• Willkommen im Forum „Tintenzirkel - das Fantasyautor:innenforum“.
 

Erzählzeit und erzählte Zeit

Begonnen von Nirathina, 21. Februar 2012, 16:39:12

« vorheriges - nächstes »

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

canis lupus niger

#15
Da man nicht jede Geschichte in der Ist-Zeit erzählen kann, ist es unvermeidlich, bedeutungslose/-arme Zeiträume zu überspringen oder zusammenzufassen. Die wenigsten Geschichten vertragen es, dass der Leser den handelnden Figuren Sekunde für Sekunde auf den Fersen bleibt. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber dann handelt es sich meist um Thriller, in denen auch tatsächlich In jeder Sekunde etwas Erzählenswertes passiert. Ich würde mal salopp eine Art Regel entwerfen wollen, dass je länger die erzählte Zeit ist, die Erzählzeit umso mehr von ihr abweichen muss. Die Kunst ist es vermutlich, das so zu tun, dass trotz des sprichwörtlichen Bruches in der erzählten Zeit (übersprungener Zeitraum) den Erzählfluss nicht darunter leidet.

Christian Svensson

#16
Moin.

Ich denke, dass eine Zeitraffung und Zeitsprünge eher selten ein Problem sind. Wenn sie handwerklich stimmig sind, dürfte das dem Leser kaum auffallen. Schwieriger sind Zeitdehnungen. Bei mir hat es dazu geführt, dass ich eine Szene komplett umschreiben musste, weil meiner guten Betaleserin aufgefallen war, dass da etwas nicht stimmte. Was meine ich damit? Eine Frau ist auf dem Weg zur Gangway eines Privatjets und denkt dabei über den Besitzer und wie sie ihn kennengelernt hat, nach. Diese zwingend notwendigen Informationen für den Leser füllen ca. eine Seite. Der Weg, den die Frau zu gehen hat, beträgt hundert Meter, das sind im normalen Schritt etwa 1,5 Minuten. Natürlich kann man in einem Sekundenbruchteil sehr viel denken, aber es hat in diesem Fall einfach nicht gepasst. Die "gefühlte" Zeit für das lesen des Textes war viel länger und damit ein Bruch.

Klecks

@Bardo: Ich hätte daran nichts auszusetzen gehabt und finde solche Dinge ganz normal für ein Buch.  :hmmm:  Um zu verhindern, dass es auffällt, würde ich - ziemlich automatisch - Dinge ergänzen wie wie "Sie riss sich aus ihren Gedanken" oder "Sie war so gedankenversunken gewesen, dass sie ..." oder "Als sie wieder aus ihren Gedanken auftauchte, hatte sie die Gangway längst erreicht" oder einfach ein schlichtes "Sie hatte nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war, während sie über die Vergangenheit nachgegrübelt hatte, und sie ging rasch die letzten Meter auf die Gangway zu" - und schon ist das "Problem" gelöst.

Christian Svensson

@Klecks: Ja, das wäre eine Lösung gewesen. Allerdings hätte es nicht gepasst. Zum einen hätte das die Dynamik der Szene unterbrochen und zum anderen bin ich kein Freund solcher Einschübe und Erklärungen. Das fällt für mich in den - hm, erweiterten? - Bereich von "show, don't tell". Ich versuche immer so zu schreiben, dass der Leser versteht, was passiert. Ich selbst lese ungern Bücher, in denen der Autor mir erklärt, was gerade passiert. Darum mag ich auch nicht so schreiben. Aber das lässt sich schlecht jetzt und hier erklären.  ;)

Klecks

Dem Leser etwas zu erklären, könnte aber auch dasselbe sein wie "so schreiben, dass der Leser es versteht".  ;D

Wenn der Autor gewisse Dinge nicht erklärt, versteht sie der Leser nicht. Einschübe und Erklärungen sind ein ganz legitimes Stilmittel, mit dem man der Geschichte mehr Dichte verleihen und etwas, dem entgegen gefiebert wird, herauszögern kann, wodurch der Spannungsbogen weiter wird. Show, don't tell finde ich sowieso absolut überbewertet. Ich will eine Geschichte erzählt bekommen, nicht nur gezeigt bekommen, was passiert. Wenn mir bei Autoren auffällt, dass sie krampfhaft versuchen, show, don't tell umzusetzen, sind das immer Autoren dieser Bücher, in die ich mich nicht reinfühlen kann, weil ich keine Geschichte erzählt bekomme, sondern nur heruntergeschrieben wird, was passiert, als würde ich einen Film schauen.

canis lupus niger

#20
Zitat von: Klecks am 10. August 2014, 15:22:09
Show, don't tell finde ich sowieso absolut überbewertet. Ich will eine Geschichte erzählt bekommen, nicht nur gezeigt bekommen, was passiert. Wenn mir bei Autoren auffällt, dass sie krampfhaft versuchen, show, don't tell umzusetzen, sind das immer Autoren dieser Bücher, in die ich mich nicht reinfühlen kann, weil ich keine Geschichte erzählt bekomme, sondern nur heruntergeschrieben wird, was passiert, als würde ich einen Film schauen.

