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Bewusstseinsstrom (Stream of Consciousness)

Begonnen von Aphelion, 30. April 2018, 17:21:23

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Aphelion

In einem anderen Thread kam die Rede auf den Bewusstseinsstrom als eine extreme Form des personalen Erzählers.

Dabei kam die Frage auf: Ist das nicht dasselbe wie Show don't tell? Meine Ansicht dazu:

Show don't tell ist hier ein gutes Stichwort, denn das spielt im Bewusstseinsstrom zwangsweise eine wichtige Rolle. Show don't tell kann aber nicht nur beim Bewusstseinsstrom zum Einsatz kommen und ist nicht auf personale Erzähler beschränkt. Auch auktoriale oder neutrale Erzähler können Show don't tell verwenden.

Show don't tell ist eine (einzelne) Technik, während der Bewusstseinsstrom ein übergeordnetes Konzept darstellt, innerhalb dessen Show don't tell nur eine Technik von vielen ist.

Es gibt also verschiedene Erzähldimensionen, unter anderem:

  • Erzählform: er/sie, ich
  • Erzählverhalten: neutral, personal, auktorial
  • Nähe/Distanz: stufenloses Spektrum von "der Erzähler ist ganz nah an der Figur in der aktuellen Situation dran" bis "der Erzähler ist völlig unbeteiligt"

Ein Bewusstseinsstrom setzt sich dementsprechend zusammen aus:

  • Erzählform: meistens "ich", aber auch "er/sie" möglich
  • Erzählverhalten: personal
  • Nähe/Distanz: maximale Nähe

Beispiel Dr. Watson - als Kontrast:

  • Erzählform: ich
  • Erzählverhalten: auktorial
  • Nähe/Distanz: parteiisch, aber eher distanziert - schon allein deswegen, weil er die Geschichten mit zeitlichem Abstand aufschreibt; dadurch ist der "erzählende Watson" nicht mit dem "Watson in der Situation" identisch, sondern er hat seitdem zusätzliche Erfahrungen gesammelt, über das Geschehen nachgedacht, kennt den Ausgang usw.

Im Bewusstseinsstrom erzählt ein personaler Erzähler aus der aktuellen Situation heraus - er ist quasi "live" dabei. Damit ist ein auktorialer Erzähler prinzipiell ausgeschlossen - denn natürlich kann eine Figur reflektieren, aber der personale Erzähler kann im Bewusstseinsstrom nichts kommentieren oder reflektieren, was die Figur in genau diesem Augenblick nicht auch denkt.

Um das zu betonen werden häufig bestimmte Techniken verwendet, z.B. die Ich-Form, Präsens als Erzähltempus, erlebte Rede, keine Anführungszeichen bei wörtlicher Rede, Erzählzeit = erzählte Zeit (keine Zeitsprünge oder Raffungen) - und eben auch Show don't tell. Alle diese Techniken sind aber für sich genommen kein Muss im Bewusstseinsstrom, wobei Show don't tell in meinen Augen eine Ausnahme darstellt. Jedenfalls fällt mir kein Beispiel für einen Bewusstseinsstrom ohne Show don't tell ein.

Manche Geschichten/Romane sind (fast) ausschließlich als Bewusstseinsstrom geschrieben, in anderen wird er nur stellenweise eingesetzt.

Verwandtes Thema, aber nicht identisch: Monologe

Tintenteufel

Ich habe mal flüchtig in den anderen Thread geschaut und bin ein wenig irritiert.
Du hattest dort schon 'Ulysses' angesprochen, ich würde das hier einmal kurz als Beispiel anhängen wollen. Nur, um das Prinzip zu verdeutlichen und anschaulich zu machen, warum personales Erzählen und Bewusstseinsstrom zwei verschiedene Dinge sind.

Sorry but you are not allowed to view spoiler contents.


Ich würde zu deinen Ausführungen noch hinzufügen wollen, Aphelion, dass auch der Bewusstseinsstrom nicht notwendigerweise "zeigen" muss und "Show don't tell" vernachlässigen kann. Etwa bei Erinnerungen, Assoziationen usw. kann der Erzähler bloß "erklären", dass Tante Susi eine blöde Klatschtante ist, ohne dass wir eine volle Szene von Klatsch zu hören bekommen.
Also dass "Show don't tell" ein stilistischer Kniff ist, Bewusstseinsstrom ein erzählerischer.

