sind und wir in der Regel nicht mitfühlen können.
Da bin ich anderer Meinung. Ja, Menschen sind in aller Regel außerstande, kokurrierende Wertvorstellungen zu akzeptieren oder auch nur zu verstehen. In multikulturellen Staaten führt das regelmäßig zu Mord und Totschlag.
Aber: Ein Schriftsteller, der sich in Figuren hineinversetzen kann, sollte sich auch in Moralvorstellungen hineindenken können. Ob und wie das beim Leser ankommt, steht natürlich auf einem anderen Blatt.  ::)

Zitat von: FeeamPC am 11. September 2017, 01:07:32
Wenn ich eine Welt brauche, in der ein Mann oder eine Frau einfach das bekommt, was er oder sie will, dann schreibe ich lieber Erotik als Fantasy.
Ich erzähle gerne den Witz, dass das Wort "Krieg" von "kriegen" kommt. Der Krieg ist der Vater aller Dinge, denn wenn man ihn gewinnt, kann man sich alles nehmen. Das ist die unverschwurbelte Realität, und ich habe kein Problem damit, wenn ein Autor das so darstellt.

Zitat von: Valkyrie Tina am 11. September 2017, 11:27:05
Und das ist jetzt nur ein Beispiel, es gibt noch dutzende mehr. Die Mentalität der alten Zeit ist uns einfach fremd. 2. Beispiel: https://satwcomic.com/baby-daddy
Die Frauen dürfen mit anderen Männern schlafen, aber das Baby gehört zur Sippe des Hausherren. Das ist nicht nur eine andere Sichtweise. Das ist eine andere Welt. Und so etwas in einem Buch zu vermitteln, ist wahnsinnig schwer, ohne ins Schulmeistern abzugleiten.

Eine ziemlich zeitgeistige Interpretation, fürchte ich.
Der Ehemann gilt immer als Vater des Kindes, ob er der Frau nun beigewohnt hat oder nicht. Das war schon immer so, bis auf den heutigen Tag.
Damit wollte man erstens Rechtssicherheit schaffen und zweitens das Kind vor dem Makel der Unehelichkeit schützen.
Wenn das dem Ehemann nicht gefällt, muss er die Vaterschaft anfechten, was früher deutlich weniger Erfolgsaussichten hatte als heute.
Das bedeutet aber noch lange keine offene Ehe.
Und, ganz nebenbei bemerkt, frage ich mich, was das in kindgerechten Webcomis verloren hat. Social Engineering durch Sexualerziehung?  :hmmm:


Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 11. September 2017, 15:44:44
Zitat von: canis lupus niger am 11. September 2017, 00:07:41Auch wenn Diskriminierung zu meiner Fantasywelt dazu gehört, auch wenn die große Mehrheit darin, sowie Gesetz, Religion und Tradition Diskriminierung für richtig halten, so finde ich, ist es meine Pflicht als Autor, darzustellen, dass Diskriminierung trotzdem nicht in Ordnung ist.
Genau das meine ich. Nur weil ich Ungerechtigkeiten welcher Art auch immer in meine Geschichten einbaue (etwa als Stilmittel, um Konflikte zu erzeugen), bedeutet das noch lange nicht, dass ich sie gutheißen muss. Dazu braucht es nur eine entsprechende Erzählerstimme, etwa einen Perspektivträger, der sich über das System Gedanken macht, um den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen. Ich versuche nicht zu moralisieren, würde aber wahrscheinlich lügen, wenn ich behaupten würde, meine Geschichten seien frei von persönlichen Meinungen und Weltanschauungen, denn ich muss mich ja mit ihnen identifizieren können. Mit einer Welt, wie Bakker sie beschreibt, kann ich das zunehmend weniger, denn das Maß an Misogynie, das er verwendet, erscheint mir absurd, auch wenn ich seinen Weltenbau ansonsten grandios finde.

Nur weil eine Welt sexistisch und patriarchalisch ist, muss man Frauen als etwas etwas Minderwertiges darstellen, wie Bakker es tut. Vielleicht sehe ich gerade deshalb Martins Ansatz als sehr ausgewogen an - ich weiß, wie extrem es noch geht. Martin erschafft starke, selbstbewusste Frauencharaktere, aber auch sie sind nur "Produkte" ihrer Lebenswelt und ticken anders als wir. Und bei Martin unterscheidet sich das Frauenbild von Region zu Region, bei Bakker hingegen nicht - ein entscheidender Unterschied. Auch wenn patriarchalische Denkmuster in unserer Welt weit verbreitet sind, bedeutet das ja nicht, dass alle Gesellschaften in Bezug auf Männer und Frauen die gleichen Vorstellungen haben. Mir fällt spontan keine Gesellschaft ein, die unserem heutigen Ideal gerercht wird, denn meistens existierten klar definierte Geschlechterrollen, die sich aber je nach Kulturkreis stark voneinader unterscheiden konnnten. Martin stellt das dar und verfällt nicht ins Extreme, und er stellt seine Charaktere als eigene, individuelle Persönlichkeiten dar. Klar, er hätte mit dem Thema Gleichberechtigung anders umgehen können - dann wäre es aber eine andere Geschichte geworden, und ich mag sie so, wie sie ist (von den Wartezeiten mal abgesehen). Mit unterschwelligem Sexismus oder Einfallslosigkeit hat das in meinen Augen nichts zu tun.


Zitat von: Evanesca Feuerblut am 11. September 2017, 11:31:55
@Aphelion
ZitatAuthentische Darstellungen von der Moral des Mittelalters o.ä. halte ich modernen Romanen für unmöglich. Dabei muss es nicht einmal um sozialpolitische Themen gehen. Der damalige Zeitgeist war von unserem heutigen so verschieden, dass grundlegende Sichtweisen für uns nur noch abstrakt nachvollziehbar sind und wir in der Regel nicht mitfühlen können.
Finde ich jetzt nicht oder nicht so rigoros. Klar, es ist schlicht oft nicht genug belegt, wie die einfachen Menschen gedacht haben, aber man kann sich mit Empathie und Recherche dem so weit annähern, wie es möglich ist. Gerade das finde ich so spannend an historischen Stoffen. Zu versuchen, sich in die damaligen Gedankengänge reinzufinden und dabei trotzdem plausibel handelnde, auch für heutige Leser*innen "mögbare" Charaktere zu schaffen.
Es ist zwar trotzdem nur eine Näherung, aber es mit "ist unmöglich" gar nicht erst zu versuchen, ist schwach.
Und gerade davon geht ja auch der Reiz aus: Sich in die Köpfe von Menschen hineinzudenken, die gänzlich andere Moralvorstellungen haben als wir, und zugleich versuchen, mit ihnen fair umzugehen und sie nicht als Ar********* darzustellen, da sie schließlich auch nur die Produkte ihrer Zeit bzw. ihrer Lebensumstände sind.

Zitat von: Valkyrie Tina am 11. September 2017, 11:27:05Was mich an solchen Geschichten wie Martin o.ä. so nervt, ist diese partielle Genauigkeit: es dürfen auf keinen Fall Schwerter am Set sein, die nicht in die Zeit passen. Aber über Menschen und deren System gehen wir mal großzügig hinweg. Da tackern wir einfach ein bisschen Patriarchat drüber, wenns ganz abstrus wird, schreien wir "die Kirche ist böse", das ist auch schön modern, das weiß ja jeder (weil es ja niemals Heilige wie Hildegard von Bingen gab, die sich mit den Päpsten angelegt haben) und dann sind wir gritty und realistisch.  :darth:
Redest du von ASOIAF oder von GOT? Da muss man schon unterscheiden, denn die Serie vereinfach vieles! ;) Eine "böse" Kirche, die an allem Schuld ist, gibt es nicht - das merkt man schon daran, dass es die Religion der Sieben nicht groß zu stören schein, dass die Nordmänner Bäume anbeten, von einigen Fanatikern mal abgesehen - wobei sich deren Hass eher gegen den Glauben an R'hllor richtet als gegen die Alten Götter.

