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Präsens-Trend

Begonnen von Cailyn, 04. März 2016, 09:48:44

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Churke

Zitat von: Evanesca Feuerblut am 30. Mai 2016, 22:40:31
Das ist die einzige Form, die mir ermöglicht, die Hauptprotagonistin immer "im Augenblick" darzustellen. Sie hält eine intersexuelle Person für eine Frau? Also kann sie im Präsens auch von einer Frau sprechen und erst im Verlauf der Geschichte dann feststellen "Oh, doch keine Frau" und anders von der Person sprechen. Und ich vermeide alle Situationen, in denen ich rückblickend eigentlich anders hätte schreiben müssen.

Ich glaube, dass du das Präteritum unterschätzt. Man erzählt einen Witz ja auch nicht mit der Pointe zuerst, weil man die schon kennt, sondern stellt sich selbst dumm und führt die Zuhörer in die Irre. Das ist beim Schreiben genauso, völlig unabhängig von der gewählten Zeitform. Die dramaturgischen Unterschiede halte sich für sehr begrenzt, will sagen: Es geht fast immer auch im Präterium oder im Präsens, je nachdem. Ich sehe das eher als eine Frage von Stil und Wirkung auf den Leser.

Shedzyala

Zitat von: Lukas am 30. Mai 2016, 22:33:56
Ich schreibe allerdings trotzdem viel im Präteritum, nur um später festzustellen, dass ich meine Actionsequenzen soooo viel lieber im Präsens schreiben würde. Oder Dialoge. Die sind einfach schlagfertiger.
Hier verwirrst du mich gerade: Dialoge stehen doch immer Präsens, außer jemand erzählt etwas, was ihm früher passiert ist. Oder beziehst du dich hier auf die Sätze drum herum? Die gehören für mich bei einem schnellen Schlagabtausch ganz weg ;)

Zitat von: criepy am 30. Mai 2016, 23:05:41
Ich bin kein Freund des Präsens. Beim lesen wirkt das so unwirklich für mich, viel distanzierter als Präteritum. Ich finde es komisch etwas in der Gegenwart zu lesen, was schon vor längerer Zeit geschrieben wurde und demnach auch nicht mehr gegenwertig passiert...wenn das Sinn ergibt.
Da geht es mir ganz ähnlich. Präsens haut mich beim Lesen ständig raus, weil es irgendwie "anbiedernd" wirkt. Mir ist es schlicht noch nie gelungen, in einem Präsenstext ganz zu versinken und mich meinem Kopfkino hinzugeben.
Wenn sie dich hängen wollen, bitte um ein Glas Wasser. Man weiß nie, was passiert, ehe sie es bringen ...
– Andrzej Sapkowski, Die Dame vom See

Lukas

Zitat von: Shedzyala am 31. Mai 2016, 14:37:38
Hier verwirrst du mich gerade: Dialoge stehen doch immer Präsens, außer jemand erzählt etwas, was ihm früher passiert ist. Oder beziehst du dich hier auf die Sätze drum herum? Die gehören für mich bei einem schnellen Schlagabtausch ganz weg ;)

Ich beziehe mich auf die Sätze drum herum. Ich bin ein Schreiberling, der gerne Dialoge mit körperlichen Reaktionen auf Gesagtes kombiniert und Gedanken meines Ich-Erzählers in O-Ton darstellt. Zum Vergleich, 2 Sätze:

XY riss die Augen auf. Ha, damit hatte die kleine Schlampe nicht gerechnet. [3.pers/Prät.]

Das lässt sich im 1.Pers/Präsens glaubhaft ,wie folgt, ausdrücken:

XY reißt die Augen auf. Ha, damit hast du nicht gerechnet, du kleine Schlampe.[1.pers/Präs.]

Bei ersterem ist das direkte Ansprechen(in Gedanken) der Gesprächsparterin schwerer möglich und in meinem SUBJEKTIVEN Empfinden ist das zweite irgendwie...schneller. Man fühlt sich näher an der Situation. Aber ich denke daran scheiden sich die Geister  ;)





Erdbeere

Präsens ist ein Grund, warum ich ein Buch sofort wieder weglege. Ich habe mit der Ich-Form bereits meine Mühen, aber damit kann ich mich arrangieren. Präsens hingegen, nein. Ich glaube, ich habe bisher ein einziges Buch durchgezogen, und das war auf Englisch.
Selbst im Präsens schreiben könnte ich nicht einmal, wenn ich es versuche. Ich falle automatisch in den Präteritum. Schon beim Schreiben von Plots, die ich im Präsens halte, muss ich mich immer korrigieren.

@Lukas: Ich verstehe grad nicht ganz, was du meinst. Du kannst auch mit den Gedanken deiner Figuren spielen und die im Präsens halten.