Das ging mir auch spontan durch den Kopf. "Show, don´t tell" ist nicht immer die einzig wahre Lösung. Manchmal kann es günstiger sein, etwas mit ein oder zwei Sätzen zusammenzufassen, um in einer Szene den Schwung nicht zu verlieren. Ohnehin besteht die Gefahr, dass verschiedene Leser das Ge"show"te ganz verschieden wahrnehmen und interpretieren. Missverständnisse sind dann vorprogrammiert. Bilder sind einfach weniger eindeutig in ihrer Aussage und die vom Künstler beim Betrachter angestrebten Schlussfolgerungen weniger zwingend. Das ist meiner Meinung nach auch eines der Probleme in der Malerei. Die Botschaft kommt nicht oder nur verfälscht an. Da kann ein klarer, erzählender Satz wirklich vorteilhafter sein.

Allerdings muss ich zugeben, dass ich persönlich es mir manchmal zu einfach mache und zuviel "tell"e, wo ich vielleicht besser "show"en sollte.

Silvasurfer

#21
War ich mir doch sicher, dass es zu dem Thema einen Thread gibt. Bin mir aber nicht Sicher, was jetzt das Icon heisst...

Wer kennt das nicht bei Filmen. Ein schönes Lied wird gespielt und viele Szenen erzählen uns eine Geschichte oder einen Prozess im Zeitraffer. Ob es nun einfach das einander kennen lernen oder gar sich verlieben ist oder Rocky einfach mal beginnt eine lange Zeit lang so richtig hart zu trainieren oder im Extremfall so eine Geschichte wie bei dem Pixarfilm Up erzählt wird...

Momentan beschäftigt mich, die Frage, wie ich ein solches Zeitraffer nun beschreibe, sodass das Gefühl der Verbrachten Zeit vermittelt wird. Vor allem wenn in der Zeit nicht mehr geschieht, als dass der Charakter jeden Tag unermüdlich arbeitet. Aber ein Satz ist mir dann doch zu wenig. Bisher bin ich, so muss ich gestehen einfach immer zur nächsten Szene gesprungen und habe Entwicklungen der zwischen den Szenen vergangenen Zeit nur ganz kurz erwähnt beziehungsweise die Charaktere darüber reden lassen, daher bin ich was Zeitraffer angeht ein absoluter Anfänger.

Die Szene, die mich wirklich gerade ins Schwitzen bringt, ist eine bei der 4 Erfinder und Freunde nun vor einem gemeinsamen Projekt sitzen, um ein neues Gerät zu entwickeln. Sie sollen dabei so richtig in fahrt kommen, es ist das Gefühl, dass wir beim Schreiben kennen, wenn wir schon seit 2 wochen täglich eine Szene nach der anderen schreiben. Auch werden zwei zukünftige Liebhaber aufeinander Aufmerksam aber mehr auch nicht, Diese beiden lernen sich schliesslich erst kennen.

Wie schreibt ihr so einen Zeitraffer, bei dem eher eine Routine beschrieben wird als ein Prozess, wobei natürlich die Routine ein Entwicklungsprozess ist?
Gibt es bekannte ErzählKniffe rethorische Mittel, die sich besonders eignen oder ganz und gar nicht eignen?
Kennt ihr Beispiele von Autoren, die schöne Zeitraffer beschreiben können, und sei es nur eine Reise etc?
Gibt es Methoden sich an so einem Zeitraffer heranzutasten, vielleicht gute Fragen, die man sich stellen kann?
Wie viel und wie wenig sollte man überhaupt beschreiben.

Ich möchte vor allem gerne in diesem Fall die Beobachtung festhalten, dass richtig Fahrt aufkommt, dass Freundschaft entsteht und auch zwei potentielle Liebhaber ufeinander Aufmerksam werden oder ist das schon zu viel?

