Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum

Handwerkliches => Workshop => Thema gestartet von: HauntingWitch am 05. Oktober 2017, 13:04:02

Titel: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: HauntingWitch am 05. Oktober 2017, 13:04:02
Weil wir es im Thread über Romance mit starken Frauen davon hatten, möchte ich einen Punkt ansprechen, der mich in letzter Zeit beschäftigt. Was starke und schwache Figuren ausmacht, wurde in anderen Threads ausführlich diskutiert. Aber: Wie hält man die Balance? Eine starke Figur soll ja auch mal schwach sein können und eine schwache Figur soll auch mal Stärke zeigen dürfen. Aber das hinzukriegen, ohne dass die Figur gleich wie ein umgekehrter Handschuh wirkt oder als hätte sie beschlossen, plötzlich jemand völlig anderes zu sein, finde ich sehr schwierig.

Sagen wir z.B. eine starke Figur ist in einer bestimmten Situation unsicher. Wie zeigt man das, ohne dass ihre Stärke dadurch ausgehebelt wird? Beziehungsweise wie präsentiert man die Figur in der Geschichte sonst, damit diese Situation eben nicht diesen Umkehr-Effekt hat.

Wo ist die Grenze und wie findet man den Ausgleich? Optimal wäre natürlich, wenn z.B. die starke Figur in der Situation der Schwäche immer noch insgesamt stark rüberkommt, aber wie stellt man das an? Oder reicht es, zu wissen, dass die Figur eigentlich sonst stark ist, aber diese Situation sie einfach so sehr verunsichert?

Was habt ihr für Erfahrungen damit gemacht? Wie handhabt ihr das? Was ist euch beim Schreiben und beim Lesen solcher Szenarien wichtig?
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Lothen am 05. Oktober 2017, 13:13:19
ZitatSagen wir z.B. eine starke Figur ist in einer bestimmten Situation unsicher. Wie zeigt man das, ohne dass ihre Stärke dadurch ausgehebelt wird? Beziehungsweise wie präsentiert man die Figur in der Geschichte sonst, damit diese Situation eben nicht diesen Umkehr-Effekt hat.

Ich finde, genau das macht doch einen realistischen Charakter aus. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, die sich in ganz anderen Bereichen manifestieren können.

Ein Charakter kann ein toller, tapferer Kämpfer, aber sozial unbeholfen bis ängstlich sein und sich in wichtigen Unterhaltungen total ungeschickt verhalten.

Ein anderer ist extrem intelligent und durchsetzungsfähig, hat aber Angst, nachhause zu gehen, weil dort seine kaputte Familie wartet.

Oder ein Charakter ist ein hervorragender Analytiker, körperlich aber total unfit und in Auseinandersetzungen zieht er den Kürzeren.

Ich sehe an diesen Gegensätzen gar keine Unstimmigkeiten, im Gegenteil. Ich glaube auch nicht, dass das beliebig oder inkonsistent wirkt, wenn der Charakter so eingeführt und seine Stärken und Schwächen angemessen repräsentiert werden.

Außerdem hat man ja, wenn aus dem POV des Charakter erzählt wird, immer die Möglichkeiten, das Innenleben darzustellen. Nur, weil eine Figur sich nach außen stark zeigt, kann sie im Inneren trotzdem zweifeln und am Ende über diese Zweifel triumphieren. Dann wirkt sie zwar energisch, aber trotzdem menschlich.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: cryphos am 05. Oktober 2017, 13:34:37
Was man von starken Persönlichkeiten sieht ist meist nur die Fassade und ihr Auftreten, also ihre äußere Haltung.
Die innere Haltung kann davon sehr stark abweichen. Hier kann ein starker Konflikt zwischen Fühlen und Handeln schwelen. Entscheidungen können nachträglich angezweifelt oder als schlecht bewertet werden.

Als Autor kann man aber beide Seiten, innere und äußere Handlung,  beschreiben und sogar die scheinbare Stärke als Schwäche entlarven.

Wenn wegen des Erzählstils auf die innere Sicht nicht zugegriffen werden kann, kann man dennoch den inneren Konflikt andeuten.