Ich denke, das Patriarchat in Westeros lässt sich vor allem auf die immense Bedeutung des dynastischen Prinzips zurückführen, das in Europa bis weit in die Neuzeit hinein den Söhnen Vorrang vor den Töchtern gegeben hat. Traditionell heiratet hier die Frau in die Familie des Mannes ein und die Kinder gehören der Familie des vaters an. Ich denke, das liegt auch daran, dass die patrilineare in einer archaischen Welt "sicherer" ist, da Frauen häufig bei der Geburt starben. Laut Wikipedia lag die Lebenserwartung von Frauen über die meiste Zeit des Mittelalters zwischen 24 und 25 Jahren, bei Männern zwischen 28 und 32 Jahren, was wohl vor allem an an Komplikationen im Verlauf von Schwangerschaftund Geburt lag. In den Instrieländern werden Frauen in der Regel deutlich älter al männer, doch je geringer der Entwicklungsstand, desto geringer werden auch die Geschlechtsunterschiede. Neben Faktoren wie Gewalt gegen Frauen spielt auch hier die unzureichende Versorgung von Frauen vor und nach der Entbindung eine Rolle.

Ich versuche nicht, das Patriarchat bzw. die patrilineare Erbfolge zu rechtfertigen, ich versuche nur zu ergründen, weshalb sie sich so oft durchgesetzt hat. Und ich denke, ein Faktor ist, dass Frauen häufig im Zuge von Schwangerschaft und Geburt starben und eine matrilineare oder gleichberechtigte Erbfolge daher ein gewisses Risiko darstellt, weil eine Frau bei der Geburt des ersten und einzigen Kindes sterben könnte, und auch das Überleben des Kindes nicht gesichert ist. Ein anderer grund mag die prüde Sexualmoral sein, die aber auch im mittelalterlichen Europa nicht immer und überall so strikt war,  wie sie in den Medien gerne dargestellt wird. Ein Beispiel dafür ist Wilhelm IX. von Aquitanien, der sich in selbst komponierten Liedern über die Sexualmoral der Kirche lustig machte. Seine Enkelin und indirekte Erbin als herzogin von Aquitanien, Eleonore, ist nicht nur als Ehefraue zweier Könige und Mutter von König Richard Löwenherz zu Berühmtheit erlangt, sondern war eine überaus selbstbewusste, eigenständige Herrscherfigur in ihrem eigenen Herzogtum.

Patriarchat bzw. patrilineare Erbfolge waren also in unserer nicht komplett undurchlässig für starke Frauenfiguren, und das ist auch bei Martin nicht der Fall. Erst unter Jaehearys I., dem vierten Targaryen-König, wurde die ausschießlich patrilinieare Erbfolge verankert, offenbar in Ahnlehnung an die Lex Salica der Merowinger, die für das dynastische Prinzip in Europa von zentraler Bedeutung ist. Jaehaerys war der Sohn von Aenys, dem erstgeborenen Sohn Aegons des Eroberers, folgte seinem Vater aber nicht direkt nach, weil die Thronfolge ungeklärt war und zunächst Aenys' Halbbruder Maegor ("der Grausame") die Macht an sich riss. Die Erbfolgeregelung entstand vor dem Hintergrund von Maegors sechsjähriger Schreckensherrschaft und zielte vor allem auf eine eindeutige Regelung der Thronfolge ab, da Jaehaerys während seiner 55 Jahre währenden Regierungszeit 13 Kinder zeugte und damit eine unüberschaubare Zahl an potentiellen Erben hinterlies. Da Jaehaerys' ältester Sohn und Erbe Aemon bereits vor dem Vater verstorben war und eine Tochter, Rhaenys, aber keine Sohn hinterlassen hatte, war unklar, wer von den vielen Erben denn nun den Thron besteigen sollte. Das Große Konzil von Harrenhal entschied sich für eine strikt patrilineare Erfolge, sodass Jahaerys' zweitältester Sohn Baelon als Thronfolger festgelegt wurde und Rhaenys' Ansprüche, die ihren Sohn Laenor Velaryon als Erben durchsetzen wollte (die Velaryons sind ihrerseits ein valyrischstämmiges Haus und eng mit den Targaryens verbandelt; die Mutter Aegons I. etwa war auch eine Velaryon), ignoriert wurden (deshalb wird sie in der Originalfassung auch the Queen Who Never Was genannt). Da Baelon kurz nach dem Konzil starb, bestieg dessen Sohn Viserys I. nach Jaehaerys' Tod den Thron. Viserys' selbst hielt sich allerdings nicht an die Beschlüsse des Konzils, da er seine Tochter Rhaenyra, das einzige Kind aus erster Ehe, das das Erwachsenenalter erreichte, als seine Erbin betrachtete, obwohl er einen Sohn aus zweiter Ehe, Aegon, hatte. Nach Viserys' Tod brach der als Tanz der Drachen bezeichnete Erbfolgekrieg zwischen Rhaenyra und Aegon aus, dem nicht nur die beiden Halbgeschwister, sondern auch fast alle Drachen der Targaryens und der Velaryons zum Opfer fielen.
Diese Geschehnisse zeigen mMn recht deutlich, dass das Patriarchat nicht zu allen Zeiten akzeptiert war und dass es durchaus starke Frauen gab, die ihren Anspruch durchsetzen wollten. Sowohl Rhaenyra als auch Rhaenys "the Queen Who Never Was" waren Drachenreiter und bewegten damit wie (viele andere Frauen der Targaryen und Velaryons auch) weitgehend jenseits der üblichen Kategorien, was von Männern und Frauen erwartet wurde. Für die valyrischen Drachenlords galt offenbar dasselbe.

In Dorne geht die Erbfolgeregelung auf die Einwanderung der Rhoynar zurück, bei denen Männer und Frauen in Erbangelegenheiten gleichberechtigt betrachtet wurden. Der Beibehalt dieser Regelung war eine Bedingung für den Anschluss Dornes und bietet natürlich sehr viel Potenteial für spannende Konflikte.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Aphelion am 11. September 2017, 15:52:13
v.a. @Evanesca Feuerblut @Churke

Zitat von: Evanesca Feuerblut am 11. September 2017, 11:31:55
[...]aber man kann sich mit Empathie und Recherche dem so weit annähern, wie es möglich ist. Gerade das finde ich so spannend an historischen Stoffen. Zu versuchen, sich in die damaligen Gedankengänge reinzufinden und dabei trotzdem plausibel handelnde, auch für heutige Leser*innen "mögbare" Charaktere zu schaffen.
Es ist zwar trotzdem nur eine Näherung, aber es mit "ist unmöglich" gar nicht erst zu versuchen, ist schwach.
Ich sehe darin kein Gegenargument, um ehrlich zu sein. Natürlich kannst du versuchen, dich historischen Settings anzunähern - vor allem in Fantasywelten, das ist ja gerade das Schöne an dem Genre! :) Aber indem du sagst, dass es nur eine Annäherung ist, bestätigst du ja im Grunde genommen meine These, eine (wirklich) authentische Darstellung sei nicht möglich. Auch habe ich nicht behauptet, man solle es nicht versuchen. Ich habe übrigens auch schon historische Sachen geschrieben, insofern musst du da irgendetwas missverstanden haben. :) Ich sage nur, dass man sich von dem Gedanken verabschieden sollte, eine solche Geschichte sei wirklich authentisch.

Empathie ist in dem Kontext verdammt schwierig und geht in den meisten Fällen sogar nach hinten los - was übrigens nichts mit persönlichen Stärken und Schwächen zu tun hat. :) Als moderne Menschen sind wir mental einfach zu weit weg. Geschlechterrollen wurden hier im Thread ja schon mehrfach aufgegriffen - aber die wirklich grundlegenden Probleme gibt es auch ganz woanders, für das Gender-Thema sind die meisten inzwischen sensibilisiert oder haben zumindest mal davon gehört.

Du hast z.B. eine implizite Vorstellung davon, was ein Kind ausmacht und was Kindheit bedeutet. Dazu gehören oberflächliche Aspekte wie Kleidung oder Spielzeug, aber auch Ansichten über Rechte und Pflichten, die angenommene Reife, den "Rang" im Vergleich zu Erwachsenen und Angehörigen anderer sozialer Klassen, ob du dem Kind überhaupt eine "Seele" zusprichst, ab welchem Alter aus dem Kind ein Erwachsener wird - oder erstmal ein Jugendlicher/ob es (aus der Perspektive der jeweiligen Gesellschaft) ein Übergangsalter gibt usw. Diese Vorstellung ist aber nicht universal und hat sich im Lauf der Geschichte stark verändert.

