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[Geschichte] Siezen/Duzen

Begonnen von Eluin, 10. Juni 2017, 17:37:29

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Eluin

Huhu ihr Lieben,
ich überarbeite gerade meinen Steampunk-Roman. Ja ich weiß, der muss historisch nicht 100%ig korrekt sein, aber derzeit stoße ich an meine Grenzen, was nun logisch konsequent wäre.

Es geht um folgendes Problem: Wer dutzt wen (ab wann) und wer wird gesiezt?

Familie
  • Eltern -> Kind (nicht volljährig): Du
  • Eltern -> Kind (erwachsen): Sie (hier bin ich am überlegen, beim Du zu bleiben  ::), aber ich befürchte, das wäre inkonsequent?)
  • Kind -> Eltern: Sie
    Bei den Großeltern ebenso wie bei den Eltern? ??? Was ist mit Tante/Onkel?
  • Geschwister untereinander: Du
  • Ehepartner untereinander: Du (hab auch schon von Sie gelesen)
  • Schwager -> Schwägerin (und umgekehrt): Du oder Sie?
  • Cousin zu Cousine (näher bekannt): Du (???)
  • Cousin zu Cousine (kennen sich erst seit kurzem (beide erwachsen)): Sie

Außerhalb Familie
  • enge Freunde (seit Kindheit, jetzt erwachsen): Du (???)
  • Bekannte, Freunde (erst seit erwachsenen Alter): Sie
  • Geschäftspartner: Sie
  • Lehrer -> Schüler: Sie
  • Schüler -> Lehrer: Sie
  • Herr -> Dienstbote: Du
  • Dienstbote -> Herr: Sie
  • enge, moderne Kollegen (Arbeiterbewegung): Du
  • traditionelle Kollegen: Sie
  • Fremde: Sie

EDIT: => Weitere Frage: Wie sprechen die engen Freunde der Eltern die Kinder an? Du oder Sie? Gerade wenn sie die Kinder von kleinauf kennen? Hängt es wieder vom Alter ab?

Ich habe nun schon diverse Stunden mit Google verbracht und ein paar Infos dazu aus dem 18. Jhd gefunden. Ich befinde mich aber gerade am Umschwung zum 20. Jhd, sprich 1899 in Deutschland, bzw. zum Teil auch in Schweden, aber da dort dann deutsch gesprochen wird (wurde tatsächlich als Fremdsprache gelehrt), will ich hierfür die deutschen Regeln übernehmen.

Habt ihr vielleicht noch Quellen für mich oder alternativ eigene Einschätzungen, was ihr konsequent fändet? Alternativ vielleicht, wie ihr es selbst in euren (vor allem Steampunk-)Romanen handhabt?

Vielen Dank für eure Hilfe  :winke:
Eluin

P.s. Den Thread Anrede in England 1900 habe ich durchaus studiert, aber ich bin nicht in England, sondern in Deutschland. Allerdings fand ich @Majas Beitrag zu den Erfahrungen ihrer Großmutter sehr hilfreich  :jau:
Träume verändern die Zukunft. Doch erst wenn wir die Augen öffnen, können wir sie verwirklichen!
Mein Spruch, mein Motto.

Maubel

Also ich kann dir auch nur Beispiele aus 1730 bieten und da haben sie sich egal ob (enge) Geschwister oder kleine Kinder nur mit Sie angesprochen, zumindest am preußischen Hof.

Ich glaube, das kommt wirklich ganz auf dein Setting an, was da passt. Ich finde Sie zum Beispiel furchtbar und habe große Schwierigkeiten emotionale Bindungen zu Charakteren aufzubauen, die sich selbst mit der größten Distanz begegnen. Bei einem historischen Roman, klar, muss das sein, aber Steampunk ist da ja ein wenig spaßiger. Wie gesagt, wenn's zum Setting passt und du damit die Atmosphäre aufbauen kannst, die du möchtest, dann auch gerne mit Sie.