Beispiel aus dem realen Leben: Ein Geschäftsführer ist sehr schnell ins einen Entscheidungen und verteidigt eisern seine Entscheidungen und sein Revier. Fehler werden immer erst bei den anderen gesucht und gefunden und diese werden dann auch direkt (und lautstark) angegriffen. Ein sehr dominates Auftreten, kein Anzeichen von Schwäche tritt zu Tage. Wenn der Angegriffene sich aber mit Fakten wehrt und damit belegen kann, dass der Fehler ganz wo anders liegt und Hilfstellungen anbietet um den Fehler zu beheben schwindet das dominante Auftreten und der Geschäftsführer bittet um Rat. Im folgenden nimmt der Geschäftsführer eine wesentlich schwächere Position ein. Ausgedrückt durch Auftreten, Sprache und Handlung.

Den inneren Konflikt sprechen wir im Beispiel oben gar nicht an, aber die Auswirkungen sind sichtbar.
Hilft dir das weiter?
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: canis lupus niger am 05. Oktober 2017, 13:51:50
Zitat von: Lothen am 05. Oktober 2017, 13:13:19
Ich finde, genau das macht doch einen realistischen Charakter aus. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, die sich in ganz anderen Bereichen manifestieren können.

Genau das ist auch meine Meinung. Niemand kann alles und ist immer stark.
Starke Persönlichkeit haben auch Fehler und Schwächen, sind sich ihrer bewusst und versuchen, damit umzugehen, sie zu überwinden und ihre Ziele trotzdem zu erreichen, selbst wenn sie sich dabei vor Angst übergeben müssen. Schwache Persönlichkeiten reden sich ein, keine Fehler zu haben/zu machen und das, was nicht gelingt, ist die Schuld Anderer oder der Umstände. Nicht keine Schwächen zu haben, ist Stärke, sondern die Art, wie man mit seinen Schwächen umgeht.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Churke am 05. Oktober 2017, 14:27:38
Zweifel ist eine Voraussetzung, um weise Entscheidungen zu treffen.
Was den starken vom schwachen Charakter unterscheidet, ist die Art, mit seinen Zweifeln umzugehen.
Kann er sie überwinden? Gibt er ihnen nach? Und was ist, wenn die Zweifel an ihn herangetragen wurden, um ihn zu manipulieren?
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Sascha am 05. Oktober 2017, 14:48:00
Zitat von: cryphos am 05. Oktober 2017, 13:34:37
Beispiel aus dem realen Leben: Ein Geschäftsführer ist sehr schnell ins einen Entscheidungen und verteidigt eisern seine Entscheidungen und sein Revier. Fehler werden immer erst bei den anderen gesucht und gefunden und diese werden dann auch direkt (und lautstark) angegriffen. Ein sehr dominates Auftreten, kein Anzeichen von Schwäche tritt zu Tage. Wenn der Angegriffene sich aber mit Fakten wehrt und damit belegen kann, dass der Fehler ganz wo anders liegt und Hilfstellungen anbietet um den Fehler zu beheben schwindet das dominante Auftreten und der Geschäftsführer bittet um Rat. Im folgenden nimmt der Geschäftsführer eine wesentlich schwächere Position ein. Ausgedrückt durch Auftreten, Sprache und Handlung.
Öhm ... :hmmm: Ich finde ja das vermeintlich starke Verhalten eher schwach. Wer Fehler immer erst bei anderen sucht und die runterputzt, ist ein Schwächling.
Fehler zugeben und Rat annehmen, das ist ja erst Stärke.

Ansonsten schließe ich mich Lothen an: Es gibt niemanden, der nur Stärken oder nur Schwächen hat. Die Verteilung mag unterschiedlich sein und die Wahrnehmung (auch durch einen selbst) ebenso, manchmal muß man nach einer Seite ziemlich suchen, aber da ist immer beides.
Na gut ... bei manchen Typen frage ich mich, wie gut man seine Stärken eigentlich verstecken kann ...
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Carolina am 05. Oktober 2017, 14:53:03
Für mich machen starke Charaktere aus, dass sie das Problem, das ihnen der weise, konfliktsuchende Autor stellt, an den Ohren packen. Sie mögen dabei nicht immer geschickt sein, aber sie stellen sich ihrem Schicksal.
Schwache Charaktere werden vom Setting und von den anderen Charakteren durch das Buch getrieben.