Dämmerungshexe

Ich hatte Mal so eine Trainings-Sequenz, bei der ich immer kurze Szenen hintereinander gebracht habe, ohne großen Einstieg oder Auflösung - nur dass etwas geschieht und einen Hinweis auf die Entwicklung von Szene zu Szene (in diesem Fall wurde der Charakter immer besser und selbstbewusster).
Ob das jetzt tatsächlich die von mir gewünschte Wirkung beim Leser erzielt weiß ich nicht so genau. Aber als Versuch hat es Spaß gemacht und ich selber bin mit dem Ergebnis eigentlich ganz zufrieden.
Vorteil in meinem Fall war wahrscheinlich, dass die Vollmondnächte in dieser Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben und ich so einen ziemlich klaren Zeitrahmen hatte.
,,So basically the rule for writing a fantasy novel is: if it would look totally sweet airbrushed on the side of a van, it'll make a good fantasy novel." Questionable Content - J. Jacques

FeeamPC

Du könntest der Gruppe oder einer einzelnen Person, da sie ja an einem Projekt arbeiten, ein Projekttagebuch verpassen, in dem in Stichworten die wichtigsten Dinge stehen, was gleichzeitig aber den Zeitrahmen vermittelt. Wenn es ein provates Projekttagebuch ist, dürfen auch private Beobachtungen mit einfließen.

Soly

@Silvasurfer
Gerade wenn es sich um die Entwicklung eines Gerätes handelt, lässt sich so ein Zeitraffer ganz nett anhand von (pseudo-)wissenschaftlichen Erklärungen festmachen.
Ich nehme einfach mal an, dass du dem Leser vorher erklärst, was für ein Gerät das ist und was es kann - die eine oder andere technische Beschreibung hat sich sicherlich mal gefunden. Anhand von kleineren Bauteilen oder wesentlichen Funktionen dieses Geräts und deren allmählichem Fortschreiten und Weiterentwicklung kannst du quasi induktiv beschreiben, wie das Gerät Gestalt annimmt.
Wenn diese vier Freunde wie du sagst in einen richtigen Workflow geraten, dann bieten sich - abhängig von deren tatsächlicher Charakterisierung - Sätze und/oder Bemerkungen an, dass sie unermüdlich und euphorisch in diesem Raum sitzen und arbeiten und völlig die Zeit vergessen, während in der Außenwelt Menschen ihre Alltagsabläufe durchleben oder Sonne und Mond immer wieder über den Himmel rasen...

Bei den Liebhabern ist das schon schwieriger - da sollte man ja weniger auf die äußeren Entwicklungen als eher auf die inneren Gefühle eingehen.
Mir kommt aber spontan die Idee, für das Pärchen zwei bis vier Szenen in Zeitdeckung zu schreiben, zwischen denen jeweils ein kleiner, aber spürbarer Sprung bezüglich deren körperlicher Nähe und - sehr wichtig! - bezüglich deren gegenseitigen Vertrauens besteht. Gerade diese Zunahme an gegenseitigem Vertrauen und Verstehen ist ja ziemlich essentiell für gerade entstehende Liebe (Vertrau jemandem, der genau diese Entwicklung erst vor ein paar Monaten am eigenen Leib erfahren hat ;)) und sollte keinesfalls in Zeitraffer abgehandelt werden, da man sich sonst als Leser nur extrem schwer einfühlen kann.
Diese einzelnen Szenen kannst du zwischen die Zeitraffer-Erzählungen verschiedener technischer Details und Funkionsweisen schachteln, so dass sich das flotte Gefühl einer langen, schnell erzählten Entwicklung von dem Gerät auf das Pärchen überträgt, du deren Gefühle und Innenleben aber trotzdem angemessen rüberbringen kannst. Voraussetzung dafür wären natürlich mindestens drei verschiedene Aspekte des Gerätes, an dem du dessen insgesamt voranschreitende Entwicklung festmachen kannst, um zwischen die Zeitdeckungs-Szenen des Pärchens jeweils eine Zeitraffer-Erzählung schieben zu können, ohne dass sich inhaltlich allzu viel doppelt. (Formulatorisch gesehen ist das natürlich ideal für immer wiederkehrende Leitmotive wie das der über den Himmel rasenden Sonne.)
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.

Fianna

Dieses Kapitel kann sich doch ruhig durch einen Stilbruch auszeichnen. Z.b. eine Reihe von Tweets. Schön wäre, wenn diese in kurzem Abstand vollkommen gegensätzliche Meinungen präsentieren (zur Machbarkeit des Projektes, Sympathie der zukünftigen Liebenden o.Ä..)

Silvasurfer

#26
@Dämmerungshexe:
Zitat(...) als Versuch hat es Spaß gemacht und ich selber bin mit dem Ergebnis eigentlich ganz zufrieden.
Vorteil in meinem Fall war wahrscheinlich, dass die Vollmondnächte in dieser Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben und ich so einen ziemlich klaren Zeitrahmen hatte.