Araluen

Im 19. Jahrhundert war man ja sehr auf Höflichkeit bedacht. Das Du war etwas, das angeboten und angenommen wurde oder eben auch nicht.
Kinder siezen die Eltern. Eltern werden ihre Kinder duzen, bis sie sich den Respekt für das Sie erworben haben. Töchter werden deshlab vermutlich Zeit ihres Lebens von ihren Eltern geduzt. Schließlich erreichen sie nichts (kann im Steampunk natürlich anders sein. Da arbeiten Frauen ja des Öfteren). Ein Lebemann, der nur Papas Geld verprasst und selbst nichts auf die Reihe kriegt, wird sich wohl auch damit abfinden müssen, von seinen Eltern geduzt zu werden. Steigt er aber erfolgreich ins Familiengeschäft ein oder geht zumidnest einer BEschäftigung nach, die den Eltern gefällt, darf er sich über das Sie freuen (oder mit seinen Eltern gleich wieder das Du vereinbaren). Das ist jetzt nicht durch Quellen belegt und vielleicht uach nicht historisch korrekt. Aber so würde ich das an dieser Stelle handhaben.
Großeltern werden definitiv von den Kindern gesiezt, ebenso Tante und Onkel.

Bei Ehepartnern kommt es vor allem auf die Art der Ehe an. Auch im 19. Jahrhundert war die Ehe vor allem eine politische Angelegenheit. Man wollte vor allem eine gute Partie machen und über Gefühle hat man sich nur zweitrangig Gedanken gemacht. Ehepartner, die einander nicht lieben, aber es immerhin miteinander aushalten ,werden sich siezen. Ehepartner, die sich tatsächlich lieben, werden einander irgendwann sicher das Du anbieten.
Bei Schwager und Schwägerin kommt es ebenfalls darauf an, wie nah man sich denn nun steht. Man bietet ja nur Leuten das Du an, die man mag. Dass man seinen Schwager duzt, um ein Machtgefälle zu demonstrieren, sollte ja eher selten vorkommen. Außer natürlich die Ehefrau hat zum Beispiel weit über ihrem Stand geheiratet und der liebe Schwager will sie das von der ersten Minute an spüren lassen. Das wäre aber grob unhöflich (außer natürlich er siezt aus purer Höflichkeit, weil man sich vielleicht auch einfach noch nicht so gut kennt. Da spielt dann noch das allgemeine Verhalten mit rein).

Zusammenfassend dann noch für die außerfamiliären Anreden: Das Sie ist ein Zeichen von Höflichkeit und demonstrierten Machtgefälle (wie bei Herr und Diener). Legen beide Gesprächspartner keinen Wert auf das Machtgefälle und/oder stehen sich nah genug, um die Höflichkeit ein wenig außen vor zu lassen (wie bei engen Freunden), dann werden sie sich vermutlich irgendwann das Du anbieten. Da musst du also von Fall zu Fall entscheiden.

So gehe ich an die Sache heran in meinem Roman auf jeden Fall.

Eluin

@Maubel 1730 ist auch spannend. Das sogar kleine Kinder mit Sie angesprochen werden hätte ich nicht gedacht.

Bei mir wird es denke ich eine Mischung aus Distanz und Nähe.

@Araluen dine Beispiele finde ich sehr einleuchtend. Mit deinen Beschreibungen gibst du mir die Fäden an die Hand, die mir für meine Logik fehlten. Danke dir!
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Mein Spruch, mein Motto.

Churke

Ich denke, dass das zu streng ist. Bei Mauriac ("Le Sagouin" - dt. Titel kenne ich nicht) werden die Eltern gesiezt. Der Roman spielt kurz nach dem 1. Weltkrieg. Das Siezen gehört zu den Stilmitteln, um die morbide Atmosphäre einer in der Vergangenheit gefangenen besseren Gesellschaft einzufangen. Leben will so keiner, und darum nimmt sich der Protagonist am Schluss das Leben.