Ein paar andere Beispiele:
Dabei geht es in der Regel - erstmal - nicht darum, was universell richtig oder universell falsch ist. ("in der Regel", weil ich schon einige Ausnahmen sehe, z.B. alle Formen von sexuellem Missbrauch.) Menschen (und damit Gesellschaften) haben implizite Annahmen über alles. Ich nehme mich selbst davon übrigens nicht aus. Ich könnte keine vollständige Liste zusammenstellen, worauf Schreibende achten müssen (oder meiner Meinung nach sollten). Für AutorInnen besteht ein grundsätzliches Problem darin, erst einmal auf den Gedanken zu kommen, etwas zu recherchieren. Selbst ganz banale Dinge, die scheinbar selbstverständlich sind. Aber je historisch korrekter die Geschichte ist, desto mehr entfernt sie sich von der gemeinsamen Jetzwelt, in der wir leben, und wird für LeserInnen unzugänglicher.

Wenn Schreibende an "Authentizität" denken, geht es oft um Details: Keine Tomaten und keine 300 Hunderassen im europäischen Mittelalter. So etwas geht noch verhältnismäßig einfach; jedenfalls im Vergleich zu fundamentalen Annahmen. Aber selbst wenn wir alles über die Vergangenheit mit absoluter Gewissheit wüssten, wären authentische Geschichten, die als Geschichten funktionieren, nicht möglich.

Details kannst du manchmal einfach in eine Geschichte hineinwerfen oder sehr ökonomisch erklären - explizit oder implizit ("zeigen"). Von den o.g. Fundamenten kannst du nur eine begrenzte Anzahl den Lesenden näherbringen, bevor es anstrengend wird und es zu wenig Berührungspunkte zwischen ihrer Welt und der Welt der Geschichte gibt. Deshalb konzentrieren sich so viele historische Romane (mit oder ohne Fantasy) ja auch auf einzelne Kernthemen. :) Dadurch sind sie aber eben nicht authentisch, weil sie höchstens einzelne Aspekte in einer historischen Kulisse präsentieren, mit einem ansonsten modernen Gerüst. Das ist legitim und sogar notwendig, aber eben nicht authentisch. Wirklich auffällig wird das, wenn man historische historische Geschichten liest.

In manchen Geschichten sagt der Mentor: "Vergiss alles, was du bisher gelernt hast!" Aber das geht in der Wirklichkeit eben nicht wirklich. Empathie schießt sich hier oft ins Knie, denn Empathie ist von bisherigen Erfahrungen beeinflusst. Man kann (sollte!) natürlich versuchen, sich in andere hineinzuversetzen, aber je unähnlicher die Kulturen sind, desto größer wird die Verzerrung. Selbst innerhalb einer Kultur stellt das eine Herausforderung dar. Egal wie objektiv wir sein wollen: Wir sind es nicht. Und weil Menschen z.B. zu unrealistischem und defensivem Optimismus (http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/optimismus/10929) neigen, denkt jetzt mindestens eine Person, die das hier liest, "Üüüch aber nüch!" und merkt es nicht einmal oder ist trotz dieses Hinweises der festen Überzeugung, eine Ausnahme zu sein! :D Sogar es zu wissen ist kein ausreichender Schutz: Die Falle schnappt trotzdem zu, aber im besten Fall nicht ganz so stark.

In reinen Fanatsywelten, die nur grob auf unserer basieren, ist eine vermeintliche Authentizität keine Ausrede. So etwas ähnliches beschreibst du in deinem Post ja auch, denn diesem Rattenschwanz an Entscheidungen muss man sich eben stellen, sobald die Grundannahmen bzw. Fundamente erst einmal stehen. :)

Ein Freund von mir spielt LARP und hat dazu einen sehr schönen Satz gesagt: Letztlich geht es um das Ambiente (statt um buchstäbliche Authentizität). Dieses Ambiente entsteht durch Requisiten, den Plot, die Spieler und die Location. Das lässt sich auch auf geschriebene Geschichten übertragen. :)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Kati am 11. September 2017, 16:28:31
Zitat von: AphelionDetails kannst du manchmal einfach in eine Geschichte hineinwerfen oder sehr ökonomisch erklären - explizit oder implizit ("zeigen"). Von den o.g. Fundamenten kannst du nur eine begrenzte Anzahl den Lesenden näherbringen, bevor es anstrengend wird und es zu wenig Berührungspunkte zwischen ihrer Welt und der Welt der Geschichte gibt.

Das ist etwas, was ich so nicht unterschreiben würde. Man kann Lesern mehr zutrauen, als das. Und ich würde historische Gesellschaften nicht als so fremd einstufen, dass sich ein Leser in einem gut erzählten historischen Roman da nicht reinfuchsen kann, auch, wenn es anders ist, als die Lebensrealität, die er kennt. Dazu kommt auch, dass historische Gesellschaften nicht homogen waren, genauso, wie unsere moderne Gesellschaft nicht homogen ist. Es gab andere Denkrichtungen, Ansätze, Moralvorstellungen etc., aber diese lassen AutorInnen auch unbedingt Freiheiten, in welchem Ausmaß sie sie umsetzen und darstellen wollen. Weil trotz einem gewissen Zeitgeist nicht alle Menschen gleich gedacht haben, genauso wie heute. Ich muss meine Figuren in Bahnen denken lassen, die in der entsprechenden Epoche möglich bzw. wahrscheinlich waren. Aber das geht auf viele unterschiedliche Arten. Und wieso ein Leser das nicht verstehen sollte oder davon überfordert sein sollte, verstehe ich auch nicht so recht. Leser sind auch nicht überfordert, wenn sie Romane aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert lesen, die logischerweise zu 100% historische Denkweisen und gesellschaftliche Muster widerspiegeln, weil sie aus dieser Epoche stammen. Trotzdem erfreuen sich diese Romane ziemlicher Beliebtheit. Dass das bei modernen historischen Romanen plötzlich anders sein soll, ergibt für mich nicht so viel Sinn.

Alles, was du jetzt aufgezählt hast, sind auch unbedingt Dinge, die so gut wie alle Autoren historischer Romane, die ich hier im Forum und auch außerhalb davon kenne, unbedingt in ihrer Recherche beherzigen würden. Wir wissen natürlich, dass Recherche über reine Fakten hinausgeht und ich glaube nicht, dass das eine bahnbrechende Erkenntnis ist – die meisten Autoren historischer Romane beherzigen das und recherchieren auch dementsprechend. Kindheitskonstrukte, Schönheitsideale und dergleichen kann man recherchieren und, ja, mit etwas Übung auch nachempfinden, selbst dann, wenn man sie nicht gutheißt. Das geht. ,,Historisch authentisch" bedeutet doch nicht ,,Zu 100% korrektes Abbild einer historischen Epoche". Natürlich geht das nicht. Wir können nicht einmal die Zeit, in der wir selbst leben, zu 100% korrekt wiedergeben, weil unser Bild durch unsere eigenen Erfahrungen geprägt ist. Und genau darum geht es ja auch. Authentisch bedeutet ,,So hätte es gewesen sein können", nicht zwingend ,,Genau so, wie ich es sage, war es". Natürlich kann ich nicht alle Facetten einer Epoche im selben Roman darstellen. Natürlich muss ich mich auf ein Kernthema, über das ich schreiben möchte, konzentrieren. Sieh es so: Du erschaffst keine objektiv zu 100% korrekte Abbildung einer Epoche. Du erschaffst über deine Hauptfigur(en) eine mögliche subjektive Wahrnehmung einer historischen Epoche und die kann authentisch ausfallen oder eben nicht.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Churke am 11. September 2017, 19:45:18
Zitat von: Mithras am 11. September 2017, 15:44:44
Nur weil ich Ungerechtigkeiten welcher Art auch immer in meine Geschichten einbaue (etwa als Stilmittel, um Konflikte zu erzeugen), bedeutet das noch lange nicht, dass ich sie gutheißen muss. Dazu braucht es nur eine entsprechende Erzählerstimme, etwa einen Perspektivträger, der sich über das System Gedanken macht, um den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen.

These: Ein System kann noch so ungerecht und unterdrückend sein. Es existiert, weil und so lange es die Menschen für die natürliche Ordnung der Dinge halten. Ihnen fehlt einfach die Fähigkeit, es in Frage zu stellen, weil sie nichts anderes kennen.
Wenn du im 18. Jahrhundert die Bauern befreien wolltest, warst du ein Terrorist und Unruhestifter, und die Bauern meldeten dich den Behörden.

Um das überhaupt nur zu problematisieren, braucht man einen Perspektivträger mit heutigen Vorstellungen. Bei historischen Themen geht das nicht. Da mache ich es so, dass die Dinge einfach so darstelle, wie sie sind. Die Wertung überlasse ich dem Leser. Und wenn der nicht werden will, dann ist das seine Sache.