Eine Stärke kann eine Schwäche sein und umgekehrt. Das hängt auch vom Umfeld ab. Ein aggressiver Charakter wird wohl in einer Soldateneinheit eher als stark wahrgenommen, während er in einer Kneipe sicher nicht gern gesehen ist und man eher denkt, er sei ein hirnloser Idiot.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Amanita am 05. Oktober 2017, 14:53:35
Hier wurden ja allgemein schon einige wichtige Dinge gesagt.
Besonders bei weiblichen Figuren zeigt sich die "schwache" oder "verwundbare" Seite aber in Filmen und Büchern oft dann, wenn es um körperliche Nähe zu Männern geht. Entweder im Rahmen einer Liebesgeschichte, wo die "starke" Frau auf einmal total emotional und labil wird, oder sie wird Opfer eines sexuellen Übergriffs, ist dann traumatisiert und schutzbedürftig. Beides kann natürlich im realen Leben vorkommen, aber die Häufigkeit und die damit verbundenen Implikationen führen doch dazu, dass ich sowas in fiktiven Geschichten lieber seltener oder auch gar nicht mehr sehen würde, wenn sich die Geschichte nicht gerade um die Auswirkungen ungesunder "Liebe" oder um sexuelle Gewalt dreht.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Sprotte am 05. Oktober 2017, 15:01:24
Mein Cajan ist ein 1,99m-130kg-Krieger, überragt jeden und metzelt sich notfalls durch seine Feinde. Er ist tapfer und absolut loyal.

Er hat Höhenangst - und gibt diese Angst zu und kämpft tapfer gegen sie an (meist chancenlos, aber heroisch). Er ist Halbelf (Elfen in dieser Welt werden verächtlich als "eine Handbreit über einem Köter" angesehen), weiß um die ihm entgegenschlagene Geringschätzung und arbeitet daran, seinen Wert immer und immer wieder zu beweisen. Oh, und er ist schüchtern gegenüber rein menschlichen Frauen, weil er ja ein halbes Vieh ist.