XY riss die Augen auf. Ha, damit hast du nicht gerechnet, du kleine Schlampe. <- kursive Gedanken im Präsens in Kombination mit der "Action" in Präteritum funktioniert hervorragend. Weil die Gedanken in Präsens sind (=Dialog), jedoch kursiv, ist dem Leser sofort klar, dass es sich um die Gedanken deiner Figur handelt.

Lukas

Hm, für mich klingt das irgendwie falsch. Ich sag ja, das ist subjektiv und im Endeffekt geht es um das eigene Bauchgefühl. Ich verwende kursive Schrift für besondere Betonungen in Dialogen und kursive Gedanken waren für mich als leser schon immer etwas, über das ich gestolpert bin. Aus dem Grund schreibe ich jedes Kapitel momentan in Präteritum 3.Person und 1.Person Präsens. Das ist super anstrengend, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden.  :d'oh:

Leon

Gedanken müssen nicht immer im Präsens, sie können auch im Präteritum oder im Future stehen.

Beispiel:

In der Mitte der Brücke bleibe ich stehen, und schaue Gedankenverloren auf den Fluss. Ab hier kann ich gedanklich Vergangenes revue passieren lassen, oder Zukünftiges gedanklich durchspielen.

Liebe Grüße
Leon

Gabryel

Ich finde Präsens auch eher anstrengend, und ich finde auch nicht, dass das Präteritum den Schwung aus der Sache nehmen muss. Da bin ich ganz auf Erdbeeres Seite, das würde ich genauso machen.

Joban

Für mich ist es beim Lesen kein großer Unterschied, ob ein Roman im Präteritum oder Präsens geschrieben ist. Ich finde beides interessant und würde nie wegen der Zeitform ein Buch weglegen. Präteritum wirkt auf mich distanzierter als Präsens, was für mich aber kein Qualitätsunterschied ist. Ich denke, es kommt vor allem darauf an, ob einem der Roman an sich gefällt, die Zeitform finde ich da weniger wichtig. Wobei ich nur wenig Erfahrung mit Büchern im Präsens habe, ich kann also nicht sagen, ob es mich stören würde, nur noch im Präsens zu lesen, aber ich rechne damit nicht.

Ich schreibe mein aktuelles Schreibprojekt (Fantasy) im Präsens, was ich noch nie gemacht habe, um zu sehen, wie sich das beim Schreiben so macht. Zuerst hatte ich irgendwie das seltsame Gefühl, kleinkindhafte Sätze zu schreiben, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und mir gefällt beim Schreiben und auch beim Noch-mal-drüber-Lesen die Direktheit des Präsens. Das gilt aber nur fürs Schreiben, beim Lesen von Romanen geht es mir wie oben beschrieben.

Araluen

Ich lese gerade im Präsens udn war anfangs befremdet. Mitlerweile habe ich mich aber daran gewöhnt und empfinde es nicht als störend aber auch nicht als Offenbarung. Ob ich mal im Präsens schreiben würde... wäre vielleicht mal ein Experiment wert. Vermutlich muss ich da noch mehr als sonst Korrektur lesen, um ein Zeitenkauderwelsch zu vermeiden.

Tanja

Ich tue mich mit dem Präsens auch sehr schwer.
Ähnlich wie einige andere hier ist es bei mir so, dass das Buch mich schon sehr stark ansprechen muss, damit ich es im Präsens kaufe.
Am Schlimmsten finde ich 1. Person Präsens:

"Ich renne um mein Leben. Ich sehe die Brücke vor mir. Unter mir sehe ich die aufgewühlten Fluten. Der Verfolger holt mich ein. Ich springe."
usw.

Das ist jetzt etwas überspitzt, aber so eine Szene kommt für mich total unwirklich rüber. Gerade während temporeicher actionszenen bringt es mich total raus, das im Präsens zu lesen.

Ich selber erwische mich beim Schreiben allerdings immer wieder beim Wechsel der Zeiten, das ist auf meiner "Lieblingsfehler-Liste"

Araluen

Gerade einen Ich-Erzähler im Präsens finde ich auch schwierig. Da kommt irgendwie so viel Hektik auf. Immerhin mus der Erzähler sein Abenteuer erleben und parallel dazu berichten und reflektieren im Grunde in Echtzeit. Das liest sich dann tatsächlich unwirklich.

Sturmbluth

Der Grund, warum ich das Präsens nicht mag, ist, dass ich immer das Gefühl brauche, die Geschichte hat bereits stattgefunden, und hinten im Eck des Raumes, vor dem Kamin mit dem prasselnden Feuer, sitzt der Erzähler und erzählt mir diese Geschichte.