In der Fantasy sind kritische Perspektivträger zwar nicht unauthentisch, aber es gibt andere Gründe, die dagegen sprechen. Wie oben ausgeführt, beruht die Macht jedes Systems darauf, dass es nicht in Frage gestellt wird. Genau dies tut der kritische POV aber und bedroht damit das System. Wenn genügend Frauen den Patriarchen den Gehorsam verweigern, ist es kein Patriarchat mehr. Indem sich solche Figuren einfüge, reiße ich bereits ein Loch in die Wand. Das System bröckelt.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Aphelion am 11. September 2017, 20:52:06
Zitat von: Charlotte am 11. September 2017, 16:28:31
,,Historisch authentisch" bedeutet doch nicht ,,Zu 100% korrektes Abbild einer historischen Epoche".
Wenn du authentisch so (nicht) definierst, sprechen wir ungefähr von derselben Sache. :) "Das ist nicht authentisch" ist auch nicht dasselbe wie "das darf man nicht" oder "das ist schlecht". Wie ich in meinem letzten Post ebenfalls bereits schrieb, sind Annäherungen und Versuche natürlich möglich.

Ich habe übrigens nie behauptet, irgendwas Bahnbrechendes geschrieben zu haben. ;) Ich habe lediglich (wie alle hier) meine Ansicht dargelegt. Das sind logischerweise Punkte, die naheliegen - aber es sind eben auch Punkte, die selbst bei auflagenstarken Publikationen viel zu oft nicht berücksichtigt werden. Das hat weder mit dir noch mit deinen Freunden noch mit TZ-Mitgliedern zwingend etwas zu tun. Ich spreche in dem Fall ja auch nicht von meinen persönlichen Freunden und Bekannten, sondern von Schreibenden im Allgemeinen. Übrigens ganz bewusst. :)

ZitatUnd wieso ein Leser das nicht verstehen sollte oder davon überfordert sein sollte, verstehe ich auch nicht so recht.
Beim Lesen von guten Geschichten geht es nicht nur um das rationale Verstehen. Um mit einer Person mitfühlen zu können, braucht es Berührungspunkte. Wie diese Berührungspunkte aussehen, kann ganz unterschiedlich sein.

Andererseits kann man natürlich auch sagen: Es gibt für alles Leser. Ich habe mich in meinem Beitrag allerdings nicht auf Einzelpersonen bezogen, sondern mir ging es um einen Durchschnitt, jedenfalls um einen ungefähren. Und auch das ist an sich keine Wertung, daraus kannst du unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. :)

Bei Romanen aus dem 18./19. Jahrhundert würde ich (als Liebhaberin dieser Literatur, obwohl weniger des 18. Jhdts.) nicht von ziemlicher Beliebtheit sprechen. Jedenfalls nicht im Allgemeinen. In bestimmten Kreisen? Unbedingt! Aber das ist eine selektive Betrachtung.

Zudem werden diese Werke heute anders wahrgenommen als damals. "The Picture of Dorian Gray" galt als unmoralisch, als es erschien. Heute würe z.B. ich ;) sagen: Wieso? Es werden zwar unschöne Themen angesprochen, aber dafür bekommt Dorian am Ende auch die Quittung und es wird nicht als Heldentat dargestellt. Und ja, auch bei der Erstauflage fanden nicht alle das Buch unmoralisch. Aber dass es überhaupt unmoralisch sein könnte erschließt sich für viele oft nicht mehr - jedenfalls nicht ohne Überdenken oder Zusatzwissen, das nicht direkt aus dem Text selbst stammt. Wenn ich heute eine Geschichte schreibe, möchte ich sie nicht zusätzlich erklären. Sie soll für sich genommen funktionieren.

Das Beispiel von Dorian Gray fällt mir auch deshalb ein, weil ich das vor ... Jahren :D in der Schule gelesen habe und wir darüber sehr rege Diskussionen hatten. Mit diesem Aspekt ("Was soll daran unmoralisch oder anstößig sein?") haben sich fast alle schwer getan. Diese Anekdote ist nicht repräsentativ, aber in meinen Augen schon etwas repräsentativer als z.B. deine oder meine schreibenden Bekannten, die mehr spezifisches Hintergrundwissen besitzen oder sich grundsätzlich bewusster mit Büchern auseinandersetzen.

Das Buch ist immer noch verständlich - aber wie das Buch insgesamt wahrgenommen wird, hat sich im Durchschnitt verändert. Du kannst durch andere Brillengläser blicken, aber nicht durch andere Augäpfel. Sowohl als Leserin als auch als Autorin. Und auch das bedeutet nicht "das darf man nicht" oder "das ist schlecht".

Das ist jetzt aber auch eine Grundsatzfrage und führt vielleicht ein bisschen vom Thema weg. ;) Ich halte es für wichtig, so etwas zur Kenntnis zu nehmen und aushalten zu können, dass nicht alles 100% super oder 100% schlecht ist. Ich bin mir auch im Klaren darüber, dass meine Beobachtungen genauso selektiv und subjektiv sind wie die aller anderen. Eine solche Beobachtung ist für mich nicht automatisch eine Wertung und mit dieser Unsicherheit, die dadurch entsteht, muss man leben können.

... wenn man denn will. Andere halten das für falsch oder gehen von ganzen anderen Voraussetzungen aus - und auch das ist vollkommen in Ordnung. :)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Fianna am 11. September 2017, 23:32:04
@Mithras
Die meisten Statisken zur durchschnittlichen Lebenserwartung zählen doch die Kindersterblichkeit mit hinein. Wer da einmal das Erwachsenenalter erreicht, wird in der Regel etwas oder deutlich älter als die angegebene durchschnittliche Lebenserwartung laut Statistik.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: FeeamPC am 12. September 2017, 00:08:04
Leute, der Titel lautet: Fantasywelten!
Nix authentisch, alle diese Welten existieren real nicht und existierten nie.  Jeder Autor kann hineinfantasieren, was er möchte, und wie er es möchte. Damit der Leser mitzieht, muss das Systemlediglich in sich schlüssig und aus sich selbst heraus verständlich und verbindlich sein. Egal,ob mit oder ohne Emanzipation.
Und was die Leser angeht: a) halte ich sie für durchaus intelligent, b) denke ich, dass sie in erster Linie der Unterhaltung wegen Fantasy lesen und nicht, weil sie gesellschaftskritische Standpunkte beleuchtet sehen wollen, und c) ist das Hineindenken in klingonische Mentalität nicht schwieriger oder unmöglicher als in die eines Wikingers.
Klar recherchiere ich, wenn meine Handlung im Weltall spielt, damit sie nicht völlig unglaubwürdig wird. Keine Toneffekte im luftleeren Raum, da unmöglich.
Klar recherchiere ich, wenn ich Wikinger-Fantasy schreibe, damit die Kerle auf den ersten Blick einigermaßen echt und plausibel wirken. Er soll nicht gerade eine römische Toga und einen indischen Turban tragen. Auch keinen dieser unsäglichen Hörnerhelme.
Aber weder ich noch meine Leser wollen genau wissen, wie ein echtes Wikinger-Schwert aussieht, was für Schuhwerk der Held trägt und ob ein Dorschfilet für ihn häufiger auf den Tisch kommt als Bärenbraten.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 12. September 2017, 00:43:40
Zitat von: Fianna am 11. September 2017, 23:32:04
@Mithras
Die meisten Statisken zur durchschnittlichen Lebenserwartung zählen doch die Kindersterblichkeit mit hinein. Wer da einmal das Erwachsenenalter erreicht, wird in der Regel etwas oder deutlich älter als die angegebene durchschnittliche Lebenserwartung laut Statistik.
Das stimmt zwar, allerdings liegt die Säuglingssterblichkeit von Jungen auch im heutigen Mitteleuropa über der von Mädchen. Das liegt zum einen an der Größe der Neugeborenen (Jungen sind größer als Mädchen und so kommt es leichter zu Komplikationen bei der Geburt), zum anderen daran, dass Jungen anfälliger für verscheidene Erbkrankheiten sind, deren Gene auf dem X-Chromosom liegen, von dem Männer i. d. R. nur eines haben (vom Klinefelter-Syndrom mal abgesehen).
Auch im Mittelalter war die Sterblichkeit bei männlichen Säuglingen höher als bei weiblichen, der Unterschied in der Gesamt-Lebenserwartung lässt sich damit also nicht erklären.