Ich habe selten zuvor und danach so viel Spaß mit einr Figur gehabt wie mit ihm.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Fianna am 05. Oktober 2017, 15:04:31
Edit: hat sich überschnitten. Eigentlich denke ich gerade in dieselbe Richtung wie @Anja

~~~

Das klingt alles nach Charakterfehlern, situationsbedingtem Einbruch - Dinge, die von innen kommen oder in einer spezifischen Situation auftreten.
Aber man kann doch sicher ein Setting schaffen, indem sowohl die Stärke als auch die durch äußere Einflüsse bedingte Schwäche permanent existieren lässt.
Die Menschen, die einen umgeben, sind keine homogene Masse, sie gehören doch alle zu verschiedenen Kreisen. In manchen dieser Kreise ist man die Katze, in anderen die Maus.


Im NaNo werde ich eine Figur verwenden, die in ihrem eigenen Milieu eine starke Figur ist. Sie ist geradezu genial in dem schwierigsten Teil ihres Aufgabenbereiches.
Doch schon eine Etage drüber bewertet man diese Figur ganz anders. Es ist egal, was er leistet, wichtiger sind Gehorsam und in gewissem Sinne Manipulierbarkeit. Dass dies der Hauptfigur fehlt, macht sie für die Entscheidungsträger unberechenbar und hinderlich.
Deswegen ist seine Stärke auf seine winzige Welt beschränkt, und als sich diese Kreise überschneiden, nimmt niemand seinen Ratschlag an und Chaos bricht aus.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Trippelschritt am 05. Oktober 2017, 15:13:16
Keine einfache Frage, weil sie viele Antworten zulässt. Eine hat Cryphos bereits geliefert. Wenn einem äußeren Konflikt ein innerer gegenübersteht, gewinnt die Figur an Komplexität und Tiefe. Und damit arbeiten auch zwei Ebenen gegeneinander, was Dir die Möglichkeit einer ständigen Neugewichtung bietet.

Wenn ein starker Charakter auch einmal Schwäche zeigt, macht ihn das nur menschlich, aber nicht schwach. Als starker Charakter rappelt er sich ja auch wieder auf. Stark heißt ja nicht perfekt. Es heißt auch nicht, dass jemand alles kann. Es heißt nur, dass jemand weiß, was er will, seinen Weg geht und nicht vom ersten Windstoß umgeworfen wird. Aber selbstverständlich kann er straucheln.

Dein Cayan ist allerdings kein so ganz Starker, denn sonst würde ihm das "halbe Vieh" nicht so viel ausmachen und er wäre auch nicht schüchtern, sondern wortkarg. Aber das macht ja nichts. Ein Held muss nicht stark sein, sondern besonders. Und er sollte nicht schwach sein. Da passt bei dir alles.

Liebe Grüße
Trippelschritt
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: cryphos am 05. Oktober 2017, 15:24:25
Zitat von: Sascha am 05. Oktober 2017, 14:48:00
Öhm ... :hmmm: Ich finde ja das vermeintlich starke Verhalten eher schwach. Wer Fehler immer erst bei anderen sucht und die runterputzt, ist ein Schwächling.
Fehler zugeben und Rat annehmen, das ist ja erst Stärke.

Ansonsten schließe ich mich Lothen an: Es gibt niemanden, der nur Stärken oder nur Schwächen hat. Die Verteilung mag unterschiedlich sein und die Wahrnehmung (auch durch einen selbst) ebenso, manchmal muß man nach einer Seite ziemlich suchen, aber da ist immer beides.
Na gut ... bei manchen Typen frage ich mich, wie gut man seine Stärken eigentlich verstecken kann ...
Es geht jetzt nicht darum ob der Typ wirklich stark oder doch schwach ist, sondern darum wie man seiner (scheinbare) Stärke eine (scheinbare) schwächere Seite gegenüberstellt ohne auf die innere Handlung einzugehen, sondern rein mit äußerer Handlung den wandel zu umschreiben.

Ich weiß, ist nicht das beste Beispiel, was besseres viel mir auf die Schnelle nicht ein.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Churke am 05. Oktober 2017, 15:45:05
Zitat von: Witch am 05. Oktober 2017, 13:04:02
Sagen wir z.B. eine starke Figur ist in einer bestimmten Situation unsicher. Wie zeigt man das, ohne dass ihre Stärke dadurch ausgehebelt wird? Beziehungsweise wie präsentiert man die Figur in der Geschichte sonst, damit diese Situation eben nicht diesen Umkehr-Effekt hat.