Das ist für mich wichtig. Warum? Weiß ich nicht.  ???

Leon

#57
Zitat von: Araluen am 10. August 2016, 12:15:30
Gerade einen Ich-Erzähler im Präsens finde ich auch schwierig. Da kommt irgendwie so viel Hektik auf. Immerhin mus der Erzähler sein Abenteuer erleben und parallel dazu berichten und reflektieren im Grunde in Echtzeit. Das liest sich dann tatsächlich unwirklich.

Der Erzähler und der Protagonist/in sind in der Regel, zweierlei getrennte paar Schuhe. Es sei denn, der Protagonist selbst erzählt Rückblickend. Aber auch hier übernimmt er als Erzähler nur den narrativen Teil der Geschichte. So jedenfalls wurde mir das auf der VHS beigebracht.  :)

Grüßle
Leon

Araluen

#58
Sind sie in der Regel auch. Vor allem ist der Erzähler nicht der Autor. Das ist noch wichtiger. Nur wenn ein Ich-Erzähler berichtet, ist er für mich als Leser mittendrin dabei, vor allem wenn im Präsens erzählt wird. Zumal der Ich-Erzähler auch der Protagonist sein kann oder eben einfach nur ein "Beobachter". In jedem Fall ist der Ich-Erzähler Bestandteil der Geschichte und wenn die durch das Präsens genau jetzt in diesem Moment statt findet, kommt für mich rein subjektiv irgendwie Hektik auf.

Kati

Beim Ich-Erzähler sind Erzähler und Protagonist aber durchaus oft identisch. Es geht natürlich auch anders. Bei "The Great Gatsby" ist der Ich-Erzähler nicht der Protagonist.  ;D Aber meistens sind Ich-Erzähler gleichzeitig die Protagonisten, ist ja auch einfacher so, obwohl es anders auch seinen Reiz hat.

Zitat von: AraluenGerade einen Ich-Erzähler im Präsens finde ich auch schwierig. Da kommt irgendwie so viel Hektik auf. Immerhin mus der Erzähler sein Abenteuer erleben und parallel dazu berichten und reflektieren im Grunde in Echtzeit. Das liest sich dann tatsächlich unwirklich.

Das ist glaube ich eine Stilfrage. Im Präteritum kann ein Ich-Erzähler ebenfalls unglaublich hektisch wirken. Man kann einen Ich-Erzähler im Präsens aber tatsächlich nicht genauso schreiben, wie einen Ich-Erzähler im Präteritum. Das ist mir aufgefallen, als ich versucht habe, eine Ich-Erzählerin vom Präteritum ins Präsens zu übertragen. Das ging überhaupt nicht, ich bin besser damit gefahren, den Text komplett neu zu schreiben. Das liegt wahrscheinlich wirklich daran, dass Präsens "in Echtzeit" stattfindet und Präteritum eine Art Rückblick auf das Geschehene darstellt. Mir gefällt Präsens ehrlich gesagt, zumindest für die Art, Roman, die ich im Moment schreibe, besser und ich bin auch überzeugt davon, dass es möglich ist, im Präsens Ich zu schreiben, ohne, dass Hektik aufkommt. Aber das ist einfach alles eine Frage des Stils, in dem man das Ganze aufzieht. Und es stimmt auf jeden Fall, dass man im Präsens nicht dieselben Stilmittel oder auch Satzstellungen verwenden kann, wie im Präteritum.

Was ich am Präsens mag ist genau diese Unmittelbarkeit. Alles passiert jetzt, in dem Moment, in dem ich es lese, ich bin direkt dabei. Das erzeugt, wenn gut gemacht, eine sehr eigene Spannung, weil ich mir nicht einmal sicher sein kann, ob die Geschichte gut ausgeht. Bei Geschichten im Präteritum kann ich mir zumindest denken, dass der Ich-Erzähler davon kommt, sonst könnte er mir die Geschichte ja nicht mehr erzählen. Aber im Präsens fällt das weg. Das ist denke ich der Reiz am Präsens für viele Dystopieautoren. Bei den "Hunger Games" war nie klar, dass Katniss davon kommt, dass nicht etwas unglaublich Schlimmes passieren wird, und dass man sich nie sicher sein konnte, lag denke ich mit am Präsens. Das Präteritum hätte der Geschichte sehr viel an Fahrt genommen. Für Dystopien, Horror und dergleichen halte ich das Präsens für ziemlich geeignet und ich lese es auch sehr gern. Und das kommt jetzt von mir, die vor etwas über einem Jahr noch gesagt hätte, dass sie Romane im Präsens überhaupt nicht mag, niemals schreiben würde und nicht gern liest.  ;) Geschmack verändert sich halt auch.