Zitat von: FeeamPC am 12. September 2017, 00:08:04
Leute, der Titel lautet: Fantasywelten!
Nix authentisch, alle diese Welten existieren real nicht und existierten nie.  Jeder Autor kann hineinfantasieren, was er möchte, und wie er es möchte. Damit der Leser mitzieht, muss das Systemlediglich in sich schlüssig und aus sich selbst heraus verständlich und verbindlich sein. Egal,ob mit oder ohne Emanzipation.
Viele Autoren lehnen ihre Welt aber sehr stark an historische Vorbilder an, etwa Guy Gavriel Kay, der ganze Epochen inkl. deren Sprachen in eine fiktive Welt verlagert und damit praktisch alternative Geschichtsschreibung betreibt. Sein Ansatz liegt mit nicht, aber da er sich nun einmal in einem solchen Maße an der Realität orientiert, ist Authentizität umso wichtiger.
Und häufig geht es ja um ein bestimmtes Gefühl, das der Autor vermitteln will. Eine Adaption Alexanders des Grroßen wirkt umso "echter", je näher sie dem Vorbild kommt, und dazu gehört z. B. auch aristotelisches Gedankengut.

Zitat von: Churke am 11. September 2017, 19:45:18Wenn du im 18. Jahrhundert die Bauern befreien wolltest, warst du ein Terrorist und Unruhestifter, und die Bauern meldeten dich den Behörden.
Spricht etwas dagegen, einen solchen "Terroristen" zum Perspektivträger zu machen?
Sicher, das funktioniert bei weitem nicht in allen Fantasyromanen und wäre auf Dauer ermüdend, aber ich behaupte ja nicht, dass Chraktere, die sich Gedanken über das System machen, es automatisch in Frage stellen müssen. Wer  in diesem Denkmuster feststeckt, wird letztlich zum Schluss kommen, dass alles so bleiben soll wie es ist, doch es geht häufig ja nicht um das Resultat, sondern um den Denkprozess per se.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Denamio am 12. September 2017, 01:10:19
Zitat von: Mithras am 12. September 2017, 00:43:40
Eine Adaption Alexanders des Grroßen wirkt umso "echter", je näher sie dem Vorbild kommt, und dazu gehört z. B. auch aristotelisches Gedankengut.

Da würde ich widersprechen. Ich erinnere mich an einen Anime, da ritt Alexander auf einem Streitwagen durch Tokyo und prügelte sich mit Gilgamesh. Da war es absolut egal ob er authentisch war oder nicht, als Charakter wirkte er echt, war mit dem Storyrahmen konsistent und zu jedem Zeitpunkt glasklar Alexander der Große.
Wie? Sie haben mit ein paar gezielten Charakterzügen eine Figur skizziert, wie man sie sich durchaus auch als Alexander vorstellen konnte. Die Echtheit kam im Kopf des Konsumenten. Und tun wir Autoren diese Pinselstriche nicht mit jedem Satz? Ich beschreibe nicht jede Falte im Gesicht, ich schreibe "Sturm und Salzwasser hatten ihrer Haut den Charakter von Leder verliehen". Das ist nicht bis ins Detail authentisch mit der Vorstellung ihrer Falten wie ich sie im Kopf hatte - aber reicht für Echtheit beim Leser. Genauso funktioniert es doch mit Gesellschaftssystemen in Geschichten. Ich brauch keine komplette Adelshierarchie und Abhandlung über Handelsgesetze, noch muss ich wissen welcher Wachmann wann geboren wurde.
Mir reicht zu wissen, dass es Adel gibt, eine Handelsgilde mit Macht mitmacht und es Wachleute gibt, die auffällig jung sind. Das reicht schon für eine Kopfvorstellung über die Gesellschaft. Mit den paar Infos ist es authentisch genug.

Nicht zuletzt muss ich als Kulturanthropologe erwähnen, dass es Authentizität nicht gibt, aber das ist ein anderes Thema. ;D
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Trippelschritt am 12. September 2017, 09:02:59
Und
Zitat von: Mithras am 12. September 2017, 00:43:40
Viele Autoren lehnen ihre Welt aber sehr stark an historische Vorbilder an, etwa Guy Gavriel Kay, der ganze Epochen inkl. deren Sprachen in eine fiktive Welt verlagert und damit praktisch alternative Geschichtsschreibung betreibt. Sein Ansatz liegt mit nicht, aber da er sich nun einmal in einem solchen Maße an der Realität orientiert, ist Authentizität umso wichtiger.

Wenn es mal so wäre. Nur ganz wenige Autoren lehnen ihre Welt an historische Vorbilder an. Glücklicherweise, sage ich. Weil das Mittelalter mit Früh-, Hoch- und Spätmittelalter eine recht lange Zeit umfasst, wir über diese Zeiten ganz unterschiedlich viel wissen - (900 - 1000) ist ein richtiges Loch - und wenn wir was wissen, enorm viel recherchieren müssen. Gute Autoren füllen ihre Welten mit eigenen Ideen. Dass es da dann Anklänge an frühindustrielle Geselschaften gibt ist klar, und wir dürfen so etwas auch ruhig mittelalterlich nennen, solange wir es nicht falsch verstehen. Schlechte Autorehn sprechen von Mittelalter und erschaffen Klischeewelten.

Es wird sehr oft vergessen, dass in keinem anderen Genre das Setting oder die Welt eine so große Rolle spielt wie in der Phantastik. Da entscheidet sich bereits die Qualität. Und Weltenbau ist eine echte Herausforderung für einen Autor. Und wenn man dann Gesellschaftskritik als wichtiges Thema in so eine Welt hineinsetzen möchte, dann steht man vor einem doppelten Dilemma. Man hat eine moderne Idee, wie die Gesellschaft aussehen sollte, und sucht dafür eine Fantasiewelt, um diese Idee zur geltung zu bringen. Da muss man schon schreiben können wie Orwell (Animal's Farm, 1984), um qualität zu produzieren. Und dann präsentiert man seine Gedanken auch noch einem Publikum, das einen Fantasieroman gekauft hat in der Erwartung, ... Ja, in welcher Erwartung eigentlich. Darüber können wir mal streiten, aber Sozialkritik als zentrales Thema wird es nicht sein. Eher schon Magie oder Drachen oder Kampf von Gut gegen Böse. Ach ja, Ich habe noch elfen und Werwölfe vergessen. Und Vampire.

Würde ich einen Roman über Feminismus schreiben wollen (nicht über starke Frauen, denn die kamen immer und überall vor), dann wären für mich viele Genre denkbar, aber ich würde mir ganz bestimmt nicht Fantasy aussuchen, weil die im Vergleich zu anderen Genre ungeeignet für diese Botschaft ist. Oder aber ich nehme gerade deshalb Fantasy. Aber dann setzt das eine Könnerschaft, die zumnidest in meinem Fall weit über das hinausgeht, was ich zur Zeit erstellen könnte. Und glaubt jetzt bloß nicht, ich hätte kein schreiberisches Selbstbewusstsein.

Frohes Schaffen
Trippelschritt
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Mithras am 12. September 2017, 11:07:08
Zitat von: Denamio am 12. September 2017, 01:10:19Da würde ich widersprechen. Ich erinnere mich an einen Anime, da ritt Alexander auf einem Streitwagen durch Tokyo und prügelte sich mit Gilgamesh. Da war es absolut egal ob er authentisch war oder nicht, als Charakter wirkte er echt, war mit dem Storyrahmen konsistent und zu jedem Zeitpunkt glasklar Alexander der Große.
Wie? Sie haben mit ein paar gezielten Charakterzügen eine Figur skizziert, wie man sie sich durchaus auch als Alexander vorstellen konnte. Die Echtheit kam im Kopf des Konsumenten.
Dem möchte ich auch gar nicht widersprechen. Ich behaupte aber, dass eine Alexander-Adaption umso "echter" wirkt, je mehr Details der Autor einbaut, die an ihn erinnern - zum Beipiel ein von der aristotelischen Philosophie geprägtes Weltbild. Natürlich subtil, damit es nicht zu platt wirkt. Maanche Autoren legen ihren Charakteren auch mal das eine oder andere Zitat ihre historischen Vorbilder in den Mund, und ich freue mich dann immer wieder, wenn ich ein solches erkenne.