Aphelion

Kannst du erklären, was an dem Zitat für dich nicht personal ist? Die Kernmerkmale des personalen Erzählers sind, dass der Erzähler selbst nicht in Erscheinung tritt und aus der Perspektive einer Figur berichtet. Der zitierte Ausschnitt zeigt nichts anderes. ???

Der Bewusstseinsstrom ist eine extreme Form des personalen Erzählens, aber er ist immer noch personal. Umgekehrt ist natürlich nicht jede personale Erzählung ein Bewusstseinsstrom - was ich allerdings auch nicht behauptet habe. D.h., es gibt natürlich andere personale Erzähler. Der gängigste ist heutzutage der semi-nahe personale Er/Sie-Erzähler. Aber das ist nicht die Definition von "personaler Erzähler", sondern auch nur eine Form des personalen Erzählens.

Zum Show don't tell: Stimmt, das ist ein gutes Beispiel. Aber im Großen und Ganzen denke ich schon, dass ein Bewusstseinsstrom (wenn es sich um einen längeren Text handelt) nicht ohne auskommt, auch wenn das Show don't tell nicht an jeder Stelle vorkommen muss.

Dem letzten Satz kann ich zustimmen, denn das ist genau der Punkt, auf den ich hinauswollte ;D - dass beide Begriffe (show don't tell und Bewusstseinsstrom) sich nicht auf derselben Dimension befinden und deshalb auch nicht gegeneinander gestellt werden können; sie können höchstens (nicht) miteinander kombiniert werden.

Tintenteufel

#3
Okay, da war ich etwas unklar. Mit "warum personales Erzählen und Bewusstseinsstrom zwei verschiedene Dinge sind" meinte ich natürlich nicht, dass es im Bewusstseinsstrom keinen personalen Erzähler geben würde. Mir geht es dabei nicht um die Erzählinstanz, sondern das Erzählen selbst. D.h. dass nicht alles personales Erzählen per Bewusstseinsstrom passiert und es noch eine Menge andere Merkmale gibt, abgesehen davon, etwas in der Reihenfolge zu beschreiben, wie es dem Charakter auffällt.

Beim Show ging es mir nur darum zu zeigen, dass das nicht deckungsgleich ist und nicht immer und notwendigerweise durchgezogen wird. Einerseits, weil das eben nicht auf der gleichen Ebene liegt und andererseits weil ich dieses "Show don't tell!" im amerikanischen Creative Writing für überzogen halte.
Ab welcher Länge so ein Bewusstseinsstrom unverständlich wird ohne Showing, sei mal dabei mal als Stilfrage dahin gestellt. :) Ich finde Ulysses auch so schon scheußlich zu lesen.

Usaria

Hallo Leute.

Das mit dem Bewusstseinsstrom hast du gut erklärt Aphelion. Doch was ist mit dem Begriff gemeint  "Show don´t tell" Gibt es hier ein Therad wo solche Begriffe erklärt werden. Für Leute wie mich. Die bislang nur geschrieben haben, aber kein wirkliche Hintergrundwissen über... ich weiß jetzt nicht wie ich´s nennen soll? Begrifflichkeiten im Autorenwesen? Ich weiß ist jetzt etwas schwammig ausgedrückt, doch besser kann ich´s nicht erklären? Entschuldigt bitte.
Denn hier tauchen Begrifflichkeiten auf, von denen ich noch nicht´s gehört habe. Wie eben Ulysses. Ich hoffe ich finde dazu einen Wickie-Eintrag?

Aphelion

#5
@Tintenteufel

Ich habe noch mal nachgeguckt, in meinem Beitrag stand und steht an der entscheidenden Stelle ein "z.B.", wo es um Merkmale geht. Zum Rest könnte ich etwas ähnliches schreiben, aber ich finde solche Ich-hab-dies-gesagt-und-nicht-das-Diskussionen ehrlich gesagt ziemlich nervig. Ich bleibe bei dem, was ich geschrieben habe - und nicht bei dem, was du herausgelesen hast. :)

@Usaria
Eine Übersicht mit solchen Begriffen wäre wirklich eine gute Idee. Ich weiß nicht, ob es im Forum schon so etwas gibt; die Suchfunktion ist zum Nachschlagen aber oft hilfreich (oben auf der Seite, unter dem Tintenzirkel-Logo). Zu Show don't tell gibt es hier einen Thread.