Möglicherweise machst du hier zu viele Gedanken. Normalerweise legt man es in einem Plot darauf an, den Helden mit Situationen zu konfrontieren, denen er nicht gewachsen ist oder sich zumindest nicht gewachsen glaubt. Man schreibt also bewusst den Moment herbei, in dem der Held schwächelt.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: HauntingWitch am 05. Oktober 2017, 16:38:34
Danke euch allen für eure Antworten. :) Ich sehe langsam mein Problem, nämlich:

Zitat von: LothenIch sehe an diesen Gegensätzen gar keine Unstimmigkeiten, im Gegenteil. Ich glaube auch nicht, dass das beliebig oder inkonsistent wirkt, wenn der Charakter so eingeführt und seine Stärken und Schwächen angemessen repräsentiert werden.

Das ist meine Angst, dass sie dann inkonsistent wirken. Dabei ist es vermutlich wirklich eher so, wie du sagst, dass sie dadurch erst realistisch werden. Irgendwie ist da ein Denkfehler bei mir.

Zitat von: CryphosHilft dir das weiter?

Weiss ich noch nicht, ich sehe das eher wie Sascha. ;D Aber ich verstehe, was du meinst. Wie gesagt, ich denke viel nach in letzter Zeit, ich muss eine Menge solcher "Denkfehler" ausmerzen.

Zitat von: AmanitaBesonders bei weiblichen Figuren zeigt sich die "schwache" oder "verwundbare" Seite aber in Filmen und Büchern oft dann, wenn es um körperliche Nähe zu Männern geht.

Genau so eine Situation habe ich auch. Aber ich möchte, dass eben nicht das passiert, was du als abschreckend beschreibst, nämlich dieses "hörig werden", sondern dass die Frau trotz ihrer sexuellen Unsicherheit insgesamt als starke Person rüberkommt. Dieses Klischee von der Frau, die zur willenlosen Marionette wird, sobald ihr ein ach-so-toller Mann gegenübersteht, will ich vermeiden.

Es geht aber nicht nur um diese Konstellation, ich habe überall in der Geschichte solche Dinge, deshalb war auch die Eingangsfrage sehr allgemein formuliert.  ;)
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Churke am 06. Oktober 2017, 11:17:43
Zitat von: Witch am 05. Oktober 2017, 16:38:34
Genau so eine Situation habe ich auch. Aber ich möchte, dass eben nicht das passiert, was du als abschreckend beschreibst, nämlich dieses "hörig werden", sondern dass die Frau trotz ihrer sexuellen Unsicherheit insgesamt als starke Person rüberkommt. Dieses Klischee von der Frau, die zur willenlosen Marionette wird, sobald ihr ein ach-so-toller Mann gegenübersteht, will ich vermeiden.

Es würde wohl niemand einen Mann für schwach halten, weil er Frauen gegenüber unsicher ist. "Schrecklich in der Schlacht und furchtbar im Bett" halte ich auch nicht zwingend für Gegensätze.  ;)
Der Punkt ist nicht Unsicherheit, sondern Unterwerfung.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: AlpakaAlex am 18. Mai 2019, 16:18:39
Ich hole noch ein älteres Thema hervor, gerade weil ich dieses Thema durchaus interessant finde. Allerdings mehr für eine Diskussion: Ist es überhaupt richtig, Eigenschaften in Stärken und Schwächen zu unterteilen?

Mein Hintergrund dabei kommt so ein wenig mit der Arbeit mit jungen Autoren und die sind so auf dieses Stärken/Schwächen Konzept fixiert, dass oftmals recht unstimmige Charaktere zustande kommen. Das Problem dabei ist halt, dass Eigenschaften in klare Schwäche oder klare Stärke unterteilt werden - ohne, dass betrachtet wird, wie eine Schwäche manchmal eine Stärke sein kann und umgekehrt.

Ich habe allerdings in diesem Rahmen auch immer wieder die "Go To Schwäche", die viele nutzen, und mit der ich mich angefeindet habe: Ungeschicklichkeit. Wir kennen es ja alle von beliebigen weiblichen Manga-Heldinnen oder Bella Swan (wobei es bei letzterer zumindest wirklich durchgezogen war, selbst wenn das auf eine Art, dass es teilweise unglaubwürdig war, dass sie sich nicht schon lang das Genick gebrochen hatte). Oft wirkt diese "Schwäche" auf mich halt wie etwas, das jemand noch an einen Charakter angehängt hat, damit si*er nicht zu "übermächtig" wirkt. Aber es wirkt eben für den etwaigen Charakter nicht wirklich natürlich, sondern angetackert. Und von diesen Schwächen gibt es so ein paar.