Zitat von: Trippelschritt am 12. September 2017, 09:02:59
Wenn es mal so wäre. Nur ganz wenige Autoren lehnen ihre Welt an historische Vorbilder an. Glücklicherweise, sage ich. Weil das Mittelalter mit Früh-, Hoch- und Spätmittelalter eine recht lange Zeit umfasst, wir über diese Zeiten ganz unterschiedlich viel wissen - (900 - 1000) ist ein richtiges Loch - und wenn wir was wissen, enorm viel recherchieren müssen. Gute Autoren füllen ihre Welten mit eigenen Ideen. Dass es da dann Anklänge an frühindustrielle Geselschaften gibt ist klar, und wir dürfen so etwas auch ruhig mittelalterlich nennen, solange wir es nicht falsch verstehen. Schlechte Autorehn sprechen von Mittelalter und erschaffen Klischeewelten.
Ich präzisiere die Aussage: Viele Autoren, die ich lese, lehnen ihre Welt stark an historische Vorbilder an: George R. R. Martin, R. Scott Bakker, Joe Abercrombie, Bernhard Hennen, ... Ich liebe Fantasy mit einem fundierten historischen Unterbau, und da hilft es sehr, sich von der realen Geschichte bzw. realen Kulturen inspirieren zu lassen, ohne dass man sich dabei sklavisch an der Realität orientieren muss. Aber dann steht man natürlich auch in der Verantwortung, sich mit dem historischen Gesamtkontext auseinaderzusetzen und seine Welt nicht einfach nur aus Versatzstücken zusammenzubasteln und die Lücken mit äußerst fragwürdigen Interpretationen zu schließen.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Lothen am 12. September 2017, 11:45:18
Zitat von: Mithras am 12. September 2017, 11:07:08Aber dann steht man natürlich auch in der Verantwortung, sich mit dem historischen Gesamtkontext auseinaderzusetzen und seine Welt nicht einfach nur aus Versatzstücken zusammenzubasteln und die Lücken mit äußerst fragwürdigen Interpretationen zu schließen.
Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und sage: Wieso nicht? ;)

Aphelion, glaub ich, sprach schon an, dass das zentrale Element die Atmosphäre ist, und genauso sehe ich es auch.

Die Welt, die ich für meinen Plot schaffe, ist wie ein eigener Charakter. Sie trägt und beeinflusst die Story, die ich erzähle, und entsteht auf dieselbe Art und Weise wie die Figuren. Natürlich lasse ich mich gerne an historischen Vorbildern inspirieren, wenn es passt, aber letztlich ist es meine fiktive Welt und ich baue sie so, wie ich sie für meinen Plot brauche.

Wenn ich einen knallharten, düster-blutigen Fantasy-Thriller schreibe, dann brauche ich eine finstere Welt mit moralisch fragwürdigen Aspekten, die die Konflikte, die ich aufwerfe, trägt und intensiviert.

Wenn ich märchenhafte Romantasy schreibe, dann kann es auch eine Feelgood-Welt sein, in der es keine Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit oder wasauchimmer gibt, weil es keine Rolle spielt und nicht den Stellenwert einnimmt, den solche Themen einnehmen sollten, wenn man sich anständig damit befasst.

Wenn ich intrigenlastigen Steam Punk schreibe, brauche ich ein Setting, das politisch und gesellschaftlich die Verwicklungen, die meinen Plot stützen, ermöglicht.

Ganz ehrlich? Wenn ich einen historischen Roman schreiben will, dann schreibe ich einen historischen Roman. Wenn ich Fantasy schreiben will, dann schreibe ich Fantasy. Ich sehe nicht den Anspruch, mich 1:1 an einer Epoche orientieren zu MÜSSEN, nur, weil die Rahmenbedingungen meiner Geschichte ähnlich sind. Stimmigkeit ist wichtig, Authentizität und innere Logik. Alles andere ist in meinen Augen optional.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Fianna am 12. September 2017, 14:12:55
Eine stimmige Fantasywelt ist in den oben genannten Definitionen unmöglich zu erschaffen. Jedes kulturelle oder phantastische Element, dass man in einem Setting verbaut, ist in irgendeiner Epoche der letzten 300.000 Jahre zu verorten. Vielleicht nicht von Dir als Autor. Vielleicht merken es die meisten Leser auch nur in Dimensionen wie "Elisabethanisches Theater + Napoleons Winterkrieg".
Aber stimmig ist es dennoch niemals.

Ich habe in einer Plotgruppe einmal die Befürchtung geäußert, mein Plot enthielte zuviele altägyptische Anleihen. Das konnte niemand nachvollziehen. Das Konzept der Ba-Seele war ihnen fremd, und wenn man Vogel und Scheintür ersetzt, war es komplett unkenntlich für sie.

Wenn Du den stimmigsten Fantasyplot für Dich erschaffst, wird es immer Leser mit anderem kulturellen Vorwissen geben, die Ähnlichkeiten an die "falsche" Ausgangskultur finden und es nach oben genannter Definition als unstimmig bewerten müssten ;)

Ich mag keine uninspirierte Flickenteppich-Settings.
Aber 100 % Stimmigkeit ist unmöglich, es gibt immer Leser, die mehr über bestimmte Epochen wissen als wir und Anleihen dort sehen, die von uns nicht so gedacht waren.


Edit: Tippfehler editiert.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Lothen am 12. September 2017, 14:18:03
Von welcher Definition sprichst du gerade, Fianna? Ich für meinen Teil hab gar nichts definiert, im Gegenteil, sondern eher versucht zu sagen, dass ich mich nicht an klare Definitionen halte, sondern die Welt baue, die mir für meinen Plot stimmig, logisch und schlüssig erscheint.

Es kann ja sein, dass Kultur A Dinge auf eine bestimmte Art und Weise gehandhabt hat und ich das so für den Roman übernehme, weil mir das gut passt und ich das stimmig und spannend finde. Das muss aber ja nicht heißen, dass ich andere Aspekte derselben Kultur genauso übernehmen muss.

Eine Fantasy-Welt funktioniert ja mitunter unter anderen Prämissen als unsere, sei es, weil Magie existiert, weil die Klimazonen anders sind, weil die Physik dezent anders läuft oder weil ihr ein anderes Glaubenssystem zugrunde liegt.

Um Mithras' Eingangsargument zu nehmen: Ich kann eine am englischen Mittelalter orientierte Fantasy-Welt schaffen, in der Frauen vollständig emanzipiert sind. Ich kann auch eine "moderne", vom Frankreich des 19. Jahrhunderts inspirierte Welt entwickeln, in denen Frauen versklavt und unterjocht werden. Die Frage ist ja nur: Ist das in sich schlüssig, passt das zu den anderen Weltenbau-Elementen und passt es vor allem zu der Geschichte, die ich erzählen will.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Churke am 12. September 2017, 14:19:53
Zitat von: Lothen am 12. September 2017, 11:45:18
Die Welt, die ich für meinen Plot schaffe, ist wie ein eigener Charakter. Sie trägt und beeinflusst die Story, die ich erzähle, und entsteht auf dieselbe Art und Weise wie die Figuren.

Hey, das war mein Text!  ;)

Oft gehört das fragwürdige Setting einfach zur Story. Ich gebe ein Beispiel: Wenn der Sohn einer Sklavin Kalif wird, dann eben nur deshalb, weil es einen Harem und Sklavinnen gibt und vor allem, weil Frauen nicht viel zählen. Man mag die Hände über dem Kopf zusammen schlagen, aber in einem weniger sexistischen Setting funktioniert der Plot nicht. (Den ich mir übrigens nicht ausgedacht habe.)

Leider ist nicht jeder Leser bereit oder in der Lage, die dramatische Logik zu akzeptieren. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einer Lektorin, der bei meinen Figuren das Messer in der Tasche aufging. Ich durfte mich dann darüber ärgern, dass sie den Plot mit der Dampfwalze planieren wollte, um diesen Makel zu beheben. Njet. Änderungen immer, aber ich bin nicht bereit, meinen Plot zu killen, weil sich jemand über "mein" Frauenbild beschwert.  ::)
Witzigerweise verstärkte die nächste Lektorin dann jene Elemente, die ihrer Vorgängerin so missfallen hatten.  :hmmm:

Und noch etwas möchte ich zu bedenken geben. Jede Gesellschaft wird von Tabus bestimmt, deren Verletzung mit sozialer Ächtung sanktioniert wird. Es gibt die These, dass in unserer heutigen Gesellschaft die alten Handlungstabus durch Denktabus verdrängt werden. Das heißt, wir dürfen öffentlich tun, was uns früher sozial ruiniert hätte, aber wenn wir die falsche Gesinnung äußern, wird der Stab über uns gebrochen.
Ich halte diese Theorie für plausibel. Und mich dünkt, dass dieser Thread um die Sorge kreist, dass wir als Autoren durch ungeschickte Settings gegen Denktabus verstoßen.
Und ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Eine Gesellschaft, die von Handlungstabus bestimmt wird, ist dramaturgisch interessanter ist als eine Gesellschaft mit Denktabus. Der Verstoß des Helden gegen Tabus ist ein Klassiker, aber der Verstoß sollte a) effektvoll sein und b) die Sympathie des Lesers besitzen. Da ist das problematische Setting eine Fundgrube.

Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Fianna am 12. September 2017, 14:24:07
@Lothen
Ich bezog mich auf die von verschiedener Seite angesprochen "Stimmigkeit" eines Settings im Sinne von "im Einklang mit einer kulturellen Verortung".

So habe ich das Wort in einigen Beiträgen über Dir verstanden, vielleicht bedingt durch die Diskussion, wieviel Details eine Alexander-Adaption braucht.

Wenn ihr mit "stimmig" nur meintet, dass es innerhalb einer Fantasywelt zusammen passen und eine funktionierende Welt ergeben muss - dann entschuldige ich mich für das Missverständnis und stimme euch einfach zu.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Lothen am 12. September 2017, 14:36:04
Zitat von: ChurkeOft gehört das fragwürdige Setting einfach zur Story. Ich gebe ein Beispiel: Wenn der Sohn einer Sklavin Kalif wird, dann eben nur deshalb, weil es einen Harem und Sklavinnen gibt und vor allem, weil Frauen nicht viel zählen. Man mag die Hände über dem Kopf zusammen schlagen, aber in einem weniger sexistischen Setting funktioniert der Plot nicht. (Den ich mir übrigens nicht ausgedacht habe.)
Exakt. Ob man Plots lesen möchte, die in einem feindseligen, gewalttätigen oder auch frauenfeindlichen Setting spielen, das muss jeder selbst entscheiden. Aber bestimmte Plots erfordern einfach die Einbettung in einem gewissen Setting, sonst wirken sie unglaubwürdig und es geht viel Atmosphäre verloren.

Obligatorisch ist dabei natürlich, sich mit diesen Elementen auch irgendwie auseinanderzusetzen, zu zeigen, dass das nicht das Nonplusultra ist, sondern Konflikte, Leiden, moralische Dilemmata auslöst. Genau das macht ein moralisch fragwürdiges System ja interessant.

@Fianna : Ah, okay, also mit "stimmig" meinte ich in meinem Post "in sich schlüssig". Ich weiß aber nicht, wie das meine Vorredner aufgefasst haben. ;)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: FeeamPC am 12. September 2017, 18:29:22
Und ein Setting, das die Leser nicht mögen und dessen Gesinnung sie nicht teilen, hält sie nicht vom Lesen ab. Ich habe mehr als eine Bemerkung über zu gewalttätige, sexistisch-psychopathische Handlungsträger gekriegt. Trotzdem lesen die Leute weiter, und der Drop-out in der Serie ist relativ gering.
Offenbar reicht die vorhandene Spannung und Handlung als Kompensation.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: Vic am 30. Oktober 2017, 18:13:10
Ich finde, wenn Fantasy-Autoren mit dem Argument "historische Korrektheit" ankommen um ihren Sexismus, Rassismus und ihre Homophobie zu verteidigen, dann weiß ich immer nicht ob ich lachen oder weinen soll.
Drachen und Zauberer und Elfen sind okay - aber eine Frau in einer Machtposition, ein schwuler Held oder ein schwarzer König ist "historisch nicht korrekt" und damit nicht vertretbar. Äh ja ... danke für den Anruf.

Also Fantasy hat mMn wirklich gar keine Ausrede um sexistisch zu sein. Sogar wenn die Welt und die dargestellte Gesellschaft als solche sexistisch sind - es gibt und gab zu jeder Zeit Frauen in Machtpositionen, Frauen, die sich gegen Konventionen und Regeln gewehrt haben und es gab auch schon immer eine Art Gegenbewegung und wenn das nur ein kleiner Haufen Rebellen war. Sogar ein weiblicher Charakter in einer unterdrückten Position (zwangsverheiratet, Prostituierte, Sklavin, etc.) hat Möglichkeiten ein interessanter Charakter zu sein und man kann sie innerhalb einer Fantasy-Geschichte auch aus dieser Rolle ausbrechen lassen (der Ehemann stirbt und plötzlich ist die zwangsverheiratete Frau Erbin seines riesigen Vermögens oder gar einer Krone? Ein Sklavenaufstand hilft der Sklavin sich zu befreien? Die Prostituierte erfährt ein wichtiges Geheimnis mit dem sie einen mächtigen Mann erpressen kann und damit genug Geld bekommt um sich frei zu kaufen? etc.)   

Also sogar wenn eine fiktive Gesellschaft sexistisch ist ohne Ende, möchte ich doch trotzdem gerne interessante Frauenfiguren sehen, die sich innerhalb dieses Systems durchschlagen.
Game of Thrones (Ein Lied von Eis und Feuer) hat eine maximal sexistische Gesellschaftsstruktur und dennoch gibt es da sehr viele interessante und diverse Frauen. Nicht alle sind in Machtpositionen, aber alle haben eine Handlung und eine eigene Agenda.
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: canis lupus niger am 17. November 2017, 14:26:19
Leider bin ich dieser Diskssion eine Weile lang nicht weiter gefolgt und habe deshalb gar nicht mitbekommen, was hier weiter gepostet wurde. Ein Verlust!

Zunächst mal möchte ich richtigstellen, dass ich NICHT Games grundsätzlich für Ballerspiele halte. Gerade der "Witcher" z-B. ist sehr durchdacht und fordert die Intelligenz des Spielers. Aber ich bleibe dabei, dass es intellektuell anspruchslose Leute gibt (ich habe eine ganze Menge davon in meiner näheren räumlichen und sozialen Umgebung), einige davon sogar sehr liebenswürdige Menschen, die aber keinesfalls freiwillig ein Buch (oder einen E-Book-Reader) in die Hand nehmen würden. In den Haushalten (in denen, die ich kennen gelernt habe) findet sich auch kein einziges Buch. Und die Wahl des Fernsehprogramms (das fast den ganzen Tag läuft) und der sonstigen Unterhaltung sind entsprechend. Leider gibt es auch intellektuell anspruchsVOLLE Menschen die privat überhaupt nicht lesen, die freiwillig kein Buch anfassen, weil sie keine Lust haben, sich auch noch in ihrer Freizeit geistig anzustrengen. Ist es versnobt, das so ehrlich zu sagen? Vielleicht. Aber wahr.

Ich meine auch nicht, dass ein Fantasyroman eine perfekte, politisch korrekte Welt darstellen soll. Im Gegenteil bedeutet Fantasy für mich ein Spielen mit den Möglichkeiten, mit dem "Was-wäre-wenn", das in der realen Welt, ob historisch oder aktuell, niemals möglich wäre. Eine perfekte Welt, mit sich politisch korrekt verhaltenden Charakteren, die alle desselben Wertmaßstäben folgen, wäre furchtbar langweilig. Spannend wird es durch Konflikte, durch Probleme und Katastrophen, was sich auch in der katastrophal diskriminierenden Gesellschaft äußern können, in der die Geschichte spielt. Ob darin Frauen unterdrückt werden, Männer, Homosexuelle oder eine ethnische oder religiöse Minderheit ist, spielt eigentlich keine Rolle. Es gibt einen Konflikt, den es für die Charaktere zu bestehen gilt. Für einen Roman kann all das einen interessanten Hintergrund bilden.

Ich halte auch nichts davon, die ganze Zeit zu erzählen, wie ungerecht das alles ist, und dass man das heutzutage ja niiiiemals mehr dulden darf (auch wenn in der realen Welt viele schlimme Dinge passieren), weil auch das etwas ist, was nicht unterhält (@Trippelschritt  :winke:), und was nicht unterhält, wird auch nicht gekauft und gelesen. Und mit etwas, das nicht gelesen wird, kann ich niemanden erreichen.

Aber: Ich finde es wichtig, dem Leser nicht nur erlebbar zu machen, wie klasse essein kann, zu der herrschenden Klasse/Kaste/Geschlecht/Religion zu gehören, zu den Personen, die von der Situation nur Vorteile haben. Ich möchte Diskriminierung nicht (nur) als erstrebenswert für eine privilegierte Klasse darstellen, sondern auch erlebbar machen, welches Leid sie bei den Opfern verursacht. Das geht in einer Fantasywelt sogar unendlich viel besser als in der Realität, weil ich die Zustände viel mehr auf die Spitze treiben, die Art der Diskriminierung so gestalten kann, wie es in der Realität nie möglich wäre oder jemals war. In dieser Hinsicht bin ich vermutlich von dem einen oder anderen Zirkler missverstanden worden: Ich habe nichts dagegen, Unrecht in (m)einem Fantasyroman darzustellen. Im Gegenteil halte ich das für ein ganz wichtiges Plotelement. Ich möchte es eben nur als Unrecht darstellen, und nicht als besonders coole Parallelwelt in die sich solche Leser, die Diskriminierung akzeptieren oder unfähig sind, diese als solche zu erkennen, hineinträumen wollen. Es gibt solche Fantasywerke, aber das sind nicht meine Vorbilder.