Wow das klint ja total spannend. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit ins Spiel zu bringen fände ich auch superspannend, gerade wenn es training ist, so nach dem Motto: Der Frühe Vogel fängt den Wurm!

@Fianna:
ZitatDieses Kapitel kann sich doch ruhig durch einen Stilbruch auszeichnen. Z.b. eine Reihe von Tweets. Schön wäre, wenn diese in kurzem Abstand vollkommen gegensätzliche Meinungen präsentieren (zur Machbarkeit des Projektes, Sympathie der zukünftigen Liebenden o.Ä..)

Das ist ja mal eine oberaffengeile Idee. Eine CHatgruppe und jeder arbeitet online. Echt super, der feedback hier.

@Solmorn:
ZitatMir kommt aber spontan die Idee, für das Pärchen zwei bis vier Szenen in Zeitdeckung zu schreiben, zwischen denen jeweils ein kleiner, aber spürbarer Sprung bezüglich deren körperlicher Nähe und - sehr wichtig!

Was genau meinst du mit Szenen in Zeitdeckung? Also einfach 2-4 Szenen sehr kurz beschrieben, während der auktoriale Eräzhler die Zeit zusammenfasst. Zwischen den Tweets vllt... Pseudowissenschaftliches habe ich natürlich schon herausgearbeitet. Wobei Pseudewissenschaftlich echt passend ist, es ist nämlich phnatastisches Sci-Fiction also eher futuristisches Fantasy.

@FeeamPC: Mein Protagonist ist ein Tagebuchschreiber, so als kreativer Mensch, weshalb ich aber diese kleine Geschichte nicht unbedingt auch durch Tagebucheinträge erzählen will, ansonsten hast du aber recht.

Alles in allem: Danke für die schnellen und sehr hilfreichen Antworten, ihr lieben. Ihr habt mir auf jeden Fall einen Ansporn gegeben mich gleich über diese Szene zu stürzen, vor allem auch Assotiationen im Kopf. Ich finde sobald eine Assotiation da ist, ist die Szene schon so gut wie geschrieben, wenn man sich dann erstmal hinsetzt! Und dabei habt ihr mir echt geholfen, gestern habe ich mich noch lediglich trocken mit der Szene beschäftigt und hatte lediglich ein Kurzes Gespräch mit den beteiligten Charakteren... In der Phantasie versteht sich. Stimmen im Kopf das wäre ja wirklich verrückt

:vibes:

Soly

Zeitdeckung bedeutet, dass man als Leser genau die gleiche Zeit zum Lesen braucht, wie die Figuren zum Durchleben der Szene brauchen - das ist genau das, was du insgesamt nicht willst, ich weiß. Aber dadurch vermeidest du die Falle, dass deine Leser den inneren Kontakt und die Identifikation mit den beiden Figuren verlieren.

Beispiel:
erste Szene - er und sie (ich nehme der Einfachheit halber mal an, dass es ein Hetero-Pärchen wird) unterhalten sich über eher oberflächliche Themen, spüren Gemeinsamkeiten in Einstellungen/Werten/Charakterzügen
Zeitrafferbeschreibung zum äußeren Hardware-Aufbau des Gerätes, der allmählich Gestalt annimmt
zweite Szene - WhatsApp-Gespräch oder ähnliches über gesellschaftliche Themen mit noch deutlicheren Gemeinsamkeiten in Charakter und Denkweisen (evtl mit Hinweis, dass diese Konversationen schon seit Tagen gehen)
Zeitrafferbeschreibung zur Energiequelle des Gerätes
dritte Szene - face-to-face-Unterhaltung über persönliche Dinge/Probleme, die vielleicht bisher unausgesprochen herumgetragen wurden; gegenseitiges Vertrauen und Verstehen, erster intensiverer Körperkontakt (Händchenhalten/Armumlegen/Aneinanderlehnen)
Zeitrafferbeschreibung des zentralen Elements des Gerätes
vierte Szene - weitere Unterhaltung; sie gestehen sich gegenseitig ein, einander mehr zu vertrauen als sonstwem und den Körperkontakt deutlich unkomplizierter aufzunehmen als mit anderen, bemerken ihre gegenseitige Liebe
Zeitrafferbeschreibung der Software-Programmierung, finaler Test; Übergang zum zeitdeckenden Erzählen, während das Pärchen sich als solches zu erkennen gibt

So würde ich das machen
Veränderungen stehen vor der Tür. Lassen Sie sie zu.