Ich denke halt wirklich, dass es letzten Endes darauf ankommt, dass ein Charakter in seiner Geschichte mit Konflikten wirklich zu kämpfen hat. Und dass die etwaigen Charaktereigenschaften den Charakter halt eben dabei behindern. Und da kann durchaus eine Stärke eben auch zu so einer Behinderung führen. Was ist bspw. wenn ein Charakter enormes Selbstbewusstsein hat? Das kann gut sein, aber halt eben auch schnell im Weg stehen.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: CarlH am 18. Mai 2019, 18:54:24
Aus der Psychologie.
Ich drücke das bestimmt jetzt sehr unbeholfen aus, seht es mir nach.
Nach meinem Wissensstand.
Jeder Mensch sieht unbewusst in anderen Menschen seinen Vater oder seine Mutter. Das passiert ohne das wir das steuern können.
Das heißt, alles was wir von den Eltern mitbekommen haben, im guten, sowie im Schlechten, übertragen wir auf andere Menschen.
Das prägt unser Handeln, unsere Stärken, unsere Schwächen. Die dadurch herbeigerufenen Hürden, die wir im Leben nehmen müssen, prägen den Charakter.
Was hat so eine Romanfigur für eine Beziehung zu seinen Eltern gehabt, ist immer eine interessante Frage, die sich ein Autor stellen kann. Daraus lassen sich dann Schlussfolgerungen für den Handlungsstrang ergeben in der Interaktion der Charaktere.
Und schwupps, könnte man daraus einen stimmigen Charakter entwickeln mit all seinen Stärken und schwächen. Hab ich jedenfalls so gemacht, und hoffe, dass ich nicht irgendwo danebenliege. Aber man kann das ja alles noch anpassen.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Gizmo am 19. Mai 2019, 08:35:09
Zitatohne, dass betrachtet wird, wie eine Schwäche manchmal eine Stärke sein kann und umgekehrt.

Das finde ich gut ausgedrückt, und versuche mich an den Gedanken dahinter zu halten.
Einer meiner Charaktere musste z.B. bereits in jungen Jahren sehr selbstständig sein. Sie war gewohnt, alleine zu entscheiden, was für andere das Beste ist, und danach zu handeln - denn wenn sie es nicht machte, tat es niemand. In diesem Umfeld war das eine Stärke, weil sie so alles am Laufen halten konnte.
In einem anderen Umfeld hatte sie dann später Probleme, weil sie mit Leuten zusammen war, die selbst entscheiden konnten und wollten, was für sie das Beste war. Hier war ihre Art, die auf den ersten Blick als bevormundent und stur wahrgenommen wurde, eher eine Schwäche.

Ich würde übrigens auch sagen, einiges an dieser strikten Unterteilung stammt aus dem Umgang mit Eigenschaften, mit dem wir aufwachsen. Eine der beliebtesten Fragen, die mir in Bewerbungsgesprächen gestellt wurden, war z.B.: "Was ist Ihre größte Schwäche?" Darauf wurde ich dann auch in der Schule / Berufsschule vorbereitet usw.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Fianna am 19. Mai 2019, 23:25:58
@NelaNequin
Das stimmt. Sturheit wird zum Beispiel oft als Schwachpunkt gesehen. Das ist aber nur der Blick, den der Autor auf die Figur hat und dem Leser aufdrängt. Man könnte auch sagen: die Figur kann seine / ihre Meinung und Pläne gegen alle Widrigkeiten verfolgen und lässt sich nicht von Gruppendruck beeinflussen.
Es ist oft eine Frage der Sichtweise und der Darstellung. Deswegen kommt es wohl zu der kontroversen Diskussion über manche Figuren in Romanen (das bekomme ich teilweise mit, wenn ich Rezensionen lese), die vom Autor eigentlich relativ eindeutig als hilfreich oder hinderlich beziehungsweise stark und schwach eingeteilt sind. Die Beispiele, an denen das im Buch gezeigt wird, sind wohl nicht eindeutig genug gewählt, und was der Autor als negativ angelegt hat, wird von einigen Lesern positiv verstanden.
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Shedzyala am 20. Mai 2019, 04:02:25
Zitat von: Fianna am 19. Mai 2019, 23:25:58
@NelaNequin
Das stimmt. Sturheit wird zum Beispiel oft als Schwachpunkt gesehen. Das ist aber nur der Blick, den der Autor auf die Figur hat und dem Leser aufdrängt. Man könnte auch sagen: die Figur kann seine / ihre Meinung und Pläne gegen alle Widrigkeiten verfolgen und lässt sich nicht von Gruppendruck beeinflussen.