Historische Korrektheit ist in diesem Sinne eher kontraproduktiv. Aber welche sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Hintergründe eine Unrechtsgesellschaft ermöglichen, das kann ich sehr wohl aus der realen Geschichte lernen, wenn ich ein Setting gestalten will, das funktioniert.  ;)
Titel: Re: Gleichberechtigung, Emanzipation und heutige Moralvorstellungen in Fantasywelten
Beitrag von: AlpakaAlex am 01. Februar 2019, 12:50:43
Zitat von: Kati am 09. September 2017, 14:31:12Daran bin ich hängen geblieben. Es ist etwas, das mir immer wieder begegnet und, dass ich einfach nicht verstehen kann. Denn Martins Bücher spielen nicht im Mittelalter. Sie spielen in einer komplett fiktiven Welt, die sich hier und da an das spätmittelalterliche England anlehnt. Aber das ist alles. Ein authentisches mittelalterliches Szenario in einem Fantasyroman ist für mich daher einfach nicht möglich. Das widerspricht sich im Kern der Sache und deshalb ist historische Authentizität für mich kein Argument, wenn es um die Darstellung von Moralvorstellungen in Fantasyromanen geht. Der Autor hat entschieden, dass es in seiner Welt Sexismus gibt. Okay. Aber ,,Das musste er machen, damit es historisch authentisch ist" halte ich für Blödsinn, denn er schreibt ja nun mal keinen historischen Roman. Er hat sich diese Welt und Gesellschaft selbst ausgedacht.
Eigentlich möchte ich mich nur hinstellen und THIS rufen, denn es erfasst wunderbar den Kern des Problems, das mit "Eure politische Korrektheit, macht unsere historische Korrektheit in Fantasy-Welten kaputt!" einher geht.

Wenn ich mir diverse Fantasywelten anschaue, die größtenteils ein pseudo-mitteleuropäisches Mittelalter darstellen sollen, anschaue, gibt es dort Magier, Drachen, Einhörner, Zwerge, Elfen, Hobbits, was nicht noch alles. Dinge, die es im realen Mittelalter nicht gab. Auch tragen die meisten Männer Hosen, die verwendeten Schwerter kommen aus fünf verschiedenen historischen Epochen und, ach ja, kaum jemand stirbt an Wundbrand oder irgendwelchen für die Zeiten üblichen Krankheiten. Eventuell wissen die Protagonisten aus unerfindlichen Gründen sogar, was Bakterien sind. Gleichzeitig gibt es in den meisten Fällen keine christliche Religion irgendeiner Art und wenn es Religionen gibt, sind diese oft polytheistisch, haben nicht selten physisch wahrnehmbare Götter und eine gänzlich anderen Aufbau, als die indo-europäischen Religionen es hatten. Und wo wir schon dabei sind: Eine Antike, wie die unsere, gab es oftmals genau so wenig, wie ein proto-indo-europäisches Volk.

Anders gesagt: Eine Welt hat viele Elemente des europäischen Mittelalters, ohne dass die Voraussetzungen, die dieses Mittelalter haben zustande kommen lassen, existieren würden, aber mit zusätzlichen Aspekten, die es im realen Mittelalter nicht gab. Niemand hat damit ein Problem, aber wenn auf einmal Frauen in der Macht oder nur gleichberechtigt sind, Homosexuelle von der Gesellschaft einfach akzeptiert werden oder Menschen mit anderen Hautfarben normal akzeptiert werden (ironischerweise etwas, das im Mittelalter vorkam), dann ist es auf einmal unrealistisch.

Sexismus ist nicht eine biologische, irgendwo im menschlichen Gen verankerte Sache, sondern ist kulturell. Dass viele der Kulturen, mit denen wir vertraut sind, sexistische Züge beinhalten, hängt vor allem damit zusammen, dass diese Kulturen einen gemeinsamen Ursprung hatten und dieser Ursprung nun einmal eine Kultur war, über die wir nicht viel wissen, jedoch zumindest ahnen können, dass sie Frauen mehr als Gegenstände betrachtet haben und ein arg patriarchalisches Weltbild hatten. Aber hier ist die Sache: Es ist nicht gesetzt, dass ein bestimmter technischer Stand mit diesem Weltbild einher geht, gerade wenn die prägende Kultur eine andere ist.

Schauen wir uns andere Kulturen an, so sehen wir darunter auch welche, die schon sehr früh matriarchalisch waren oder tatsächlich auf grundlegenden Ideen der Gleichberechtigung funktioniert haben. Natürlich könnte man an dieser Stelle jetzt fragen: Okay, inwieweit haben sich die europäischen Kulturen entwickelt, wie sie sich entwickelt haben aufgrund der gegebenen Ressourcen. Und dann können Kulturhistoriker einen akademischen Krieg darüber anfangen.

Außerdem sollten wir generell bedenken, dass wir eine sehr einseitige Sicht auf historische Gesellschaften und das Leben in ihnen haben, da die meisten Quellen, die Otto Normalverbraucher nutzt, wenig auf den Alltag eingehen. Wir wissen daher oft, was der Adel getrieben hat, wer mit wem verheiratet war, mit wem Kinder hatte und wer wem den Krieg erklärt hat, aber wenig darüber, wie genau Männer mit Frauen, Frauen mit Männern und die Menschen von Gruppe A mit den Menschen aus Gruppe B umgegangen ist. Sicher, eventuell wissen wir etwas über diesen einen großen Konflikt den es zwischen den Gruppen gab. Aber Alltag? Ist kaum ein Thema. Und selbst wenn recherchiert wird, werden oft verschiedene Epochen des Mittelalters (oder einer anderen Zeit) und verschiedene Gegenden durcheinandergeworfen und die Quellen und was diese sagen wollten, nicht hinterfragt.

Als Beispiel, weil es dahingehend leichter ist, können wir auch die römische Zeit betrachten. Dort haben wir zum einen die Berichte von Geschichtsschreibern, die oft die Grundlage für Unterrichtsmaterialien und Bücher bilden, allerdings auch massenhaft Briefe und Tagebücher, die außerhalb von tatsächlicher Geschichtsforschung, oftmals wenig Beachtung finden. Teilweise zeichnen diese Quellen komplett gegensätzliche Bilder. Umso mehr, wenn bestimmte Sachen unter Akademikern ihrer Zeit oder dem Adel ungern gesehen waren, während der normale Bauer damit wenig Probleme hatte, weil seine Prioritäten nun einmal anders lagen. (Man vergleiche auch das übliche Bild Persiens, das stark durch die Aufzeichnungen von Herodot geprägt wurden, mit dem, was wir über das tatsächliche Persien wissen, wie es zur Zeit der griechisch-persischen Kriege existierte.)

Anders gesagt: Unser Bild von historischen Epochen ist sehr, sehr lückenhaft, da wir es meistens auf nur wenigen Quellen und meist Quellen, die aus derselben gesellschaftlichen Schicht kommen, aufbauen. Wir neigen außerdem dazu, uns sehr auf die Unterschiede zu konzentrieren, uns selbst als "so viel weiter entwickelt" zu sehen und solche Vorurteile dann auch in fantastische Werke zu übertragen.

Allerdings ist dann da eben auch noch der andere Faktor: Magie. Sofern Magie für alle Leute zugänglich ist, wird sie ein wichtiger, neutralisierender und ausgleichender Faktor sein. Eine Magiebasierte Klassengesellschaft macht hier schnell mehr sinn, als irgendwelche anderen Diskriminierungsgrundlagen.

Grundlegend gesehen weiß ich aber auch, warum ich Fantasy-Welten, vor allem Fantasy-Welten, die auf das europäische Mittelalter (oder das, was sich Otto Normalautor darunter vorstellt) aufbauen, meide, wie Teufel das Weihwasser. Neben dem damit einhergehenden Eurozentrismus, ist definitiv diese Art mancher Autoren, es als Begründung zu nutzen, um unnatürlich homogene, sexistische Welten zu schreiben, einer der Hauptgründe.