Für meine Großmutter (Jahrgang 1914) waren Eltern, die sich siezen ließen, totale Spinner.  Ich gehe davon aus, dass das in unserer Familie nie üblich war. Ich habe das auch nie in einem Buch aus der Zeit gelesen, nicht mal beim verstaubten Fontane.

Zitat von: Eluin am 10. Juni 2017, 17:37:29
EDIT: => Weitere Frage: Wie sprechen die engen Freunde der Eltern die Kinder an? Du oder Sie? Gerade wenn sie die Kinder von kleinauf kennen? Hängt es wieder vom Alter ab?

Ich würde mich auch hier an die Regel halten: Einmal du, immer du. Es sei denn, man hat sich verkracht.

Maubel

@Araluen Dann haben sie aber im 19. Jahrhundert einen erheblichen Rückschritt gemacht. Denn 1730 wurden auch die Töchter von ihren Eltern brav gesiezt. Wie gesagt, da sprach sich alles mit Sie an, zumindest an Hofe. Also das mit dem Respekt und bei Nicht-Respekt ewigem Du ist zwar ein interessanter Weltenbau, aber historisch klingt das nicht und würde ich in einem Buch auch merkwürdig finden, dass in einer festgelegten Zeit spielt. Wohlgemerkt nicht das Du an sich, sondern diese Sonderregelung.

Eluin

Huffs, das ist alles echt kompliziert.

@Churke ich muss nochmal meine Mutter fragen, aber ich glaube sie sagte, dass meine Uroma ihre Eltern gesiezt hat. Irgendwie verworren das alles.

@Maubel soweit meine Recherchen es ergeben haben, gab es zwischen 1730 und 1900 starke Wandlungen was das "Du" und "Sie" anging. Da finde ich vor allem den Blogartikel Historische Anrede – Sie, du oder Ihr? von Cora May Gibson interessant. Das hab ich so ähnlich auch in linguistischen Vorlesungsunterlagen gefunden. Laut meinen Recherchen ist das Du tatsächlich sowohl ein Wort der Nähe, aber auch ein Ausdruck der Stellung.
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Araluen

#7
Ein sehr interessanter Artikel :)

@Maubel : Das hat nichts mit Fort- oder Rückschritt zu tun. Höflichkeit und seine Ausdrucksweise ist eine Modeerscheinung und dementsprechenden Wandlungen unterlaufen. Man kann da in meinen Augen nicht von Fortschritt sprechen. Und zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert liegt eine Menge Zeit. Da lässt sich nicht viel vergleichen. Außerdem hatte ich ja auch betont, dass ich das so handhaben würde, es historisch aber nicht belegbar ist. Wenn ich einen streng historischen Roman schreiben würde, sähe das wieder anders aus.

Ehepartner duzten sich tatsächlich, wenn sie einander nahe standen. Königin Luise von Preußen hatte ihrem Mann das Du angeboten (ja so herum ist es tatsächlich richtig. Frauen baten das Du an Männer konnten es gegenüber einer Frau nur erbitten... mal schauen, wo ich den Artikel dazu hab).
Wenn ich es nicht ganz falsch im Kopf habe werden bei "Buddenbrooks" die Kinder ebenfalls geduzt.
Sherlock Holmes und Dr. Watson waren sehr enge Freunde, siezten sich aber konsequent.
Das wären noch so Beispiele, die mir einfielen

Eluin

Zitat von: Araluen am 11. Juni 2017, 08:22:06
Königin Luise von Preußen hatte ihrem Mann das Du angeboten (ja so herum ist es tatsächlich richtig. Frauen baten das Du an Männer konnten es gegenüber einer Frau nur erbitten... mal schauen, wo ich den Artikel dazu hab).
Das finde ich spannend und gut zu wissen!