Danke, Fia! :jau: Diese Diskussion durfte ich nämlich beim Bewerbungstraining führen, als drei positive Eigenschaften genannt werden sollten und ich ua Sturheit und Neugier sagte. Beides sollen angebliche Nachteile sein, mir haben sie aber bisher mehr genützt als geschadet. Aber in Trainingsbücher ständen sie als negativ drin und deshalb wäre es so ... Die Trainerin war auf jeden Fall nicht mit Sturheit gesegnet und hat die Diskussion mit mir irgendwann entnervt abgebrochen ;D

Zitat von: Karlo am 18. Mai 2019, 18:54:24
Aus der Psychologie.
Ich drücke das bestimmt jetzt sehr unbeholfen aus, seht es mir nach.
Nach meinem Wissensstand.
Jeder Mensch sieht unbewusst in anderen Menschen seinen Vater oder seine Mutter. Das passiert ohne das wir das steuern können.
Das heißt, alles was wir von den Eltern mitbekommen haben, im guten, sowie im Schlechten, übertragen wir auf andere Menschen.
Das prägt unser Handeln, unsere Stärken, unsere Schwächen. Die dadurch herbeigerufenen Hürden, die wir im Leben nehmen müssen, prägen den Charakter.

Hm, klingt für mich jetzt weniger überzeugend, vor allem weil es menschheitsgeschichtlich noch recht jung ist, dass sich zwei Menschen allein um den eigenen Nachwuchs kümmern. Früher war es ja durchaus üblich, dass ein Kind mehrere Bezugspersonen hatte, die sich drum kümmerten und ich habe es auch bei meinem Bruder erlebt, dass Kinder keineswegs nur auf zwei Menschen fixiert sind. Ich bin 12 Jahre älter und war für ihn (gerade in sehr jungen Jahren) ebenfalls eine Autoritätsperson, meine Ansagen wurden nicht hinterfragt, meine ausgesprochenen Verbote respektiert und wenn er etwas angestellt hatte, hat er sich von sich aus vor mir gerechtfertigt, und das alles, ohne dass er sich noch einmal bei unseren Eltern rückversichert hat, ob ich ihm auch was sagen darf. Für ihn war auch also ein drittes Elternteil (und erst als er Anfang 20 wurde, hat sich unsere Beziehung ganz langsam auf Augenhöhe angeglichen).
Sprich dass Bezugspersonen Einfluss auf den Charakter haben können, kann ich glauben, nicht aber die Fixierung auf Mutter und Vater. Nichtsdestotrotz sollte man natürlich nach Möglichkeit immer wissen, welches Verhältnis der Charakter zu den Eltern und wer ihn oder sie eigentlich aufgezogen hat. Beim typischen Fantasy-Helden (TM) sind das nämlich fast nie die Erzeuger gewesen ;D
Titel: Re: Die Balance zwischen stark und schwach
Beitrag von: Churke am 20. Mai 2019, 11:57:22
Zitat von: NelaNequin am 18. Mai 2019, 16:18:39
Ich hole noch ein älteres Thema hervor, gerade weil ich dieses Thema durchaus interessant finde. Allerdings mehr für eine Diskussion: Ist es überhaupt richtig, Eigenschaften in Stärken und Schwächen zu unterteilen?

Ja. Weil man sich als Autor festlegen muss.
Stärken und Schwächen sind Motivatoren, die das Handeln einer Figur bestimmen. Die Kategorisierung in Stärke oder Schwäche hängt auch von der Figur ab. Eine Stärke lässt eine Figur das Richtige tun (in der Logik des Plots), eine Schwäche das Falsche.

Da wir Helden wollen, die auch mal Fehler machen, brauchen die Helden Schwächen, mit denen wir diese Fehler erklären. Schwächen darf man nicht auswürfeln, sie müssen sich aus dem Plot ergeben.

Zitat von: Shedzyala am 20. Mai 2019, 04:02:25
Danke, Fia! :jau: Diese Diskussion durfte ich nämlich beim Bewerbungstraining führen, als drei positive Eigenschaften genannt werden sollten und ich ua Sturheit und Neugier sagte. Beides sollen angebliche Nachteile sein, mir haben sie aber bisher mehr genützt als geschadet. Aber in Trainingsbücher ständen sie als negativ drin und deshalb wäre es so ... Die Trainerin war auf jeden Fall nicht mit Sturheit gesegnet und hat die Diskussion mit mir irgendwann entnervt abgebrochen ;D

Das ist eine Wertungsfrage. In einer Gesellschaft, die Unterordnung und Konformismus erwartet, ist Sturheit hochgradig unerwünscht. Und dann vielleicht noch wertkonservativ ohne Rücksicht auf Verluste.