Ich denke auch, dass ich keine 100%ige Korrektheit brauche. Es ist halt Steampunk und damit sowieso nicht historisch korrekt. Ich will lediglich ein gewisses Flair und eine stimmige Atmosphäre schaffen. Deshalb helfen mir die Ideen hier ungemein. Vielen Dank euch!
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Zit

Nur so vom Spielfeldrand: Holmes und Watson sind als Übersetzung schwierig, weil sich die Frage nach dem Du/Sie im Englischen nicht so direkt stellt. Die Nähe/ Höflichkeit drückt sich über andere Dinge aus. Zumindest meint hier "Mycroft", dass sich in seiner unautorisierten Übersetzung von 1907 die beiden duzen. (Eine Threadseite weiter ist auch noch interessant.)
"I think therefore I am
getting a headache."
Unbekannt

canis lupus niger

#10
Für eventuell noch bestehende Zweifelsfälle kannst Du Dir doch ein altes Buch über Benimmregeln besorgen, in einer Leihbibliothek, oder sonst vielleicht auch eine Version aus dem Internet.

Im Übrigen ist die "Siezerei" ja auch sehr davon abhängig, in welchem Land und innerhalb welcher Gesellschaftsschicht die Geschichte stattfindet. In Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien wurde noch im 19. Jh sehr viel leidenschaftlicher gesiezt, als zum Beispiel in Skandinavien. In Deutschland hat man Angehörige niederer Stände sogar in der 3. Person angesprochen: "Hat er sich denn ausweisen können?"

Araluen

#11
Zitat von: Zitkalasa am 12. Juni 2017, 02:28:21
Nur so vom Spielfeldrand: Holmes und Watson sind als Übersetzung schwierig, weil sich die Frage nach dem Du/Sie im Englischen nicht so direkt stellt. Die Nähe/ Höflichkeit drückt sich über andere Dinge aus. Zumindest meint hier "Mycroft", dass sich in seiner unautorisierten Übersetzung von 1907 die beiden duzen. (Eine Threadseite weiter ist auch noch interessant.)
Danke für die Info. Ich habe erst kürzlich angefangen Holmes zu lesen und das in einer neuen Ausgabe. da müsste man wirklich das englische Original lesen, um heruas zu finden, ob die beiden förmliche Höflichkeit oder eben doch Nähe zeigen. Allerdings sprechen sie sich die ganze Zeit mit Nachnamen an. Das würde für mich darauf hindeuten, dass sie sich tatsächlich siezen.

Franziska

Wie andere schon sagten, es hängt vom Land und der Zeit ab. Wenn das Buch in England spielt, aber man auf Deutsch schreibt, wird es schon kompliziert. Ich habe da als Recherche Romane aus der Zeit gelesen, auf Deutsch und Englisch. Zum Beispiel "Buddenbrooks". Da wurde mehr geduzt als ich erwartet hatte. Für eine Fantasywelt, auch wenn es ein alternatives England ist, würde ich es vor allem einheitlich machen. Man kann sich eigene Regeln ausdenken, je nachdem wie alternativ es sein soll. Aber dann sollte man auch dabei bleiben.

Churke

Vielleicht sollte man sich einfach nach der beabsichtigten Wirkung richten.
Siezen schafft immer eine Distanz, die von den Figuren und/oder dem Autor so beabsichtigt ist.
Begründet man das Siezen mit der Etikette, dann ist es einfach so, dass die Etikette diese Distanz erwartet. Das bedeutet aber noch nicht, dass sich die Betroffenen sklavisch daran halten müssen. In den meisten Romanen sind Figuren, die an der Etikette kleben, mit sich selbst nicht im Reinen.

Cailyn

Ich habe da auch ewig darüber gebrütet. Verlorene Zeit. Deshalb weil die Quellen sich nicht einig sind. Aber auch weil es auch im gleichen Land und der gleichen Gesellschaftsschicht unterschiedlich war. Es gibt sicher Regeln, die befolgt werden sollten, um nicht dilettantisch rüberzukommen. Aber die Grauzone ist grösser als die festen Regeln.